OGH 2Ob84/95

OGH2Ob84/959.11.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Eustach D*****, vertreten durch Dr.Roger Haarmann, Dr.Bärbl Haarmann, Rechtsanwälte in Liezen, wider die beklagten Parteien 1. Matthias F*****, 2. H*****, AG *****, vertreten durch Dr.Janko Tischler jun., Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen S 72.979,80 sA, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Berufungsgericht vom 5.Juli 1995, GZ 3 R 249/95-18, womit das Urteil des Bezirksgerichtes Wolfsberg vom 2. März 1995, GZ 3 C 1802/94a-13, abgeändert wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 4.3.1994 ereignete sich im Bereich der Kreuzung der St.Thomaser Landesstraße und der Gemeindestraße in Richtung Eselsdorf ein Verkehrsunfall, bei dem Franz D***** als Lenker des vom Kläger gehaltenen PKWs und der Erstbeklagte als Lenker und Halter seines PKWs beteiligt waren. Die Kosten der Reparatur des Fahrzeuges des Klägers haben S 68.563,80, jene des Fahrzeuges des Erstbeklagten S

23.390 betragen.

Der Kläger begehrte von den beklagten Parteien den Ersatz seiner Reparaturkosten sowie einen Betrag von S 4.416 für das Abholen des Fahrzeuges nach der Reparatur mit Begleitfahrzeug und für eine Kreditgebühr, insgesamt S 72.979,80 sA. Er brachte vor, daß Franz D***** mit seinem PKW auf der Verbindungsstraße aus Richtung Eselsdorf kommend nach links in die bevorrangte St.Thomaser Straße einbiegen habe wollen. Er habe den PKW vor der Kreuzung angehalten. Der Erstbeklagte sei auf der St.Thomaser Straße in Richtung Süden mit überhöhter Fahrgeschwindigkeit gefahren. Durch eine unsachgemäße Vollbremsung sei er bedingt durch die zu durchfahrende Linkskurve tangential über den rechten Fahrbahnrand hinausgerutscht und gegen das stehende Klagsfahrzeug gestoßen. Der Erstbeklagte habe - offenbar wegen der weit überhöhten Fahrgeschwindigkeit - die Situation vollkommen falsch eingeschätzt; er habe angenommen, daß der Lenker des Klagsfahrzeuges unter Mißachtung des Vorranges in die St.Thomaser Straße einfahren werde. Es treffe den Erstbeklagten daher das Alleinverschulden.

Die beklagten Parteien wendeten dagegen ein, daß der Verkehrsunfall ausschließlich auf das Verschulden des Lenkers des klägerischen PKWs zurückzuführen sei, da dieser den Vorrang des Erstbeklagten verletzt habe. Der Erstbeklagte sei mit seinem PKW auf der St.Thomaser Straße in Richtung St.Marein gefahren, wobei er eine nahe dem rechten Fahrbahnrand gelegene Linie eingehalten und sich der späteren Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 bis 50 km/h genähert habe. Plötzlich habe er wahrgenommen, daß sich das Klagsfahrzeug ohne sichtbare Verminderung seiner Geschwindigkeit auf der benachrangten Verbindungsstraße nach Eselsdorf dem Kreuzungsbereich genähert habe. Da der Lenker des Klagsfahrzeugs darüber hinaus seinen Blick während der Annäherung an die Verschneidungslinie der beiden Straßen zum Beifahrer gerichtet gehabt habe, habe er angenommen, daß das Fahrzeug unter Mißachtung seines Vorranges in die St.Thomaser Straße einfahren werde. Obwohl er auf dieses straßenverkehrsordnungswidrige Verhalten sofort durch Einleitung einer Vollbremsung reagiert habe, habe er die Kollision nicht mehr verhindern können, da das Klagsfahrzeug nicht mehr rechtzeitig vor der Verschneidungslinie zum Stillstand gebracht worden sei, sondern vielmehr unmittelbar vor ihm in die Vorrangstraße eingefahren sei. Die Reparaturkosten an seinem Fahrzeug würden kompensando eingewendet.

