OGH 2Ob83/08g

OGH2Ob83/08g27.11.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. Grohmann, Dr. E. Solé und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Friedrich T*****, 2.) Elfriede T*****, beide vertreten durch Dr. Remigius Etti, Rechtsanwalt in Brunn am Gebirge, gegen die beklagten Parteien 1.) Milan K*****, 2.) H***** Versicherung AG, *****, beide vertreten durch Mag. Eva Berger-Hanzl, Rechtsanwältin in Wien, wegen 6.982 EUR sA (Revisionsinteresse 6.932 EUR sA) über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 22. November 2007, GZ 34 R 131/07b-18, womit das Urteil des Bezirksgerichts Favoriten vom 26. Juni 2007, GZ 4 C 2277/06z-13, abgeändert wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden (mit Ausnahme der rechtskräftigen Abweisung von 50 EUR samt 4 % Zinsen seit 28. 8. 2006) aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 24. Juni 2006 ereignete sich in 1100 Wien auf der Kreuzung der Himberger Straße mit der Bahnlände ein Verkehrsunfall, an dem ein vom Erstbeklagten gelenkter und gehaltener und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherter PKW und ein vom Erstkläger gelenkter und von beiden Klägern gehaltener PKW beteiligt waren.

Die Kläger begehrten 6.982 EUR sA und brachten vor, der Erstbeklagte habe mit dem Beklagtenfahrzeug auf der Himberger Straße Richtung stadteinwärts die Kreuzung mit der Bahnlände und in der Folge die an die gegenständliche Kreuzung angrenzende Gleisanlage geradeaus übersetzen wollen. Der Erstkläger sei mit dem Klagsfahrzeug auf der Bahnlände Richtung Himberger Straße, aus Sicht des Erstbeklagten von rechts kommend, in die Kreuzung eingefahren im Vertrauen, dass die auf der Himberger Straße an die Kreuzung herannahenden Fahrzeuge bei Rotlicht der Gleisanlage ordnungsgemäß vor der Haltelinie der Himberger Straße anhalten würden. Es sei zur Kollision beider Fahrzeuge gekommen. Das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, der trotz bereits mehrmals rot blinkender Signalanlage und beginnendem Senken des Schrankens die Kreuzung bzw Gleisanlage noch habe überqueren wollen. Die Kläger begehrten den Ersatz des Wertverlusts am Klagsfahrzeug (Totalschaden: 6.540 EUR) sowie den Ersatz von Ummeldekosten, Abschleppkosten, Generalunkosten sowie Sachverständigengutachtenskosten.

Die Beklagten bestritten und brachten vor, das Vorwarnsignal in Form eines Lichtzeichens habe erstmals aufgeleuchtet, als der Erstbeklagte mit seinem Fahrzeug ca 30 m vor dem Bahnübergang unterwegs gewesen sei. Da dem Erstbeklagten ein rechtzeitiges und sicheres Anhalten vor dem Bahnübergang nicht mehr möglich gewesen sei, habe er gemäß § 18 Abs 2 Satz 2 EisbKrV zulässigerweise beschlossen, weiterzufahren und die Kreuzung mit der Bahnlände und anschließend den Bahnübergang zu überqueren. Die Bahnlände, aus der der Erstkläger herausgefahren sei, sei durch das Verkehrszeichen „Vorrang geben" gegenüber der Himberger Straße benachrangt. Der Erstkläger sei plötzlich und für den Erstbeklagten unvorhersehbar in die Kreuzung in der Absicht, nach links in die Himberger Straße Richtung stadtauswärts abzubiegen, eingefahren. Trotz prompter Reaktion habe der Erstbeklagte die Kollision nicht verhindern können. Das Alleinverschulden treffe den Erstkläger, der den Vorrang des Erstbeklagten missachtet habe. Dem Erstkläger sei überdies eine erhebliche Reaktionsverspätung zur Last zu legen. Ein allfälliger Verstoß des Erstbeklagten gegen § 18 EisbKrV sei mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs ohne Bedeutung, da sich der Schutzzweck dieser Bestimmung auf Sachen und Personen, die sich im Bereich der Eisenbahnkreuzung befinden, beziehe. Die Beklagten wandten eine Gegenforderung von 4.235 EUR ein, wovon 2.000 EUR den Zeitwert des Beklagtenfahrzeugs (Totalschaden), 165 EUR An- und Abmeldespesen und 70 EUR Generalunkosten ausmachen. Angesichts der durch den Unfall erlittenen Verletzungen des Erstbeklagten stehe diesem ein Schmerzengeld von 2.000 EUR zu.

