OGH 2Ob70/94

OGH2Ob70/9427.10.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dieter R*****, vertreten durch Dr.Hubert Tramposch, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei W*****Kommanditgesellschaft, ***** vertreten durch Dr.Walter Heel, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 57.846,20 sA und Feststellung (S 10.000,‑ ‑), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 14.Juli 1994, GZ 2 R 141/94‑29, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 12.Februar 1994, GZ 15 Cg 374/93‑23, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1994:0020OB00070.940.1027.000

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 4.871,04 (darin S 811,84 USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger begehrte von der Beklagten die Leistung von Schadenersatz (Schmerzengeld, Verdienstentgang) sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden des Klägers aus einem Unfall, der sich beim Aussteigen aus der von der Beklagten betriebenen Gondelbahn ereignet hat.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und traf hiezu im wesentlichen folgende Feststellungen:

Am 31.5.1991 benützte der Kläger gemeinsam mit einem zweiten Fahrgast die von der Beklagten betriebene Gondelbahn zu einer Bergfahrt. Der Kläger nahm in einer Gondel in Fahrtrichtung neben der Türe Platz; der zweite Fahrgast saß ihm gegenüber. In der Bergstation stieg der Kläger als erster aus. Nach dem Aussteigen erhielt er von einem an der Gondel montierten Schiköcher einen Schlag auf das rechte Bein, wodurch er sich eine Verletzung der Achillessehne zuzog. Diese Gondelbahn ist seit dem Jahr 1973 in Betrieb. Sie wird in regelmäßigen Abständen vom Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr überprüft; die letzte Überprüfung fand im Jahre 1987 statt. Seit Inbetriebnahme wurden bis 31.5.1991 ca 20 Millionen Gäste befördert, wobei ein ähnlicher Unfall wie jener des Klägers sich bisher nicht ereignet hat.

In den Betriebsvorschriften ist nicht vorgesehen, daß Anweisungen, wie aus der Gondel auszusteigen ist, anzubringen sind. Es finden sich daher derartige Anweisungen weder in der Tal‑ noch in der Bergstation. Im Ausstiegsbereich der Gondel befindet sich eine weiße Bodenmarkierung.

Die Türbreite der Gondel beträgt 60 cm. Die Tür der Gondel ist so beschaffen, daß ein Aussteigen bei geringer Fahrgeschwindigkeit in einem Winkel von ca 45ø möglich ist. An der Ausstiegsstelle werden die Gondeln nicht angehalten, sondern bewegen sich mit Fußgängergeschwindigkeit vorwärts. An beiden Seiten der Gondeltüre befinden sich jeweils drei Schiköcher mit den Abmessungen von 10,5 x 6 cm, die als abgerundete Vierkantrohre ausgebildet sind und ca 15 cm nach vor stehen.

Bei einer Belastung der Gondel von zwei Personen kann ein Pendeln der Gondel beim Aussteigen von ca 12 bis maximal 20 cm eintreten.

Die höchstwahrscheinliche Unfallsvariante ist die, daß der Kläger vom Sitz aus, ohne zuerst in der Gondel mit beiden Beinen aufzustehen, mit einem Fuß aus der Gondel getreten ist. Dadurch kam kein ausreichender Schrittabstand zur Gondel zustande. Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß der Kläger zunächst vom Sitz in der Gondel aufgestanden ist und den Aussteigeschritt nach rechts vorne anstatt in der Fahrtrichtung seitlich gerichtet hat.

Bei beiden Ausstiegsvarianten ist ein Eingreifen eines Bediensteten der Beklagten nicht möglich, da auch ein Abschalten der Bahn wegen des Bremsweges den Unfall nicht verhindern hätte können. Eine Aussteigehilfe ohne vorherige Aufforderung in der Talstation ist nicht vorgesehen.

Das Erstgericht gelangte zum Schluß, daß der Kläger die weiße Bodenmarkierung im Ausstiegsbereich nicht beachtet habe und zu nahe im Gondelbereich ausgestiegen sei, wodurch seine Verletzung ausgelöst worden sei. Es verneinte jegliche Haftung der Beklagten mit dem Hinweis, daß für diese das Unfallsgeschehen ein unabwendbares Ereignis gewesen sei, das ausschließlich auf das Fehlverhalten des Klägers zurückzuführen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Es führte zur Rechtsrüge des Klägers folgendes aus:

Ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG sei dann anzunehmen, wenn sowohl der Betriebsunternehmer, als auch die mit seinem Willen beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hätten. Darunter sei grundsätzlich die äußerste, nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen. Diese erhöhte Sorgfaltspflicht setze nicht erst in der Gefahrenlage selbst ein, sondern verlange, daß von vorneherein das Entstehen einer Gefahrenlage vermieden werde.

Daß ein Abschalten der Gondelbahn den Unfall nicht vermeiden hätte können, sei vom Erstgericht unbekämpft festgestellt worden; ebenso, daß eine Ausstiegshilfe ohne vorherige Aufforderung (in der Talstation) nicht vorgesehen sei. Daß der Kläger eine Ausstiegshilfe gefordert hätte, sei auch nicht behauptet worden.

Es bleibe daher zu prüfen, ob die Beklagte nicht vorbeugend durch die Anbringung entsprechender Hinweise über allfällige Gefahren beim Aussteigen (zB durch Hinweistafeln in der Gondel oder Einstiegsstelle) die Fahrgäste darauf aufmerksam machen hätte müssen und ob in der Unterlassung solcher Maßnahmen eine Verletzung der äußersten Sorgfaltspflicht im Sinne des § 9 EKHG zu erblicken sei.