Das Erstgericht stellte die Klagsforderung mit S 23.521,27, die Gegenforderung mit S 15.593,33 als zu Recht bestehend fest und verurteilte die Beklagten zur Bezahlung eines Betrages von S 7.927,94 sA; das Mehrbegehren von S 65.051,86 sA wies es ab.

Es traf zum Unfall folgende Feststellungen:

Im Unfallsbereich verläuft die St.Thomaser Landesstraße tendenziell in Ost-West-Richtung. Zwischen den Randlinien weist sie eine Fahrbahnbreite von 5 m auf und wird sie durch eine Leitlinie in zwei gleich breite Fahrstreifen geteilt. Auf der St.Thomaser Landesstraße besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h. Die Gemeindestraße aus Eselsdorf mündet in Form einer rechtwinkeligen T-Kreuzung aus Richtung Norden kommend in die Landesstraße ein. Sie ist gegenüber der St.Thomaser Landesstraße durch das Verkehrszeichen "Vorrang geben" benachrangt. Nördlich der Kreuzung befindet sich eine geknickte Ordnungslinie, wobei im Bereich der Fahrbahnmitte eine Sperrlinie verläuft. Diese Sperrlinie wird in gedachter Verlängerung als Normale zur Fahrbahnlängsachse der Landesstraße als Bezugslinie festgelegt. Die Verschneidungslinie ist der nördliche Fahrbahnrand der St.Thomaser Landesstraße (Begrenzungslinienkante). Der Einmündungstrichter der Gemeindestraße erstreckt sich bis 9,8 m westlich der Bezugslinie und geht im östlichen Bereich in eine Bushaltestelle über, welche 30 m östlich der Bezugslinie endet. In Annäherung an die Kreuzung weist die Gemeindestraße eine Breite von 4,3 m auf und ist etwa 20 m nördlich der Bezugslinie für die Fahrtrichtung Süden auf der Gemeindestraße ein Gefälle von rund 4 % gegeben. Die Landesstraße verfügt über eine Steigung für die Fahrtrichtung Westen von ca 1 %. Die vorbeschriebene Ordnungslinie verläuft vom westlichen Trichterende bis 3,5 m westlich der Bezugslinie parallel zur Verschneidungslinie. Die südliche Kante der Ordnungslinie verläuft 1,3 m nördlich der Verschneidungslinie und weist die Ordnungslinie selbst eine Breite von 0,5 m auf. Der Knick der Ordnungslinie befindet sich 2,5 m westlich der Bezugslinie. Auf Höhe der Bezugslinie verläuft die Ordnungslinie mit ihrer südlichen Kante 3 m nördlich der Verschneidungslinie. Die Einsehbarkeit aus einer Augposition zwischen 2 und 4 m nördlich der Verschneidungslinie ist in Richtung Osten hinsichtlich des nördlichen Fahrstreifens bis 100 m östlich der Bezugslinie und in Richtung Westen hinsichtlich des südlichen Fahrstreifens ebenfalls mit 100 m gegeben. Die Sichtgrenze in Richtung Osten wird durch die Steher der Autobahnbrücke gebildet, die sich westlich der Unfallstelle befinden. Im Bereich der Bezugslinie selbst verläuft die St.Thomaser Landesstraße in Fahrtrichtung Westen in einer Linkskurve mit einem geschätzten Radius von etwa 300 m. Alle Fahrflächen sind mit einer Asphaltdecke guter Qualität bedeckt und sind die Randlinien bzw Begrenzungslinieninnenkanten auf der St.Thomaser Landesstraße etwa 0,5 m vom Asphaltrand entfernt.

