OGH 2Ob9/98g

OGH2Ob9/98g25.6.1998

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter, Dr. Schinko, Dr. Tittel und Dr. Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. Katharina H*****, 2. Julia H*****, und 3. Anna H*****, alle derzeit wohnhaft bei ihrer Mutter Marianne H*****, infolge Revisionsrekurses des Jugendwohlfahrtsträgers Bezirkshauptmannschaft Melk, *****, gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten vom 29. Oktober 1997, GZ 10 R 327/97h-47, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Mank vom 1. Oktober 1997, GZ P 32/96g-40 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung

Die drei minderjährigen Geschwister entstammen der am 27.9.1996 einvernehmlich geschiedenen Ehe der Marianne und des Reinhard H*****. Die Obsorge für sie steht aufgrund der Scheidungsvereinbarung vom selben Tag dem Vater zu, bei dem sie bis zum 20.6.1997 auch gelebt haben. Das Besuchsrecht der Mutter wurde bis dahin von den Eltern einvernehmlich geregelt.

Die nicht ganz dreijährige Anna liebte es, jeden Abend vor dem Einschlafen gekitzelt zu werden. Der Vater und ihre beiden Schwestern erfüllten ihr diesen Wunsch ebenso wie die Mutter anläßlich der 14-tägigen Besuchswochenenden von Freitag bis Sonntag. Am Abend des

13. oder 14.6.1997 erzählte Anna bei dieser Gelegenheit ihrer Mutter, daß sie der Vater "beim Popsch und beim Lulu auch kitzeln" würde. Die Mutter teilte diese Wahrnehmung dem zuständigen Jugendwohlfahrtsträger mit. Auf Anraten dieser Behörde erstattete sie darüber hinaus noch am selben Tag Strafanzeige gegen den Vater wegen des Verdachtes der Unzucht mit Unmündigen. Am 20.6.1997 wurden sowohl der Vater als auch die drei Kinder von der Gendarmerie zur Einvernahme geladen. Der Vater bestritt dort jegliche Unzuchtshandlungen; die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Einvernahme der drei Mädchen durch eine Kriminalbeamtin wurde vom Rechtsvertreter des Vaters unterbunden. Daraufhin wurde der Vater in Haft genommen und über ihn die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr verhängt.

In Wahrnehmung ihrer Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB übergab der Jugendwohlfahrtsträger die Kinder noch am selben Tag in vorläufige Pflege und Erziehung der Mutter. Er stellte am 23.6.1997 den Antrag, diese Maßnahme zu genehmigen, und kündigte gleichzeitig einen Antrag der Mutter auf Zuteilung der Obsorge an.

Das Erstgericht genehmigte "die vorläufige Übergabe der Kinder in die Pflege und Erziehung ihrer Mutter." Es war der Meinung, daß die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene Maßnahme im Zeitpunkt ihrer Erlassung wegen des gegen den Vater bestehenden Verdachtes und infolge Gefahr im Verzug gerechtfertigt gewesen und deshalb zu genehmigen sei. Als einstweilige Maßnahme bestehe sie solange, bis über den Antrag der Mutter, ihr die Obsorge "zur Gänze" zu übertragen, entschieden werde.

Das Rekursgericht gab den dagegen vom Vater erhobenen Rekurs Folge und wies den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Genehmigung der am 20.6.1997 getroffenen Maßnahme der Unterbringung der Kinder bei ihrer Mutter zurück. Es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Das Rekursgericht erörterte rechtlich, daß der Jugendwohlfahrtsträger nach § 215 Abs 1 ABGB die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen habe. Bei Gefahr im Verzug könne er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung als Sachwalter vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen beantrage. Die gängige Praxis der Jugendämter im Sprengel des Rekursgerichtes, für Maßnahmen, die sie nach dem zweiten Satz dieser Bestimmung getroffen haben, die pflegschaftgerichtliche Genehmigung zu beantragen, sei jedoch verfehlt. Die genannte Bestimmung verpflichte den Jugendwohlfahrtsträger nicht mehr, seine eigene Maßnahme genehmigen zu lassen, sondern die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen zu beantragen. Welche Verfügungen das Gericht treffen könne, ergebe sich aus den Bestimmungen der §§ 176 ff ABGB. Dies folge auch aus Art VI § 9 des Kindschaftsrechtsänderungsgesetzes 1989, wonach die gerichtliche Anordnung einer Erziehungsmaßnahme nach dem bisherigen Jugendwohlfahrtsrecht als Verfügung nach § 176, allenfalls § 176a ABGB zu gelten habe. In den §§ 176f ABGB werde aber nurmehr noch die ganze oder teilweise Entziehung der Obsorge als gerichtliche Maßnahme vorgesehen, weshalb für die Anordnung - oder Genehmigung - einzelner, konkret bezeichneter Maßnahmen der Pflege und Erziehung durch das Gericht kein Platz bleibe.

