Normen
ABGB §1294
ABGB §1295
ABGB §1297
ABGB §1304
Straßenpolizeiordnung §7
ABGB §1294
ABGB §1295
ABGB §1297
ABGB §1304
Straßenpolizeiordnung §7
Spruch:
Die verspätete Reaktion des Lenkers kann ihm nicht zur Last gelegt werden, wenn der Verletzte durch mehrere Verstöße gegen die Verkehrsvorschriften die Gefahrenlage geschaffen hat. Eine rückschauende Betrachtung, die nicht die Notwendigkeit berücksichtigt, in Sekundenbruchteilen folgenschwere Entscheidungen zu treffen, würde der Sachlage nicht gerecht.
Entscheidung vom 26. Oktober 1955, 2 Ob 604/55.
I. Instanz: Kreisgericht Leoben; II. Instanz: Oberlandesgericht Graz.
Text
Am 23. August 1954 gegen 15 Uhr 40 stieß der auf einem Motorrade auf der M.-Bundesstraße von K. in Richtung T. fahrende Kläger im Bereiche der rechts von der Straße befindlichen O-Busschleife R. mit einem aus dieser herausfahrenden Obus zusammen. Der Kläger erlitt bei diesem Unfall schwere Verletzungen. Der Erstbeklagte ist der Lenker, die zweitbeklagte Partei Halterin dieses Obus. Der Kläger begehrt unter Anerkennung eines Mitverschuldens von einem Drittel von den beiden Beklagten zur ungeteilten Hand den um ein Drittel verkürzten Schadenersatzbetrag von 29.290 S 56 g und eine monatliche Rente in dem um ein Drittel verminderten Betrag von 133 S 35 g.
Das Erstgericht stellte fest, daß der (verminderte) Anspruch des Klägers dem Gründe nach zur Hälfte zu Recht und zur Hälfte nicht zu Recht bestehe. Es nahm als erwiesen an, daß ein auf der Bundesstraße aus Richtung K. kommender Fahrzeuglenker etwa 70 Schritte vor der Unfallstelle die Bundesstraße in ihrer ganzen Breite bis zur Unfallstelle und die O-Busschleife zu zwei Dritteln ihrer Ausbildung habe einsehen können. Die O-Busschleife stelle eine öffentliche Verkehrsfläche dar, weil sie, obwohl auf privatem Grund befindlich, für die allgemeine Verkehrslage ausgebaut worden sei, allgemein benützt werde und kleinere Erhaltungen des Straßenstückes von der Gemeinde K. besorgt würden. Eine Vorrangsregelung bestehe an der Unfallstelle nicht. Der Kläger habe sich der O-Busschleife mit einer Stundengeschwindigkeit von 45 km genähert. Der Lenker des Obus habe, als sich dieser mit dem Vorderteil etwa in der Mitte der Bundesstraße befunden habe, bemerkt, daß der noch etwa 30 m entfernte Motorradfahrer nach links abbiege. Der Kläger sei an dem Vorderteil des Obus noch vorbeigekommen, habe aber mit dem rechten Fuß die Stoßstange des Obus und mit dem Lenkerende dessen rechten Scheinwerfer gestreift. Nach diesem Zeitpunkte sei der Obus noch eine kleine Wegstrecke gefahren, um schließlich in einer Schrägstellung in Richtung K. zum Stillstand zu kommen. Der Kläger habe vor dem Unfall eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten, und es sei ihm auch zur Last zu legen, daß er in dem Zeitpunkte, in dem er den Obus habe erblicken können, diese Geschwindigkeit nicht vermindert habe. Das unzulässige Abbiegen nach links habe sich aus der Zwangslage der überhöhten Geschwindigkeit ergeben. Für den Erstbeklagten habe sich, als er das Ausweichen des Klägers nach links bemerkt habe, eine ungeklärte Verkehrslage ergeben. Bei Zubilligung einer Reaktionszeit von einer halben Sekunde hätte er auf einer Wegstrecke von ungefähr einem Meter anhalten können, sodaß der Kläger am Vorderteil des Obus noch ohne Anstreifen hätte vorbeifahren können. In dieser nicht rechtzeitigen Reaktion des Erstbeklagten liege dessen Verschulden. Da es dem ordentlichen Betrieb an der Unfallstelle entspreche, wenn der Verkehr an der Schleife dahin geregelt würde, daß der Bundesstraße der Vorrang eingeräumt werde, hätte der Erstbeklagte den Straßenverkehr bei der Ausfahrt genau beachten müssen. Ihm sei ein Drittel des Mitverschuldens an dem Unfall anzulasten.