Am Unfallstag fuhr der Erstbeklagte auf der St.Thomaser Straße aus Richtung Wolfsberg kommend in Richtung St.Marein. Der Lenker des Klagsfahrzeuges fuhr auf der Gemeindestraße aus Richtung Eselsdorf kommend und beabsichtigte, nach links in die St.Thomaser Landesstraße einzubiegen. Als der Erstbeklagte das Klagsfahrzeug erstmals wahrnahm, befand sich dieses ca 15 m nördlich der Verschneidungslinie und war er selbst noch ca 38 m in östlicher Richtung von der Bezugslinie entfernt. Die Geschwindigkeit des Klagsfahrzeuges in Annäherung an den Kreuzungsbereich lag zwischen 30 und 40 km/h, während der Erstbeklagte mit seinem Fahrzeug eine Geschwindigkeit von ca 67 km/h einhielt. Bevor das Klagsfahrzeug nach links in die St.Thomaser Straße einzubiegen begann, brachte es der Lenker im Bereich vor der Ordnungslinie fast zum Stillstand, fuhr dann noch ein kurzes Stück (3 m) nach vor und bemerkte zu diesem Zeitpunkt erstmals durch einen Blick nach links das herannahende Beklagtenfahrzeug, welches noch ca 25 m in östlicher Richtung von der Bezugslinie entfernt war. Gleichzeitig mit dem ersten Blick auf das Beklagtenfahrzeug nahm der Lenker des Klagsfahrzeuges auch ein Bremsgeräusch wahr, stiegt daraufhin selbst auf die Bremse und brachte den klägerischen PKW noch vor der Kollision zum Stillstand. Durch die vom Erstbeklagten vor der Kollision eingeleitete starke Bremsung geriet er auf der feuchten Fahrbahn ins Rutschen, versuchte noch gegenzulenken und ereignete sich die Kollision dann derart, daß das Beklagtenfahrzeug mit der rechten vorderen Seite gegen die linke vordere Seite des Klagsfahrzeuges stieß. Die starke Bremsung wurde vom Erstbeklagten eingeleitet, da er meinte, das Klagsfahrzeug würde vor Einbiegen in die St.Thomaser Landesstraße nicht mehr anhalten. Im Kollisionszeitpunkt befand sich das linke vordere Eck des Klagsfahrzeuges zumindest 20 bis 30 cm nördlich der weißen Randlinie. Durch die starke Bremsung des Beklagtenfahrzeuges war auf der St.Thomaser Landesstraße eine Rutschspur abgezeichnet, die zumindest 21 m östlich der Bezugslinie begonnen hat.