Die Kläger wandten zur eingewendeten Schmerzengeldforderung des Erstbeklagten in eventu ein, dieser habe seine Verletzung durch das Nichtanlegen des Gurts mitverschuldet.

Das Erstgericht sprach aus, die Klagsforderung bestehe mit 6.932 EUR zu Recht, die eingewendete Gegenforderung bestehe nicht zu Recht. Es verurteilte daher die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von

6.932 EUR sA und wies unbekämpft das Mehrbegehren von 50 EUR sA ab.

Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Verkehrsunfall ereignete sich bei Tageslicht und trockener Fahrbahn. Der stadteinwärts (Richtung Norden) führende Fahrbahnteil der Himberger Straße besaß im Stauraum vor der Kreuzung mit der Bahnlände jeweils 3 m breite Fahrstreifen. Der linke Fahrstreifen begann etwa 35 m vor der Kreuzung und war mit Bodenmarkierungspfeilen zum Linksabbiegen markiert. Der mittlere Fahrstreifen war mit Bodenmarkierungspfeilen zum Geradeausfahren markiert, der rechte Fahrstreifen war nicht mit Richtungspfeilen versehen. Rechts vom rechten Fahrstreifen lag ein Parkstreifen, der durch Alleebäume unterbrochen war. Etwa 5 m nach dem in die Himberger Straße verlängert gedachten nördlichen Fahrbahnrand der Bahnlände begann, in Fahrtrichtung Norden gesehen, eine doppelgleisige Eisenbahnkreuzung mit einer Schrankenanlage und einer Lichtsignalanlage. Vor der Kreuzung der Himberger Straße mit der Bahnlände war in Fahrtrichtung des Erstbeklagten (nach Norden) im mittleren und rechten Fahrstreifen eine Haltelinie markiert. Die beiden Fahrstreifen wurden nach dem Bahnübergang geradlinig im Zuge der Favoritenstraße fortgesetzt. Im linken, zum Linksabbiegen in die verlängerte Bahnlände markierten Fahrstreifen der Himberger Straße gab es vor der Kreuzung keine Haltelinie.

Die im Winkel von 70 Grad aus Richtung Osten einmündende, in beiden Richtungen befahrbare Bahnlände besaß eine etwa 11,5 m von der Verschneidungslinie zur Himberger Straße entfernt liegende Haltelinie und ebenfalls eine Eisenbahnlichtsignalanlage, die mit einem Zusatzpfeil nach rechts versehen war. Die Bahnlände war gegenüber der Himberger Straße mit dem Zeichen „Vorrang geben" mit dem Zusatz „Vorrangstraße quert" beschildert benachrangt.

Die Eisenbahnlichtsignalanlage wurde durch Anmeldung eines Schienenfahrzeugs bei Annäherung an die Eisenbahnkreuzung eingeschaltet. Es bestand danach zwölf Sekunden lang rotes Blinklicht, das 25-mal (richtig wohl: 45-mal) pro Minute aufleuchtete, in zwölf Sekunden somit neunmal. Danach begann andauerndes Rotlicht und begannen sich die beiden rechten Schrankenbäume zu senken.

