Spruch:
Das Ärzte- und Pflegepersonal eines Krankenhauses darf sich nicht darauf verlassen, es werde sich ein Patient bei Beobachtung der durch einen Glaukomanfall bedingten Beschwerden selbst melden.
Adäquater Kausalzusammenhang.
Entscheidung vom 19. Dezember 1956, 2 Ob 673/56.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Der Kläger wurde wegen Ischiasbeschwerden in die Nervenklinik des Landeskrankenhauses G. eingeliefert, wo ihm auf Weisung eines Assistenten zu diagnostischen Zwecken von einer Krankenschwester Homatropin in beide Augen eingeträufelt wurde. Von der Vornahme dieser Einträuflung wurde noch am gleichen Tage die Augenklinik verständigt, damit ein Augenarzt den Kläger untersuche. Ob der Kläger noch am selben Tag von einem Augenarzt untersucht wurde, steht nicht fest. Im Anschluß an die Einträuflung ist beim Kläger ein akuter Glaukomanfall beider Augen eingetreten. Der Kläger hat am Morgen des nächsten Tages einer Krankenschwester der Nervenklinik von den durch den Glaukomanfall verursachten Beschwerden (Blindheit auf beiden Augen) Mitteilung gemacht. Der Kläger wurde sodann mittags in die Augenklinik gebracht, dort aufgenommen und unverzüglich behandelt. Am rechten Auge konnte der Glaukomanfall durch entsprechende konservative Maßnahmen kupiert werden, am linken Auge wurde der gesteigerte Augendruck durch eine am nächsten Tage durchgeführte Operation (Irisdektomie) normalisiert. Bei der nach weiteren neun Tagen erfolgten Entlassung aus der Augenklinik waren Sehvermögen und Gesichtsfeld des rechten Auges normal; links betrug die Sehschärfe 5/18, das linke Gesichtsfeld war annähernd normal.
Der Kläger begehrt 5000 S Schmerzengeld und 20.000 S als Ersatz für die Verminderung der Sehkraft.
Beide Untergerichte wiesen das Klagebegehren ab.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers Folge, hob die Urteile der Untergerichte auf und verwies die Sache an das Erstgericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der Oberste Gerichtshof folgt der rechtlichen Beurteilung der Vorinstanzen, soweit diese auf Grund der Beweisergebnisse zu dem Schluß kamen, daß die Homatropineinträuflung zu diagnostischen Zwecken an sich nicht als Kunstfehler gewertet werden kann. Es ist zwar festgestellt, daß der Kläger glaukomdisponiert war, die Vorinstanzen haben aber auf Grund des Sachverständigengutachtens angenommen, daß nicht genügend Grund zu einem Verdacht auf eine solche Disposition bestanden habe.
Dagegen vermag der Oberste Gerichtshof nicht uneingeschränkt der Auffassung zu folgen, es hätte sich das Ärzte- und Pflegepersonal damit beruhigen können, es werde sich ein Patient, der die durch einen Glaukomanfall bedingten Beschwerden an sich beobachtet, schon selbst melden. Der Oberste Gerichtshof hält es vielmehr für ein Gebot ärztlicher Vorsicht, den Patienten anzuweisen, sich auf die für einen Glaukomanfall typischen Beschwerden, die vermutlich in einer Steigerung des Augendrucks bestehen, selbst zu beobachten und das Auftreten solcher Beschwerden sofort bekanntzugeben. Ein "Versehen" in dieser Hinsicht wäre nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes aber nur dann anzunehmen, wenn die Folge eines Glaukomanfalls auf eine Homatropineinträuflung nicht so selten ist, daß mit ihr nach klinischen Erfahrungen nicht gerechnet zu werden braucht. Es fehlt an einem Kausalzusammenhang im Sinne adäquater Verursachung dann, wenn die Möglichkeit einer Schädigung durch Unterlassung einer entsprechenden Anleitung so entfernt wäre, daß nach den Erfahrungen des Lebens vernünftigerweise eine solche Schädigung nicht in Betracht gezogen zu werden brauchte. Den vorliegenden Rechtsfall nach dieser Richtung zu beurteilen, ist aber wegen des Mangels entsprechender Feststellungen nicht möglich. Zwar hat einer der in erster Instanz zu Wort gekommenen Sachverständigen auf eine Frage des Beklagtenvertreters angegeben, daß sich nur auf 1000 Homatropineinträuflungen ein Glaukomanfall einstelle, diese Äußerung weicht aber sehr erheblich von dem Gutachten des anderen Sachverständigen ab. Dieser hat ausgeführt, daß die Verwendung pupillenerweiternder Medikamente, wie Homatropin, mit der Gefahr verbunden sei, ein schleichendes Glaukom zum Ausbruch zu bringen. Solche Fälle seien allen Augenärzten bekannt, und es werde auch in den Vorlesungen für Augenheilkunde auf diese Fälle ganz besonders hingewiesen, so daß jeder Arzt an eine solche Komplikation denken müsse, wenn er ein pupillenerweiterndes Mittel verabreiche oder verabreichen lasse. Da es sich dabei um einen Niederschlag ärztlicher Erfahrungen und nicht um die Wiedergabe von Angaben des Klägers handelt, müßte sich das Gericht mit diesem Teil des Gutachtens auseinandersetzen.
Es kann dem Berufungsgericht auch nicht darin beigepflichtet werden, wenn es die Ansicht vertritt, es komme die Unterlassung einer Beobachtung des Patienten nach der Homatropineinträuflung deshalb nicht als Verschulden in Betracht, weil damit gerechnet werden konnte, es werde der Kläger noch am selben Tag von einem Augenfacharzt der Augenklinik untersucht werden. War damit zu rechnen, so ist wohl anzunehmen, daß entweder eine interne Vorschrift oder doch eine Übung besteht, mit Homatropin behandelte Patienten noch am selben Tag augenärztlich untersuchen zu lassen. Wenn - und für die Vornahme einer solchen Untersuchung noch am selben Tag wäre die beklagte Partei beweispflichtig - entgegen einer Vorschrift oder in Abweichung von einer bestehenden Übung die Untersuchung unterlassen worden wäre, so würde dies unter Umständen, wenn die Organe der Nervenklinik ihrerseits das Erforderliche getan hätten, diese Organe entlasten, nicht aber die beklagte Partei, weil diese ebenso für Fehler der einen wie der anderen Abteilung haften müßte.
Der Oberste Gerichtshof findet von seinem Rechtsstandpunkt aus die Sache wegen vorliegender Feststellungsmängel noch nicht spruchreif. Da diese Mängel schon dem Ersturteil anhaften, waren beide Urteile gemäß § 510 ZPO. zu beheben.
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