Die Endlage des Beklagtenfahrzeuges nach der Kollision weist eine Schrägstellung in Richtung Nordwesten auf. Dabei ist auf der Fahrbahn deutlich eine Blockierspur des rechten Vorderrades des Beklagtenfahrzeuges abgezeichnet und verläuft diese schräg in Richtung Nordwesten über die Begrenzungslinie und demnach über die Verschneidungslinie in Richtung Norden. Im Bereich 1 m östlich der Bezugslinie geht sodann diese Blockierspur in eine sogenannte Abweisungsspur in Richtung Süden über, wobei diese Abweisung durch die kollisionsbedingte Abweisung der Fahrzeugfront des Beklagtenfahrzeuges in Richtung Süden entstanden ist. Der Beginn der Abweisungsspur markiert demnach den Aufstand des rechten Vorderrades am Beklagtenfahrzeug in Kollisionsstellung. Bei einem seitlichen Überhang des Beklagtenfahrzeuges von 0,1 m ergibt sich, daß das rechte Fronteck desselben in Kollisionsstellung etwa 0,5 m nördlich der Verschneidungslinie sich bewegte. Dabei ist die Abweisung in Richtung Süden, vom rechten Vorderrad des Beklagtenfahrzeuges stammend, kein Spurenknick, sondern nur eine harmonische Abweisung. Aus dieser Spurenzeichnung ergibt sich, daß bedingt durch die gegebene Linkskurve und den Verlust der Lenkfähigkeit durch Vollbremsung das Beklagtenfahrzeug tangential über den nördlichen Fahrbahnrand hinausgeraten ist. Durch die Kollision selbst wurde es dann bezogen auf die Front um ca 1,5 m im Uhrzeigersinn verdreht, wobei nach dem Kollisionspunkt bis zur unfallsbedingten Endlage aber eine weitere Bewegung Richtung Süden nicht mehr erfolgt ist. Aus diesen Bewegungsabläufen beim Beklagtenfahrzeug und der Spurenzeichnung ergibt sich, daß das Klagsfahrzeug im Zeitpunkt der Kollision sich im Stillstand befunden hat. Der Verzögerungswert bei Vollbremsung auf feuchter Fahrbahn ist mit 6,5 m/s2 anzusetzen und beträgt demnach die Kontaktlösegeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges ca 16 km/h. Das Energieäquivalent für die Deformation an beiden Fahrzeugen ergibt für den Fahrverlauf des Beklagtenfahrzeuges einen EES-Wert von ca 30 km/h, woraus sich eine Kollisionsgeschwindigkeit für den Erstbeklagten von rund 34 km/h errechnet. Bei Zugrundelegung einer Spurenzeichnung durch das Beklagtenfahrzeug mit Beginn 21 m östlich der Bezugslinie ergibt sich eine blockierende Vorbremsstrecke von rund 20 m bei Berücksichtigung des vorderen Überhanges am Fahrzeug. Daraus errechnet sich unter Zugrundelegung des Verzögerungswertes von 6,5 m/s2 eine Bremsausgangsgeschwindigkeit im Bereich von 67 km/h. Bei einer Reaktionszeit des Erstbeklagten von 0,8 Sekunden liegt die Abwehrstrecke des Beklagtenfahrzeuges bei 36,5 m und die dazugehörige Abwehrzeit bei 2,31 Sekunden, sodaß im Zeitpunkt des Bremsentschlusses die Sitzposition des Erstbeklagten 38,5 m östlich der Bezugslinie sich befunden hat, wobei in dieser Distanz die Aug-Front-Distanz am Beklagtenfahrzeug von 2 m bereits berücksichtigt ist. Damit fällt der Zeitpunkt des Bremsentschlusses mit jenem der ersten Wahrnehmung des Klagsfahrzeuges durch den Erstbeklagten zusammen. Die Überlappung am linken vorderen Kotflügel des Klagsfahrzeuges beträgt etwa 0,2 m, sodaß sich in Kollisionsstellung die Front des Klagsfahrzeuges 0,3 m nördlich der Verschneidungslinie befunden hat.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Auffassung, daß der wartepflichtige Kläger durch seine Fahrweise beim Erstbeklagten den Eindruck vermittelt habe, er werde nicht mehr vor dem Einfahren in die bevorrangte Straße anhalten. Hiedurch sei der Erstbeklagte zu einem Bremsmanöver veranlaßt worden, das durch die bei ihm vorliegende überhöhte Geschwindigkeit und die feuchte Fahrbahn dazu geführt habe, daß er die Lenkfähigkeit verloren habe und tangential über den nördlichen Fahrbahnrand hinaus geraten und mit dem bereits in Stillstand befindlichen Klagsfahrzeug kollidiert sei. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, daß sich die Front des Klagsfahrzeuges in der Stillstandsposition 0,3 m nördlich der Verschneidungslinie befunden habe und daher jedenfalls die Ordnungslinie überfahren worden sei. Da nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes Verstöße gegen die Vorrangregel grundsätzlich schwerer wiegen würden als andere Verkehrswidrigkeiten - dies auch bei einer allfälligen Überreaktion des Vorrangberechtigten - und Wartepflichte keinesfalls vorrangberechtigte Verkehrsteilnehmer zu einem Bremsmanöver veranlassen oder nötigen dürften, sei dem Kläger ein Verstoß gegen § 19 Abs 4 StVO vorzuwerfen. Dem Erstbeklagten sei anzulasten, daß er die im Unfallsbereich zulässige Geschwindigkeit um ca 30 % überschritten habe und es ihm deshalb nicht möglich gewesen sei, kollisionsvermeidend anzuhalten. Dadurch und durch die von ihm in einer Überreaktion eingeleitete starke Bremsung habe er unfallskausal gehandelt. Eine Verschuldensaufteilung zu Lasten des Klägers im Ausmaß von 1 : 2 sei daher gerechtfertigt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß die Klagsforderung mit S 70.563,80 als zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannt wurde und die Beklagten zur Zahlung von S 70.563,80 sA verpflichtet wurden. Die ordentliche Revision wurde - mangels erheblicher Rechtsfragen - für nicht zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht führte folgendes aus:

Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, daß dem Erstbeklagten gemäß § 19 Abs 4 StVO der Vorrang gegenüber dem Klagsfahrzeug zugekommen sei. Der Wartepflichtige dürfe gemäß § 19 Abs 7 StVO durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen. Der im Nachrang Befindliche habe seine Fahrweise stets so einzurichten, daß er den Vorrang dort wahrnehmen könne, wo er nach den örtlichen Verhältnissen im Einzelfall mit bevorrangten Fahrzeugen rechnen müsse. Der Vorrang sei jedenfalls nur dann gewahrt, wenn der Wartepflichtige sein Fahrzeug noch vor der Querfahrbahn anhalte. Nach den Feststellungen habe der Lenker das Klagsfahrzeug 0,3 m vor der Verschneidungslinie der beiden Straßen, also noch vor der Vorrangstraße, angehalten. Daß er die unterbrochene Ordnungslinie auf der Nachrangstraße überfahren habe, sei ohne rechtliche Bedeutung, weil eine Ordnungslinie im Sinne des § 55 Abs 3 StVO keine Pflicht zum Anhalten an dieser Linie statuiere; der Ordnungslinie fehle es am Gebotscharakter, sie habe auf den Vorrang und die Wartepflicht keinen Einfluß. Ein Verkehrsteilnehmer brauche nicht von vornherein damit rechnen, daß von einem anderen Fahrzeuglenker das Vorrangzeichen "Vorrang geben" nicht beachtet werde; dies gelte jedoch nur so lange, als nicht das vorschriftswidrige Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers bereits eindeutig und augenfällig erkennbar sei. Von einem eindeutigen und augenfällig erkennbaren vorschriftswidrigen Verhalten des wartepflichten Lenkers könne aber bei den getroffenen Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes nicht die Rede sein. Wenn das Klagsfahrzeug bei erster Sicht 15 m nördlich der Verschneidungslinie eine Geschwindigkeit von nur 30 km/h eingehalten habe (von einer höheren Geschwindigkeit könne zugunsten des hiefür beweispflichten Erstbeklagten nicht ausgegangen werden), so habe für den Erstbeklagten zu diesem Zeitpunkt kein begründeter Anhaltspunkt für ein verkehrswidriges Verhalten des wartepflichtigen Lenkers bestanden, der die Einleitung einer Vollbremsung gerechtfertigt hätte. Auch das weitere Fahrverhalten des wartepflichtigen Lenkers bis zur Stillstandsposition habe nicht zur Annahme berechtigt, das Klagsfahrzeug werde nicht vor der Vorrangstraße angehalten. Vom Lenker eines Kraftfahrzeuges könne nämlich erwartet werden, daß er grundsätzlich die Fähigkeit besitze, Verkehrssituationen richtig einzuschätzen und unnötige Fehlreaktionen zu vermeiden. Nur wer durch eine plötzlich auftretende Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen werde, eine unrichtige Abwehrmaßnahme zu treffen, handle nicht schuldhaft. Eine plötzlich auftretende Gefahr in diesem Sinne habe für den Erstbeklagten im vorliegenden Fall aber nicht bestanden. Mit Recht wende sich der Berufungswerber daher gegen den Vorwurf einer Vorrangverletzung. Aus den angeführten Gründen sei vielmehr davon auszugehen, daß der Kläger seiner Wartepflicht im Sinne des § 19 Abs 7 StVO entsprochen habe, weshalb das Alleinverschulden den Erstbeklagten treffe, der mit einer überhöhten Geschwindigkeit gefahren sei und unrichtig reagiert habe.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision der Beklagten nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Die Rechtsmittelwerber machen im wesentlichen geltend, das Berufungsgericht zitiere zwar richtige Entscheidungen, wonach der Vorrang nur dann gewahrt sei, wenn der Wartepflichtige sein Fahrzeug noch vor der Querfahrbahn anhalte, widerspreche sich aber in der Folge, wenn es ausführe, daß die Ordnungslinie im Sinne des § 55 Abs 3 StVO keine Pflicht zum Anhalten statuiere. Der Lenker des Fahrzeuges des Klägers habe dadurch, daß er mit seinen Wagen, nachdem er ihn vor der Ordnungslinie fast zum Stillstand gebracht habe, wieder 3 m in Richtung Kreuzung vorgefahren sei, den Erstbeklagten irritiert und zur Einleitung einer Vollbremsung veranlaßt. Wenn sich auch die Reaktion des Erstbeklagten rückwirkend betrachtet als unrichtig herausgestellt habe, so vermöge dies unter Zugrundelegung der Feststellung, wonach das Fahrzeug erst 30 cm vor der bevorrangten Straße zum Stillstand habe gebracht werden können, nichts daran zu ändern, daß diese Reaktion vom Lenker des Klagsfahrzeuges veranlaßt worden sei. Diesem sei daher ein Mitverschulden anzulasten, was unter Berücksichtigung der Geschwindigkeitsüberschreitung des Erstbeklagten zu der vom Erstgericht getroffenen Verschuldensaufteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Klägers führen müsse.