Der Erstbeklagte lenkte das Beklagtenfahrzeug in der Himberger Straße stadteinwärts und beabsichtigte, die Kreuzung mit der Bahnlände in gerader Richtung sowie die Eisenbahnkreuzung zu übersetzen. Er benützte den zweiten Fahrstreifen. Er hielt zunächst in Annäherung an die Unfallstelle eine Geschwindigkeit von ca 50 km/h ein. Die Ampel der Eisenbahnanlage begann rot zu blinken, sodass ein im rechten Fahrstreifen vor dem Beklagtenfahrzeug fahrendes Fahrzeug vor der Haltelinie angehalten wurde. Der Erstbeklagte entschloss sich aber, nicht anzuhalten, sondern fuhr trotz rotblinkender Ampel weiter. Der Erstkläger lenkte das Klagsfahrzeug in der Bahnlände und beabsichtigte, nach links in die Himberger Straße stadtauswärts einzubiegen. Er fuhr nach Beginn des Rotblinkens und nach dem Stillstand des im rechten Fahrstreifen der Himberger Straße angehaltenen Fahrzeugs in die Kreuzung ein.

Der Erstbeklagte erkannte das Klagsfahrzeug als Gefahr, als er sich mit seinem Fahrzeug ca 26,5 m vor Erreichen der Kollisionsposition befand. Er nützte bei einer Vollbremsung mit einer Verzögerung von 7 m/sec2 und 0,8 Sekunden Reaktionszeit und 0,2 Sekunden Bremsschwellzeit eine Abwehrzeit 1,5 Sekunden und eine Abwehrstrecke von 19,5 m. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs lag bei etwa 35 km/h.

Für den Erstbeklagten bestand durch das im rechten Fahrstreifen der Himberger Straße angehaltene Fahrzeug eine Sichtabdeckung, sodass bereits ab einer Annäherungsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs von 9 km/h eine prompte Reaktion des Erstbeklagten vorlag. Der Erstbeklagte hätte ebenso wie das im rechten Fahrstreifen der Himberger Straße angehaltene Fahrzeug als Reaktion auf die blinkende Ampel vor der Halteline anhalten können.

Die Kollision der beteiligten Fahrzeuge erfolgte mindestens fünf Sekunden nach Beginn des blinkenden Rotlichts. Am Klagsfahrzeug erfolgte ein Anstoß von links seitlich gegen den vorderen Bereich des linken Vorderrads und des linken vorderen Kotflügels, wobei dieser eingedrückt wurde und ein Vorbauverzug nach rechts eintrat. Die Reparatur des Klagsfahrzeugs hätte in einer Fachwerkstätte über 12.000 EUR erfordert. Der Wiederbeschaffungswert vor dem Unfall betrug 8.740 EUR, der Restwert des beschädigten Klagsfahrzeugs betrug

2.200 EUR.

Der Wiederbeschaffungswert des Beklagtenfahrzeugs (Baujahr 1992) war nicht feststellbar. Der Restwert war 0 EUR.

Der nicht angegurtete Erstbeklagte erlitt eine Nasenbeinprellung, die bei Anlegen des Sicherheitsgurts unterblieben wäre. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, der Erstkläger habe darauf vertrauen dürfen, dass andere Verkehrsteilnehmer bei Aufleuchten des Rotlichts ihr Fahrzeug vor der Haltelinie zum Stillstand bringen würden. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Erstbeklagten gegen das für ihn geltende Anhaltegebot gemäß § 19 Abs 1 EisbKrV und dem erfolgten Unfall sei gegeben. Die Annahme eines Vorrangs des Beklagtenfahrzeugs hätte zur Voraussetzung gehabt, dass der Erstbeklagte überhaupt die Möglichkeit zum Weiterfahren bzw zum zulässigen Weiterfahren gehabt hätte. Wer das absolute Anhaltegebot des Rotlichts im Sinne des § 38 Abs 5 StVO übertrete, könne für sich keinen Vorrang in Anspruch nehmen. In diesem Sinne hätte der Erstbeklagte bei aufleuchtendem Rotlicht der Eisenbahnsignalanlage nicht in die Kreuzung einfahren dürfen und könne für sich nicht den Vorrang in Anspruch nehmen.

