Spruch:
Eine geistige Störung im Sinne des § 50 EheG. ist nicht nur eine Geisteskrankheit minderen Grades, sondern es sind darunter auch nervöse Störungen, wie Psychoneurosen, Zwangsneurosen u. dgl., auch einzelne abnormale Handlungsweisen, aus denen sich das ehewidrige Verhalten ergibt, zu verstehen.
Entscheidung vom 3. November 1950, 3 Ob 497/50.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Das Prozeßgericht sprach die Scheidung der zwischen den Streitteilen am 29. September 1938 geschlossenen Ehe aus dem gleichteiligen Verschulden beider Streitteile aus, wobei es feststellte, daß der Beklagte und Widerkläger (im folgenden kurz Beklagter genannt) die Familie dadurch vernachlässigte, daß er einen Großteil seiner Freizeit dazu benützte, um außer Haus Schach zu spielen, daß er der Klägerin und Widerbeklagten (im folgenden kurz Klägerin genannt) einen Schlag auf den Kopf versetzte, nachdem ihn diese zuvor mit Wasser angeschüttet hatte, daß er von der Klägerin einen widernatürlichen Geschlechtsverkehr verlangte und den Geschlechtsverkehr ganz einstellte, als die Klägerin den widernatürlichen Verkehr verweigerte, während die Klägerin den Beklagten mit Wasser anschüttete, ihn mit den Fäusten auf den Kopf schlug und mit Füßen trat, mit dem Wort "Schwein" beschimpfte, mit einem Messer bedrohte, ihn grundlos aus der Wohnung wies, unwahre Gerüchte über Frauenbekanntschaften des Beklagten verbreitete und gegen ihn eine Privatanklage wegen Ehebruches einbrachte, wobei sich herausstellte, daß der von der Klägerin geführte Belastungszeuge Fritz F. wahrheitswidrig ausgesagt hatte. Das Prozeßgericht stellte schließlich fest, daß die Klägerin auf Grund einer psychischen Labilität auf äußere Eindrücke in ungewöhnlich heftiger Weise reagiere, sich aber dieser Reaktionsweise bewußt sei und sich dennoch keinerlei Hemmungen auferlege, weshalb ihre Verantwortlichkeit für ihre Eheverfehlungen nicht ausgeschlossen werden könne.
Das Berufungsgericht wies die Widerklage ab und sprach die Scheidung aus dem alleinigen Verschulden des Beklagten aus. Es stellte auf Grund des übereinstimmenden Ergänzungsgutachtens der beiden in erster Instanz und des Gutachtens des von ihm vernommenen dritten Sachverständigen fest, daß bei der Klägerin eine abnormale Einstellung gegen ihren Gatten mit affektiver Labilität und Neigung zu reaktiven Affektstörungen vorhanden sei und daß in der Zeit von 1945 bis 1948 bei der Klägerin der Dauerzustand einer abnormalen Gemütsverfassung mit Neigung zu stärkergradigen Schwankungen bestanden habe, ihr Verhalten daher auf einer geistigen Störung beruhe, daß die Hemmungen zum Teil vermindert, zum Teil aufgehoben waren und die Nichtverantwortlichkeit die Verantwortlichkeit übersteige, schließlich daß die Sachverständigen eine Simulation der Klägerin ausschließen. Es seien daher die Voraussetzungen des § 50 EheG. gegeben, den der Beklagte jedoch nicht als Scheidungsgrund geltend gemacht habe. Da von einem schuldhaften Verhalten der Klägerin nach dem Sachverständigengutachten nicht gesprochen werden könne, seien die Voraussetzungen des § 49 EheG. für die Widerklage nicht gegeben.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Wenn die Revision behauptet, es gebe in der medizinischen Fachwissenschaft keine Geistesstörung, ist ihr entgegenzuhalten, daß gerade § 50 EheG. im Gegensatz zu § 51, welch letztere Gesetzesstelle eine Geisteskrankheit voraussetzt, von einer geistigen Störung spricht. Diese geistige Störung erblicken die Sachverständigen in einer abnormalen Gemütsverfassung der Klägerin, in einer abnormalen Einstellung gegen ihren Mann mit affektiver Labilität und Neigung zu reaktiven Affektstörungen, die auf einer psychopathischen Veranlagung beruhen. Der Vorwurf der Revision, die Sachverständigen hätten die geistige Störung der Klägerin nicht näher bezeichnet, ist daher unbegrundet.
