OGH 2Ob72/92

OGH2Ob72/9225.3.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Martin M*****, vertreten durch Dr.Rudolf Griss und Dr.Gunter Griss, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagten Parteien 1. Günter K*****, 2. ***** Versicherungsanstalt, ***** beide vertreten durch Dr.Rudolf Volker und Dr.Helmut Fetz, Rechtsanwälte in Leoben, wegen S 105.211 sA, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 15.September 1992, GZ 5 R 70/92-19, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 16.Dezember 1991, GZ 11 Cg 97/91-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben, die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für ZRS Graz zurückverwiesen, das auf die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gleich Verfahrenskosten erster Instanz Bedacht zu nehmen haben wird.

Text

Begründung

Am 24.August 1989 ereignete sich in Graz auf dem Eggenbergergürtel auf der Kreuzung mit der Josef Huber-Gasse und der Steinfeldgasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker des ihm gehörigen Motorrades Yamaha XT 500 und der Erstbeklagte als Lenker des bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKWs Renault 18 GTS beteiligt waren.

Der Kläger begehrte von den beklagten Parteien Zahlung eines Betrages von S 105.772 (Schmerzengeld S 85.000, Sachschäden sowie Selbstbehalt anläßlich seines Krankenhausaufenthaltes S 20.772) mit der Begründung, der Erstbeklagte habe als Lenker des entgegenkommenden links abbiegenden Fahrzeuges den dem Kläger nach § 19 Abs 5 StVO zukommenden Vorrang verletzt.

Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens, weil der Kläger sein Fahrzeug von einer Linksabbiegespur kommend nach rechts gelenkt habe, mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei und falsch und verspätet auf das Manöver des Erstbeklagten reagiert habe. Bei richtiger Reaktion hätte der Kläger die Möglichkeit gehabt, hinter dem vom Erstbeklagten gelenkten Fahrzeug vorbeizufahren. Der Erstbeklagte wendete kompensando die ihm erwachsenen Schäden gegen die Klagsforderung ein.

Das Erstgericht sprach aus, daß die Klagsforderung mit einem Betrag von S 105.211 zu Recht, die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe und wies das Mehrbegehren - unbekämpft - ab. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Die vom Kläger benützte, Richtung Norden führende, Fahrbahnhälfte des Eggenbergergürtels ist vor der durch eine automatische Verkehrslichtsignalanlage geregelten Kreuzung mit der Steinfeldgasse/Josef Huber-Gasse 10 m breit und weist drei markierte Fahrstreifen auf, von denen der rechte für den Geradeaus- und Rechtsabbiegeverkehr, der mittlere für den Geradeausverkehr und der linke für den Linksabbiegeverkehr markiert ist. Der Eggenbergergürtel ist eine gekennzeichnete Vorrangstraße mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h. Zum Unfallszeitpunkt war die Fahrbahn trocken und es herrschten gute Sichtverhältnisse. Der Kläger fuhr in der Mitte des rechten Fahrstreifens mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h und wollte die Kreuzung geradeaus überqueren. Der Erstbeklagte befuhr den Eggenbergergürtel in Richtung Süden und wollte nach links in die Josef Huber-Gasse einbiegen und hielt sein Fahrzeug 13 m südlich der für seine Fahrtrichtung vor der Kreuzung angebrachten Haltelinie an. Er wollte vor einem aus der Gegenrichtung kommenden und auf dem mittleren Fahrstreifen fahrenden LKW einbiegen und setzte daher sein Fahrzeug in einem harmonischen Abbiegemanöver normal beschleunigend in Bewegung. Der Kläger reagierte auf das in seinen Fahrstreifen einbiegende Beklagtenfahrzeug durch eine reflexartige Auslenkung nach rechts und stieß dann mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h mit dem Vorderrad seines Motorrades gegen die rechte vordere Türe des vom Erstbeklagten gelenkten PKW. Die Kollision veranlaßte den Erstbeklagte zu einer starken Bremsung. Das Erstgericht hielt schließlich noch fest, daß der Kläger "hinsichtlich des Startes des Abbiegemanöver des Beklagten" die Möglichkeit gehabt hätte, sein Fahrzeug vor der Fahrlinie des Beklagtenfahrzeuges unfallverhütend anzuhalten.

Rechtlich erörterte es, daß dem Kläger grundsätzlich der Vorrang nach § 19 Abs 5 StVO zugekommen sei. Bei Vorliegen von drei Fahrstreifen müsse ein am rechten Fahrstreifen sich bewegender Verkehrsteilnehmer nicht bereits auf das Einbiegen (Start) in die gesamte Fahrbahn (ergänze: Hälfte) durch einen Linksabbieger reagieren, sondern könne darauf vertrauen, daß dieses Fahrzeug den Vorrang dadurch beachte, daß es vor dem benützten Fahrstreifen anhalte. Eine Reaktion sei erst dann notwendig, wenn der Bereich des selbst benützten Fahrstreifens beeinträchtigt werde und dadurch kenntlich sei, daß sich das einbiegende Fahrzeug nicht straßenverkehrsordnungsgemäß verhalte. Dem Beklagten (richtig: Kläger) sei ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles nicht anzurechnen, weil er erst auf das Eindringen des Beklagtenfahrzeuges in seinen Fahrstreifen reagieren mußte.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und teilte dessen rechtliche Überlegungen. Der Kläger habe erst zu einem Zeitpunkt auf die Vorrangverletzung des Erstbeklagten reagieren müssen, als für ihn diese Vorrangverletzung eine Gefahr bedeutete. Diese sei erst dann eingetreten, als für ihn erkennbar gewesen sei daß der Erstbeklagte nicht vor dem vom Kläger benützten Fahrstreifen anhalten werden könne. Würde aber für den Kläger bereits die Verpflichtung zu einer Reaktion in dem Augenblick bestehen, zu welchem er erkennen konnte, daß der Linksabbieger in die vom Bevorrangten benützte Fahrbahnhälfte eindringe, sei die Sache noch nicht spruchreif, da für diesen Fall die getroffene Feststellung über eine Vermeidbarkeit des Unfalles durch den Kläger ungenügend wäre. Mangels Darlegung einer Zeit-Wegrelation und der Sichtmöglichkeit des Klägers auf das stehende und wiederanfahrende Beklagtenfahrzeug könne