Das Berufungsgericht gab der nur von den Beklagten hinsichtlich des klagsstattgebenden Teils erhobenen Berufung Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung ab. Der bekämpften Feststellung, der Wiederbeschaffungswert des Beklagtenfahrzeugs sei nicht feststellbar, komme keine Relevanz zu, weshalb diese Feststellung nicht übernommen werde. Es erübrige sich daher ein Eingehen auf die diesbezügliche Mängelrüge und Beweisrüge. Rechtlich führte das Berufungsgericht aus, dem Erstbeklagten sei ein Verstoß gegen § 18 Abs 2 und § 19 Abs 2 EisbKrV vorzuwerfen. Die eisenbahnrechtlichen (Sonder-)Vorschriften dienten jedoch nach ständiger oberstgerichtlicher Rechtsprechung nur der Abwehr der speziellen Gefahren, die sich aus der Querung der Eisenbahnlinie durch eine dem öffentlichen Verkehr dienende Straße ergäben. Eine Verhinderung von Schäden, die ohne Zusammenhang mit dem Betrieb der Eisenbahn außerhalb der Eisenbahnkreuzung entstünden, sei vom Schutzzweck nicht umfasst. Der Rotlichtverstoß des Erstbeklagten habe ausschließlich die Eisenbahnkreuzung, nicht jedoch die ca 5 m vor der Eisenbahnkreuzung befindliche Kreuzung der Himberger Straße mit der Bahnlände betroffen. Die vom Erstgericht vertretene analoge Anwendung des § 38 Abs 5 StVO komme im vorliegenden Fall nicht in Betracht, weil eine Regelungslücke nicht bestehe. Gemäß § 18 Abs 2 bzw § 19 Abs 1 EisbKrV sei nämlich vor den Schranken bzw vor der Eisenbahnkreuzung anzuhalten. Die Annahme eines Vorrangs habe zwar zur Voraussetzung, dass der betreffende Verkehrsteilnehmer überhaupt die Möglichkeit zum Weiterfahren bzw zum zulässigen Weiterfahren habe. Dem Erstbeklagten sei jedoch die Weiterfahrt über die Straßenkreuzung bis zur Eisenbahnkreuzung nicht verboten gewesen, sodass der Erstkläger nicht darauf hätte vertrauen dürfen, der Erstbeklagte werde aufgrund des Aufleuchtens der Lichtzeichenanlage vor der Haltelinie anhalten. § 18 Abs 3 StVO bezwecke das Freihalten von Kreuzungen. Danach bestehe eine Verpflichtung zum Anhalten vor der Querstraße, wenn die Lenker hintereinanderfahrender Fahrzeuge anhalten und die Reihe der anhaltenden Fahrzeuge auf den betreffenden Fahrstreifen bis zur Querstraße zurückreiche. Ein derartiger Sachverhalt liege hier aber nicht vor, weil dem Erstbeklagten aufgrund des Umstands, dass die Eisenbahnkreuzung zumindest 5 m von der Kreuzung Himberger Straße - Bahnlände entfernt gewesen sei, ein Anhalten vor der Eisenbahnkreuzung ohne Behinderung des Querverkehrs möglich gewesen sei. Der Verstoß des Erstbeklagten gegen die §§ 18, 19 EisbKrV sei somit mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs ohne Bedeutung. Dem Erstbeklagten sei gemäß § 19 Abs 4 StVO der Vorrang zugekommen. Ein anderer Verstoß gegen Verkehrsvorschriften könne ihm nicht angelastet werden. Da der Kläger gemäß § 19 Abs 7 StVO wartepflichtig gewesen sei, sei das Klagebegehren abzuweisen gewesen.