Das Rekursgericht verwies auf die Entscheidung 1 Ob 550/91 (= RZ 1992/7), in der ebenfalls ausgesprochen worden sei, daß dann, wenn der Jugendwohlfahrtsträger wegen Gefahr im Verzug bereits eine Maßnahme nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB getroffen habe, kein Platz mehr für eine deckungsgleiche vorläufige Maßnahme des Gerichtes sei. Das Gericht habe in einem solchen Fall vielmehr seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerung durchzuführen und nach ausreichender Klärung aller maßgebenden Umstände eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene Maßnahme zu treffen. Da es sich bei der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB nur um eine vorläufige Maßnahme wegen Gefahr im Verzug handeln könne, würde auch deren Genehmigung durch das Gericht nur eine vorläufige Maßnahme darstellen, für die nach der oben zitierten Entscheidung kein Platz sei. Folge man dieser Entscheidung, wonach das Gericht nach Klärung aller maßgebenden Umstände eine endgültige Entscheidung treffen solle, so könne es sich dabei nicht um die bloße Genehmigung oder Nichtgenehmigung der getroffenen Einzelmaßnahmen handeln, weil eine gründlichere Prüfung des Sachverhaltes häufig die Notwendigkeit gelinderer, weitreichenderer oder anderer Maßnahmen ergebe. Das Gericht müßte die von ihm als notwendig erkannten Maßnahmen dann gesondert von Amts wegen anordnen, was aber den Ausspruch über die Genehmigung oder Nichtgenehmigung der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen zu einem bloßen inhaltsleeren Formalakt degradiere. Denkbar wäre es, bei einer gerichtlichen Maßnahmengenehmigung nicht auf den Zeitpunkt der Beschlußfassung, sondern ex ante auf die Sachlage, wie sie sich dem Jugenwohlfahrtsträger im Zeitpunkt des Setzens der Maßnahme dargestellt habe, abzustellen. Diese Auslegung scheine in jenen Fällen verfassungsrechtlich geboten, in denen durch die Maßnahme die persönliche Freiheit des betroffenen Minderjährigen entzogen werde. In einem solchen Fall sei das Gericht nach Art 2 Abs 1 Z 6 des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit verpflichtet, innerhalb einer Woche über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu entscheiden. Im vorliegenden Fall sei aber keine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit getroffen, sondern lediglich die Kinder ihrer nicht obsorgeberechtigten Mutter übergeben worden. Diese Maßnahme habe keiner gerichtlichen Genehmigung bedurft, weshalb der Antrag zurückzuweisen sei. Da darüber hinaus ein Antrag der Mutter auf Obsorgeübertragung an sie vorliege, komme vor Entscheidung über diesen Antrag eine Rückgabe der Kinder in die Obhut des Vaters nicht in Betracht.

Dagegen richtet sich der ordentliche Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ihm "gemäß § 215 Abs 1 2.Satz iVm § 176a ABGB" das vorläufige Recht auf Pflege und Erziehung ab dem 20.6.1997 einzuräumen. Im Revisionsrekurs wird geltend gemacht, daß bei rechtskräftiger Zurückweisung des Antrages, die Kinder gegen des Willen des Vaters aus der bisherigen Umgebung zu entfernen, diese Maßnahme als ungesetzlich im Raum stehen bleibe. Das Rekursgericht hätte dem Jugendwohlfahrtträger vorläufig das Recht auf Pflege und Erziehung bis zur endgültigen Obsorgeentscheidung übertragen müssen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist berechtigt.

Das Rekursgericht hat zutreffend dargelegt, daß der Jugendwohlfahrtsträger, gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB idF des KindRÄG bei Gefahr im Verzuge berechtigt (und verpflichtet [Schwimann in Schwimann § 215 Rz 2 mwN] ist, die erforderliche Maßnahmen der Pflege und Erziehung als Sachwalter vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen, die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen beantragt. Zu dieser Gesetzbestimmung hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgeführt, daß die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzte erforderliche Maßnahme durch gerichtliche Verfügung zwar abgeändert werden kann, andererseits aber ohne weiteres bis zur Endentscheidung des Gerichtes über die Zuteilung der Obsorge als vorläufige Maßnahme aufrecht bleibt. In diesem Fall ist eine gerichtliche Provisorialmaßnahme auch nur in Form eines Beschlusses über die Genehmigung der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen vorläufigen Maßnahme überflüssig (RZ 1992/7 = EFSlg 66.054; EFSlg 68.822).

Das Rekursgericht hat daher zutreffend darauf hingewiesen, daß das Pflegschaftsgericht nicht ausdrücklich eine vom Jugendwohlfahrtsträger angeordnete vorläufige Maßnahme zu genehmigen, sondern selbständig eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen zu treffen oder andere Maßnahmen anzuordnen hat.

Wenngleich im Schriftsatz des Jugendwohlfahrtsträgers der Antrag gestellt wird, "die getroffene Maßnahme pflegschaftsgerichtlich zu genehmigen", ist ihm doch mit der für das Außerstreitverfahren ausreichenden Deutlichkeit zu entnehmen, daß tatsächlich ein Antrag nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB vorliegt, zumal er ausdrücklich als solcher bezeichnet wurde. Diesen Antrag hätte aber das Rekursgericht nicht "zurückweisen" dürfen. Im Sinne der Entscheidungen RZ 1992/7 und EFSlg 68.822 hätte vielmehr das Erstgericht auf Grund dieses Antrages die nach der Sachlage erforderlichen Verfügungen treffen müssen, die nach dem Gesagten nicht bloß in der Genehmigung der vom Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB getroffenen Maßnahme bestehen dürfen. In Betracht kommt hier vor allem die endgültige Entscheidung über die Obsorge. Da für diese Verfügungen ersichtlich eine Ergänzung des Verfahrens erforderlich ist, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.

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