Hiezu wurde erwogen:

Das Fahrzeug des Klägers hatte gegenüber dem Fahrzeug des Erstbeklagten gemäß § 19 Abs 4 StVO aufgrund des Vorschriftszeichens "Vorrang geben" Nachrang. Gemäß § 19 Abs 7 StVO darf der Wartepflichtige durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Vorrangberechtigten weder zu unvermitteltem Bremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen. Die Wartepflicht setzt die Wahrnehmbarkeit des bevorrangten Fahrzeuges durch den Wartepflichtigen bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit voraus (ZVR 1990/157, 1995/109 mwN). Ein Vorrangfall ist so lange anzunehmen, als sich für den Vorrangberechtigten die Notwendigkeit eines unvermittelteten Bremsens oder eines Auslenkens unmittelbar aus dem Verhalten des Wartepflichtigen ergibt (ZVR 1995/110), wobei es unerheblich ist, ob der Zusammenstoß innerhalb oder außerhalb des Kreuzungsbereiches erfolgt (ZVR 1988/62). Zum Kreuzungsbereich gehört auch dessen Beginn und Ende; er umfaßt die gesamte innerhalb des Mündungstrichters liegende Fläche. Der Vorrang geht auch durch vorschriftswidriges Verhalten des im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmers nicht verloren (ZVR 1992/102 mwN). Eine - rückblickend betrachtet - verfehlte Reaktion des zu einem Bremsmanöver veranlaßten Vorrangberechtigten kann diesem nicht als Verschulden angelastet werden (ZVR 1982/89, 1990/84 mwN).

Das Berufungsgericht hat im vorliegenden Fall zutreffend erkannt, daß die - vom Sohn des Klägers überfahrene - Ordnungslinie im Sinne des § 55 Abs 3 StVO auf den Vorrang und die Wartepflicht mangels Gebotscharakters an sich keinen Einfluß hatte (ZVR 1983/209). Bedenken bestehen allerdings gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, von einem vorschriftswidrigen Verhalten des wartepflichtigen Lenkers könne keine Rede sein. Ob der Erstbeklagte vom Sohn des Klägers zu unvermitteltem Bremsen genötigt wurde, läßt sich anhand der getroffenen Feststellungen - entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes - nicht verläßlich verneinen: Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß der Sohn des Klägers im Einmündungstrichter nach einem Fast-Stillstand im Bereich vor der Ordnungslinie noch - wieder beschleunigend - weiterfuhr, obwohl bereits Sicht auf das Fahrzeug des Erstbeklagten bestand, sodaß dieser tatsächlich ein Einbiegen des benachrangten Fahrzeuges befürchten und auf diese plötzlich auftretende Gefahr reagieren mußte. Ob dies zutrifft, kann erst nach einer entsprechenden Ergänzung der Sachverhaltsfeststellungen abschließend beurteilt werden, weshalb die angefochtenen Urteile der Vorinstanzen aufzuheben waren und die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen war.

Sollte sich im fortgesetzten Verfahren herausstellen, daß der Sohn des Klägers das Fahrzeug des Erstbeklagten bereits hätte wahrnehmen können, als er im Einmündungstrichter wieder beschleunigte, wäre ihm ein Verstoß gegen § 19 Abs 7 StVO anzulasten. Sollte sich hingegen ergeben, daß das Fahrzeug des Erstbeklagten für den Sohn des Klägers im Zeitpunkt des Beschleunigens noch nicht wahrnehmbar war, und daß dieser bei erster Sichtmöglichkeit sogleich reagierte, wäre von einem Alleinverschulden des Erstbeklagten auszugehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

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