Erst über Antrag der Kläger ließ das Berufungsgericht gemäß § 508 Abs 3 ZPO die ordentliche Revision zu. Es existiere keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob eine Haltelinie nach § 9 Abs 3 und 4 StVO auch beim Anhalten vor einer Eisenbahnkreuzung (§§ 18, 19 EisbKrV) maßgeblich sei.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Kläger wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichts im Sinne einer Klagsstattgebung von

6.932 EUR sA abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Revisionswerber argumentieren im Wesentlichen, das Berufungsgericht habe der Haltelinie zu Unrecht keinerlei Bedeutung beigemessen. Im vorliegenden Fall sei aus einer Zusammenschau der §§ 18, 19 EisbKrV sowie der §§ 3, 9 und 38 Abs 5 StVO abzuleiten, dass die Haltelinie im direkten Zusammenhang mit der gegenständlichen Eisenbahnkreuzung bzw mit der Absicherung derselben stehe, weshalb das in den §§ 18, 19 EisbKrV normierte Anhaltegebot auch Schutzwirkungen zugunsten des Erstklägers zeitige. Dieser habe darauf vertrauen dürfen, dass andere Verkehrsteilnehmer bei Aufleuchten des Rotlichts ihr Fahrzeug vor der Haltelinie zum Stillstand bringen würden, weshalb ein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Erstbeklagten und dem erfolgten Unfall gegeben sei.

Dazu wurde erwogen:

1. Anhaltepflicht des Erstbeklagten:

Im vorliegenden Fall liegt weder eine geregelte Kreuzung (§ 2 Abs 1 Z 18, § 9 Abs 3, §§ 37 f StVO), noch eine Kreuzung mit dem Vorschriftszeichen „Halt" (§ 9 Abs 4 StVO), noch eine mit Andreaskreuzen und dem Vorschriftszeichen „Halt" versehene Eisenbahnkreuzung (§ 17 Abs 3 EisbKrV) vor. Für eine (Eisenbahn-)Kreuzung wie die gegenständlich gestaltete ist somit eine Haltelinie im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen. Der Gesetzgeber hat jedoch offensichtlich Fälle wie den vorliegenden nicht bedacht, in denen bei einer Kombination zwischen einer ungeregelten Straßenkreuzung und einer durch Lichtzeichen geregelten Eisenbahnkreuzung in einem engen räumlichen Zusammenhang eine Haltelinie - wie hier - durchaus sinnvoll sein kann. Das Gesetz ist daher planwidrig lückenhaft. Nach § 9 Abs 3 StVO darf an einer geregelten (Straßen-)Kreuzung beim Anhalten nur bis an eine allenfalls angebrachte Haltelinie herangefahren werden. Diese Norm ist analog auf die hier vorliegende geregelte Eisenbahnkreuzung anzuwenden. Der normative Charakter (vgl § 44 Abs 1, § 55 Abs 2 StVO) der auf der Himberger Straße angebrachten Haltelinie bezieht sich somit auf die Anhaltegebote, die sich aus der vor der Eisenbahnkreuzung befindlichen Lichtzeichenanlage (§ 19 EisbKrV) bzw Schrankenanlage (§ 18 EisbKrV) ergeben.

Ob diese rechtliche Beurteilung der vorhandenen Haltelinie auch auf eine analoge Anwendung von § 17 Abs 3 EisbKrV (Eisenbahnkreuzung, die durch Andreaskreuze und das Verkehrszeichen „Halt" und eine allfällige Haltelinie gesichert ist), gestützt werden könnte, kann dahingestellt bleiben.

Nach den hier anzuwendenden wortgleichen Bestimmungen des § 18 Abs 2 Satz 2 und § 19 Abs 1 Satz 2 EisbKrV haben die Fahrzeuglenker weiterzufahren, wenn ihnen ein sicheres Anhalten bei Aufleuchten des gelben (zu ergänzen: oder roten blinkenden [vgl § 9 Abs 3 EisbKrV]) Lichts nicht mehr möglich ist.

Mit dem Berufungsgericht ist festzuhalten, dass die erstgerichtlichen Feststellungen zur Beurteilung ausreichen, dass dem Erstbeklagten ein sicheres Anhalten an der Haltelinie bei Aufleuchten des Rotlichts möglich gewesen wäre.

