Normen
Reichsversicherungsordnung §899
Reichsversicherungsordnung §899
Spruch:
Zum Begriff des Betriebs- und Arbeiteraufsehers im Sinne des § 899 Abs. 1 RVO.
Entscheidung vom 2. September 1953, 3 Ob 398/53.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Die klagende Partei nimmt die Deckungspflicht der D. Versicherungs A. G. als Haftpflichtversicherer der F.-Werke der Stadtgemeinde G. in Anspruch und begrundete ihren Anspruch damit, daß am 24. Februar 1950 der Monteurlehrling Franz U. im Betrieb der im Eigentum der Stadtgemeinde G. stehenden F.-Werke gelegentlich einer unter Leitung des Beklagten durchgeführten Arbeit in den Starkstromkreis geraten sei und getötet wurde. Sie verlangt gemäß § 903 RVO. den Kapitalswert der Rente, die sie nach den gesetzlichen Bestimmungen über die Unfallversicherung der Mutter des Verunglückten bezahlen muß, das sind 13.122.69 S s. A.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes.
Beide Untergerichte gingen von folgenden Feststellungen aus: Der Beklagte wurde vom Strafgericht rechtskräftig wegen Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens nach § 335 StG. verurteilt, weil er aus Unachtsamkeit nicht die Lichtleitung für die Hartberger Straße in G., wo Franz U. die Installationsarbeiten durchzuführen hatte, sondern einen anderen Teil des Stromnetzes ausschaltete, somit Handlungen und Unterlassungen beging, von denen er schon nach seinem Beruf einzusehen vermochte, daß sie eine Gefahr für das Leben von Menschen herbeizuführen geeignet sind. Der Beklagte ist seit etwa 26 Jahren bei den F.-Werken beschäftigt. Er ist kein geprüfter Monteur, verrichtete jedoch die Arbeiten eines Freileitungsmonteurs. Bei dringenden Reparaturarbeiten wurde er als Partieführer eingeteilt, je nach der Arbeit unterstanden ihm bis zu sechs Arbeiter. Wenn auch im Betrieb der F.-Werke die gelernten Monteure eine Oberaufsicht haben, so wurden doch vom Beklagten, dem als erfahrenen Freileitungsmonteur wiederholt dringende Reparaturarbeiten übertragen wurden, gegenüber den ihm jeweils unterstellten Arbeitern nähere Anweisungen für die jeweilige Arbeit erteilt und die Durchführung derselben überwacht. Er hatte also neben seiner Mitarbeit die bei seiner Arbeitspartie eingeteilten Arbeiter auch zu beaufsichtigen und zwar nicht nur in der Richtung, daß sie überhaupt arbeiten. Wohl unterstand das Arbeitsgebiet, mit dem der Beklagte beschäftigt war, dem Obermonteur Josef S. Dieser hatte aber im gegenständlichen Fall die seinem Aufgaben- und Verantwortungsbereich zugehörenden Arbeiten dem Beklagten übertragen. Es gehörte daher zum Pflichtenkreis des Beklagten, die Arbeiten der bei ihm eingeteilten Arbeiter, nämlich des Hilfsarbeiters Gottfried B. und des Monteurlehrlings Franz U. so zu beaufsichtigen, daß keiner zu Schaden kommt.
Beklagter habe daher, so folgerten die Untergerichte, als Arbeiteraufseher im Sinne des § 899 Abs. 1 RVO. zu gelten.
Der Oberste Gerichtshof gab den Revisionen des Beklagten und der Nebenintervenientin auf Seite des Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Beide Revisionen bekämpfen die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daßBeklagter als Arbeiteraufseher im Sinne des § 899 Abs. 1 RVO. anzusehen sei, weil er jeweils den Weisungen eines anderen Betriebsaufsehers, nämlich des Obermonteurs Josef S. unterstanden sei. Den Ausführungen der Revisionsschriften vermag das Revisionsgericht nicht zu folgen. Die Berufung auf die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes 2 Ob 197/50 und 1 Ob 383/52 geht fehl. In beiden Entscheidungen kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß die Leitung einzelner Arbeitsvorgänge den betreffenden Arbeitern noch nicht die Stellung eines Betriebs- und Arbeiteraufseher zu verleihen vermag. Darum wurde in der ersteren Entscheidung die Unterstellung eines Kraftwagenlenkers unter den Personenkreis des § 899 Abs. 1 RVO. abgelehnt und in letzterer Entscheidung einem Traktorführer die Eigenschaft eines Betriebs- oder Arbeiteraufseher versagt.
Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung, an der das Revisionsgericht festhält, ist für die Qualifikation des Betriebs- und Arbeiteraufseher eine mit einem gewissen Pflichtkreis und Selbständigkeit verbundene Stellung erforderlich, wobei die Zeit des Unfalls maßgebend ist. Nicht entscheidend ist, ob die Aufsicht ganz unbeschränkt oder mit Unterordnung unter einen Vorgesetzten ausgeübt wird. Rechtlich verfehlt ist die Annahme der Revisionen, daß für die Qualifikation des Betriebs- und Arbeiteraufsehers im Sinne des § 899 Abs. 1 RVO. eine Dauerfunktion im Betrieb erforderlich sei.
Im vorliegenden Fall hat der Beklagte die gegenständlichen Arbeiten im Auftrag seines Vorgesetzten, des Obermonteurs Josef S., durchgeführt. Die Weisung, die ihm Josef S. erteilte, war ganz allgemeiner Natur; seine Anordnung ging dahin, eine Blitzschutzerdleitung herzustellen. Zu diesem Behufe wurde eine Arbeitspartie zusammengestellt, die unter Mitarbeit und unter verantwortlicher Aufsicht des Beklagten die Arbeiten durchzuführen hatte. Bei der Verrichtung der Arbeiten selbst unterlag der Beklagte keinerlei Weisungen mehr seitens seines Auftraggebers Josef S. und stand auch nicht unter dessen Aufsicht. Er hatte die Arbeiten selbständig und unter eigener Verantwortung durchzuführen, wobei ihm insbesondere auch die Abschaltung des Stromnetzes oblag. Der Beklagte war somit für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte verantwortlich. Er war Träger der Verantwortung für die sachgemäße Durchführung der ihm aufgetragenen Arbeiten, wozu sowohl der Ausschaltvorgang als auch der technisch und zeitlich richtige Einsatz der ihm mitgegebenen und unterstellten Arbeitskräfte gehörte. Diese konnten im Zeitpunkt des Unfalls nur vom Beklagten, nicht aber vom Obermonteur Josef S. beaufsichtigt und gelenktwerden.
Damit sind aber alle Merkmale eines Arbeiteraufsehers im Sinne des § 899 Abs. 1 RVO. beim Beklagten gegeben. Den Untergerichten ist kein Rechtsirrtum unterlaufen, wenn sie den Beklagten als Arbeitsaufseher qualifiziert haben. Die Rechtsrüge beider Revisionen erweist sich daher als unbegrundet.
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