Grundsätzlich dürfe der Betreiber einer Gondelbahn ‑ sofern der Benützer, wie hier, nichts Gegenteiliges zum Ausdruck bringe ‑ voraussetzen, daß die Benützer sich über die allgemein verlangten grundlegenden Verhaltensmaßnahmen, zu denen insbesondere das Ein‑ und Aussteigen aus der Gondel gehöre, im klaren seien. Daher seien auch unter dem Gesichtspunkt des besonderen Sorgfaltsmaßstabes des § 9 EKHG vom Betriebsunternehmer zur Abwendung von Gefahren (Schäden) eines Fahrgastes nur jene Maßnahmen zu treffen, die vernünftigerweise nach Lage der Umstände und der Auffassung des Verkehrs zu gewärtigen seien (Pichler/Holzer, Handbuch des Österreichischen Schirechts 79 mwN).

Wenn nun die gegenständliche Gondelbahn seit dem Jahr 1973 in Betrieb sei und seither (bis 31.5.1991) ca 20 Millionen Gäste befördert habe, ohne daß sich ein ähnlicher Unfall wie jener des Klägers ereignet hätte, dann sei davon auszugehen, daß das Unterlassen besonderer Hinweise (so durch Anbringung von Schrifttafeln in der Gondel oder Station über die gebotene Verhaltensweise beim Aussteigen aus der Gondel) nicht als Haftungsgrundlage im Sinne des § 9 EKHG herangezogen werden könne.

Auch ein Abmontieren der Schiköcher bei jenen Gondeln, die von Nichtschifahrern benützt würden ‑ die vom Kläger benützte Bahn erschließe ein Schigebiet, daß auch im Sommer von Schifahrern aufgesucht werde ‑, könne der Beklagten nicht zugemutet werden.

Der gegenständliche Unfall sei daher ausschließlich auf die Ungeschicklichkeit des Klägers beim Aussteigen zurückzuführen, gleichgültig, von welcher Ausstiegsvariante des Klägers ausgegangen werde und ob er die Bodenmarkierung wahrgenommen habe oder nicht; eine Haftung der Beklagten sei daher zu verneinen.

Die Revision sei gemäß § 502 Abs 1 ZPO zuzulassen gewesen, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage, ob und allenfalls auf welche Art und Weise Benützer einer Gondelbahn durch Hinweise auf allfällige Gefahren beim Aussteigen aufzuklären seien, fehle.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinne abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Zunächst wird gemäß § 510 Abs 3 Satz 2 ZPO auf die für zutreffend erachteten Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen. Den Revisionsausführungen ist noch folgendes entgegenzuhalten:

Der Kläger meint, sein genaues Ausstiegsverhalten sei nicht festgestellt worden, was zu Lasten des Betriebsunternehmers gehe.

Richtig ist zwar, daß nicht aufklärbare Ungewißheiten über den Unfallhergang insoweit zu Lasten des Haftpflichtigen gehen, als ihn mangels Entlastung die Gefährdungshaftung trifft (Apathy, EKHG § 9 Rz 3 mwN). Im vorliegenden Fall wurde eine "höchstwahrscheinliche" Ausstiegsvariante und daneben noch eine weitere mögliche Variante festgestellt. Nach beiden Varianten ist der Unfall aber auf das Verhalten des Geschädigten zurückzuführen, weshalb daraus, daß sich die Vorinstanzen nicht für eine einzige Variante entschieden haben, für den Kläger nichts zu gewinnen ist.

Der Kläger führt weiters aus, der Umstand, daß die Gondelbahn seit 1973 im Betrieb sei und seither ca 20 Millionen Gäste befördert habe, ohne daß sich ein ähnlicher Unfall ereignet hätte, könne den Betriebsunternehmer nicht von seiner ihn treffenden Sorgfaltspflicht zur Anbringung von Ausstiegsanweisungen in der Gondel bzw im Ausstiegsbereich entlasten.

Dem Kläger ist zuzugeben, daß mit dem genannten Umstand allein eine Haftungsbefreiung der Beklagten nicht begründet werden kann. Allerdings sind die bisher im Betrieb der Gondelbahn gewonnenen Erfahrungen bei der Beurteilung der nach § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt durchaus mitzuberücksichtigen; auf alle erdenklichen Unfallmöglichkeiten mußte sich die Beklagte nicht einstellen.

Was nun die Einhaltung der äußersten nach den Umständen des Falles möglichen und zumutbaren Sorgfalt anlangt, so darf auch die erhöhte Sorgfaltspflicht nach § 9 Abs 2 EKHG nicht überspannt werden, soll eine vom Gesetzgeber nicht gewollte reine Erfolgshaftung vermieden werden (Apathy aaO Rz 18 mwN). Hievon ausgehend kann nicht gesagt werden, daß die Möglichkeit einer Pendelbewegung einer mit zwei Personen besetzten Gondel bei einer bestimmten Sitzverteilung (vgl zu Schaukelbewegungen eines Liftsessels ZVR 1981/172) es zur Haftungsbefreiung erfordert hätte, im Ausstiegsbereich eine Ausstiegshilfe zu Verfügung zu stellen oder gesonderte Anleitungen für das Verhalten beim Ein‑ und Aussteigen in den Stationen sowie in den Gondeln deutlich sichtbar anzubringen.

Schließlich war im Pendeln der Gondel beim Aussteigen selbst unter Berücksichtigung einer bestimmten Sitzverteilung der Fahrgäste keine solche besondere Gefahrensituation gelegen, die die Annahme einer (von einem nicht beim Betrieb tätigen Dritten ausgelösten) außergewöhnlichen Betriebsgefahr rechtfertigen könnte (Apathy aaO Rz 29 mwN).

Der Revision des Klägers war somit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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