Der Erstbeklagte wäre daher verpflichtet gewesen, sein Fahrzeug an der Haltelinie anzuhalten.

2. Schutzzweck der eisenbahnrechtlichen Vorschriften:

Nach ständiger oberstgerichtlicher Judikatur dienen die eisenbahnrechtlichen Vorschriften nur der Abwehr der speziellen Gefahr, die sich aus der Querung der Eisenbahnlinie durch eine dem öffentlichen Verkehr dienende Straße ergibt. Sie haben aber nicht den Zweck, Schäden zu verhindern, die sich ohne Zusammenhang mit dem Betrieb der Eisenbahn außerhalb der Eisenbahnkreuzung auf der Straße ereignen (RIS-Justiz RS0058397 [T1, T2]).

Für den vorliegenden Fall ist daraus zunächst zu folgern, dass für das gemäß § 19 Abs 4 StVO benachrangte Klagsfahrzeug aus einer allfälligen Verletzung der sich aus den §§ 18 f EisbKrV ergebenden Anhalteverpflichtung des Beklagtenfahrzeugs nichts zu gewinnen ist, ist doch die Verhinderung des eingetretenen Schadens nicht vom Schutzzweck der genannten Verbotsnormen erfasst.

3. Schutzzweck der Haltelinie auf der Himberger Straße:

Der Schutzzweck der vorhandenen Haltelinie ist jedoch weiter:

Aufgrund der konkreten Gestaltung der vorliegenden Unfallkreuzung ist nämlich nicht zweifelhaft, dass die in den beiden Geradeausfahrstreifen der Himberger Straße vor der Kreuzung mit der Bahnlände angebrachte Haltelinie den Zweck verfolgt, bei Eisenbahnverkehr und daher gegebener Anhaltepflicht der auf der Himberger Straße stadteinwärts fahrenden Fahrzeuglenker den Querverkehr in der Bahnlände, somit hier auch das Fahrzeug des Erstklägers, nicht zu behindern. Die Haltelinie bezweckt daher auch, Unfälle wie den vorliegenden zu verhindern. Die Übertretung des Anhaltegebots durch den Erstbeklagten steht demnach im Rechtswidrigkeitzusammenhang.

4. Verschuldensteilung:

Bei Abwägung der beiderseitigen Verschuldensanteile (Vorrangverletzung des Erstklägers gemäß § 19 Abs 4 iVm 7 StVO, Verletzung des dargestellten Anhaltegebots durch den Erstbeklagten) hält der erkennende Senat grundsätzlich eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 für angemessen. Diese Beurteilung könnte nur dann eine Veränderung zu Lasten der Kläger erfahren, wenn sich aus den im fortgesetzten Verfahren ergänzend zu treffenden Feststellungen eine relevante Reaktionsverspätung des Erstklägers ergäbe. Dabei läge eine Reaktionsverspätung jedoch nicht schon bei nicht prompter Reaktion des Erstklägers auf die erstmögliche Sicht auf das herannahende Beklagtenfahrzeug vor, sondern erst ab Erkennbarkeit, dass das Beklagtenfahrzeug an der Haltelinie nicht anhalten werde.

5. Aufhebung:

Eine abschließende Beurteilung der Rechtssache ist nicht möglich, da die Urteile der Vorinstanzen - bereits in der Berufung der Beklagten gerügte - Feststellungsmängel (zur von den Beklagten behaupteten Reaktionsverspätung des Erstklägers, zu den erlittenen Schmerzen des Erstbeklagten, zum Wiederbeschaffungswert des Beklagtenfahrzeugs) aufweisen. In rechtlicher Hinsicht wird auf das von den Klägern geltend gemachte Gurtenmitverschulden des Erstbeklagten Bedacht zu nehmen sein (vgl RIS-Justiz RS0029844; RS0123817).

Der Revision war daher spruchgemäß Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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