Unter einer geistigen Störung im Sinne des § 50 EheG. ist nicht nur eine Geisteskrankheit, sei sie auch minderen Grades, zu verstehen; nicht nur geistige Erkrankungen im Sinne einer niederen Stufe, sondern auch nervöse Störungen, wie Psychoneurose, Zwangsneurose u. dgl., einzelne abnorme Handlungsweisen, aus denen sich dann im ganzen das ehewidrige Verhalten des Ehegatten ergibt, fallen unter den Begriff der geistigen Störung im Sinne des § 50 EheG. Zu diesen gehören auch geistige Anomalien, Geistesgestörtheiten minderen Grades, wie Melancholie, Hysterie, leichte psychopathische Zustände, Zwangshandlungen u. dgl., die alle das gemeinsam haben, daß sie zwar die moralische Kraft des Betroffenen in einer seine freie Willensbildung erheblich beeinträchtigenden Weise herabsetzen, aber sein sonstiges Geistes- und Seelenleben nicht so beeinflussen, daß die geistige Gemeinschaft zwischen ihm und dem anderen Ehegatten aufgehoben wird. Wäre letztere bereits aufgehoben, so lägen die Voraussetzungen für den Scheidungsgrund nach § 51 EheG. vor. Für die Annahme einer geistigen Störung genügt ein vom Normalen abweichendes Verhalten, Eigenheiten, Seltsamkeiten, die der Ausfluß der Geistesstörung sind und die durch ihr Vorliegen es einem gesunden Menschen seelisch zur Qual, wenn nicht zur Unmöglichkeit machen, mit dem Geistesgestörten zusammenzuleben. Die Verantwortlichkeit des Ehegatten, der an einer geistigen Störung leidet, muß nicht ganz ausgeschlossen sein, es genügt, wenn die Verantwortlichkeit nur gemindert ist; auch dann, wenn die psychologische Verantwortlichkeit eines Ehegatten nicht schlechthin ausgeschlossen werden kann, sind die Voraussetzungen des § 50 EheG. gegeben, sofern das Verhalten des Ehegatten von dem eines normalen Menschen abweicht und dies auf einem krankhaften Zustand, einer geistigen Störung beruht (Volkmar - Antoni, Kommentar zum Ehegesetz, zu § 50, Scanzoni, Kommentar, zu § 50, Auert, Kommentar, zu § 50, und die in den bezogenen Kommentaren zitierte Rechtsprechung). Die von den Sachverständigen festgestellten Anomalien, durch die die Hemmungen für die ehewidrigen Verfehlungen zum Teil vermindert, zum Teil aufgehoben wurden, sind daher vom Berufungsgerichte ohne Rechtsirrtum als geistige Störung im Sinne des § 50 EheG. beurteilt worden, die ein schuldhaftes Verhalten, das § 49 EheG. zur Voraussetzung hat, ausschließt.
Da, wie bereits erörtert, die geistige Störung nicht von der Art sein muß, daß sie die Verantwortlichkeit des Ehegatten ganz ausschließt, sondern es genügt, wenn die Verantwortlichkeit gemindert ist, hat das Berufungsgericht mit Recht angenommen, daß die Voraussetzungen des § 49 EheG., nämlich eine schuldhafte Zerrüttung der Ehe, bei der Klägerin nicht gegeben sind.
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