das Ausmaß einer allfälligen rechnerischen Reaktionsverspätung nicht beurteilt werden.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil die Frage, wann der Bevorrangte auf das Eindringen des nach § 19 Abs 5 StVO Benachrangten in seine Fahrbahnhälfte reagieren müsse, wenn auf dieser mehrere Fahrstreifen vorhanden seien, eine erhebliche Rechtsfrage darstelle.

Die beklagten Parteien bekämpfen diese Entscheidung mit Revision aus dem Grund des § 503 Abs 4 ZPO mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungs- bzw Erstgericht zurückzuverweisen. Hilfsweise wird der Antrag gestellt, ausgehend von einer Verschuldensteilung 1 : 2 zu Lasten der beklagten Parteien in der Sache selbst zu erkennen.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Der Rechtsmeinung der Vorinstanzen, der Kläger sei erst dann zu einer Reaktion verpflichtet gewesen, als er erkennen konnte, daß das vom Erstbeklagten gelenkte Fahrzeug in seine Fahrlinie schneidet, kann in dieser allgemeinen Form nicht gefolgt werden.

In der Rechtsprechung wurde der Grundsatz entwickelt, daß jede unklare Verkehrssituation im bedenklichen Sinn auszulegen und ihr durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch rechtzeitige und ausreichende Herabsetzung der Geschwindigkeit, erforderlichenfalls auch durch Abgabe von Warnzeichen, Rechnung zu tragen ist (ZVR 1984/215).

Wann aber eine derartige unklare Verkehrssituation vorliegt, kann nur unter Bedachtnahme auf den im § 3 StVO normierten Vertrauensgrundsatz beurteilt werden. Dieser kommt demjenigen nicht zugute, der das unrichtige Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers so rechtzeitig erkennt oder bei entsprechender Aufmerksamkeit erkennen kann, daß ihm eine zumutbare Reaktion möglich ist. Nur so weit ein bestimmtes verkehrswidriges Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers nicht vorhersehbar ist, kann dem Gegner daraus, daß er ein solches Verhalten des anderen bei seiner eigenen Fahrweise nicht in Rechnung stellte, kein Vorwurf gemacht werden (Dittrich-Stolzlechner StVO3 § 3 Anm 23.

Unter diesen Gesichtspunkten ging die Rechtsprechung auch davon aus, daß ein Vorrangberechtigter darauf vertrauen dürfe, der ihm zukommende Vorrang werde von dem Lenker eines Fahrzeuges, das sich außerhalb der Fahrbahn befinde, gewahrt; dies gelte auch für den Fall einer erkennbaren Bewegung des Kraftfahrzeuges (ZVR 1970/62).

Im vorliegenden Fall ist allerdings zu beachten, daß der Erstbeklagte sein Abbiegemanöver nach links nur dann durchführen durfte, wenn er mit Sicherheit damit rechnen konnte, dadurch einen im Vorrang befindlichen, seine Fahrtrichtung beibehaltenden Fahrzeuglenker weder zur Ablenkung noch zu einer unvermittelten Bremshandlung zu nötigen. Dabei hatte er die Vorfahrt eines den Vorrang genießenden Verkehrsteilnehmers noch vor Verlassen der eigenen rechten Fahrbahnhälfte abzuwarten (ZVR 1968/48; ZVR 1980/288; ZVR 1984/203).

Dies bedeutet aber, daß sich der Erstbeklagte bereits zu dem Zeitpunkt verkehrswidrig verhielt, als er die eigene Fahrbahnhälfte verließ, bzw in den für den entgegenkommenden Geradeausverkehr bestimmten Fahrbahnteil geriet. Bereits zu diesem Zeitpunkt - und nicht erst dann, als der Erstbeklagte in den vom Bekläger benützten Fahrstreifen geriet - mußte daher dem Kläger das verkehrswidrige Verhalten des nach den Feststellungen "sein Fahrzeug in einem harmonischen Abbiegemanöver" normal beschleunigenden Erstbeklagten auffallen. Er durfte auch ohne triftige Anhaltspunkte nicht darauf vertrauen, daß der Erstbeklagte sein verkehrswidriges Verhalten korrigieren werde (EvBl 1972/118).

Ausgehend von einer vom Revisionsgericht nicht gebilligten Rechtsmeinung haben die Vorinstanzen Feststellungen über die Sichtverhältnisse und Sichtmöglichkeiten des Klägers zum Fahrzeug des Erstbeklagten und über Entfernung und Geschwindigkeit des Klägers zum Zeitpunkt, als der Erstbeklagte seine Fahrbahnhälfte verließ bzw in den für den Geradeausverkehr bestimmten Teil der vom Kläger benützten Fahrbahnhälfte geriet, unterlassen. Erst wenn diese Feststellungen getroffen worden sind, kann verläßlich beurteilt werden, ob dem Kläger eine vorwerfbare Reaktionsverzögerung und somit ein - meßbares - Mitverschulden zur Last zu legen ist.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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