Das Berufungsgericht stellte fest, daß der eingeklagte Anspruch mit einem Viertel zu Recht und mit drei Vierteln nicht zu Recht bestehe. Die Feststellung des Erstgerichtes, daß der Erstbeklagte nach seiner eigenen Parteienaussage die Ausweichbewegungen des Klägers schon auf eine Entfernung von 30 m wahrgenommen habe, sei unrichtig, weil diese Entfernung mit 30 Schritten, somit mit 22 m, anzunehmen sei. Der Erstbeklagte sei in dem Zeitpunkt, als er diese Ausweichbewegungen bemerkt habe, mit dem von ihm gelenkten Obus so weit in die Straße hineingefahren, daß dessen vordere Begrenzung sich etwa in der Straßenmitte befunden habe. Er habe dabei eine Geschwindigkeit von 4 km in der Stunde eingehalten. Bei dieser Geschwindigkeit lege der Obus in der Sekunde rund 1 m zurück, während der Kläger, der nach den Feststellungen des Erstgerichtes mit mindestens 40 km/h gefahren sei, in einer Sekunde rund 11 m weitergekommen sei. Eine Schrecksekunde sei dem Erstbeklagten nicht zuzubilligen, weil er in voller Reaktionsbereitschaft aus der O-Busschleife in die Bundesstraße eingebogen sei. Bis zum rechten Straßenrand Richtung K. habe er noch eine Fahrbahn von 3 m vor sich gehabt. Bei Zubilligung einer Reaktionszeit von einer halben Sekunde sei er um einen halben Meter, bei einer solchen von einer Sekunde um einen Meter weitergefahren, bis die erforderlichen Maßnahmen wirksam geworden seien. Es seien ihm daher in dem Augenblicke, in dem er auf jeden Fall schon reaktionsfähig habe sein müssen, noch 2 1/2 oder 2 m der Fahrbahn zur Verfügung gestanden. Bei sofortigem energischem Bremsen hätte er den nur langsam rollenden Obus auf 1 m zum Anhalten bringen können, so daß der Kläger auch bei einem falsch gewählten Ausweichmanöver noch anstandslos hätte vorbeikommen können. Daß der Obus nicht 1 1/2 oder zumindest 1 m vor Erreichung der rechten Fahrbahnbegrenzung angehalten worden sei, habe der Erstbeklagte als Fahrer und die Zweitbeklagte als Halterin des am Unfalle beteiligten Kraftfahrzeuges zu verantworten. Das Verschulden des Erstbeklagten sei allerdings weitaus geringer als das des Klägers. Dieser habe wegen mangelhafter Aufmerksamkeit trotz hinreichender Sicht und trotz Kenntnis der örtlichen Verhältnisse das Ausfahren des Obus nicht beachtet und sei mit einer überhöhten Geschwindigkeit gefahren, so daß er die ihm zukommende rechte Fahrbahnseite verlassen und sich auf die linke Straßenseite habe begeben müssen, weil ein Ausweichmanöver in derartigen Fällen rascher eingeleitet werden könne als das Abbremsen des Fahrzeuges. Außerdem hätte er, da der Verkehr an der Einmundung der Umkehrschleife nicht besonders geregelt sei, dem von rechts kommenden Obus den Vorrang überlassen müssen. Der Erstbeklagte habe daher nur einen Verschuldensanteil von einem Sechstel zu verantworten.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Parteien Folge und änderte die Urteile der Untergerichte dahin ab, daß der Anspruch der klagenden Partei als nicht zu Recht bestehend festgestellt und das Schadenersatzbegehren des Klägers abgewiesen wurde.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Den Beklagten ist zuzugeben, daß der Kläger nach den Feststellungen der Unterinstanzen an den Obus angestreift ist, bevor sich dieser in der Endstellung befunden hat. Wenn der Obus erst im Zeitpunkt des Anstreifens des Motorrades zum Stillstand gebracht werden konnte, so könnte dem Erstbeklagten nur dann ein Verschulden zugerechnet werden, wenn erwiesen wäre, daß der Unfall hätte vermieden werden können, wenn das Motorrad nur mit dem stehenden Obus in Berührung gekommen wäre, oder wenn die Unfallsfolgen beim Anstreifen an den stehenden Obus geringer gewesen wären. Es fehlt aber die Feststellung, in welcher Entfernung vom linken Straßenrande sich das Motorrad im Zeitpunkte des Zusammenstoßes bewegt hat. Das Berufungsgericht hat die erstrichterliche Beweiswürdigung mit Ausnahme der erwähnten Richtigstellung der Entfernung von 30 m auf 22 m übernommen. Seine Annahme, daß sich der Kläger der Unfallstelle nur mit einer Geschwindigkeit von 11 m in der Sekunde genähert hat, steht mit den erstgerichtlichen Feststellungen im Widerspruch, weil das Erstgericht ausdrücklich feststellt, daß er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h um 5 km überschritten hatte, daß Bremsspuren des Motorrades nicht festgestellt werden konnten und daß der Kläger nur mehr den Ausweichvorgang habe einleiten können. Geht man aber von einer Stundengeschwindigkeit von 45 km aus, so legte der Kläger knapp vor dem Unfall in der Sekunde 12 1/2 m zurück, sodaß er für die 22 m bis zur Unfallstelle von dem Zeitpunkte, als der Erstbeklagte das Abweichen nach links bemerkte, nur mehr 1 3/4 Sekunden benötigte. Von diesem Zeitpunkte kommt die vom Berufungsgericht noch als vertretbar angesehene Reaktionszeit von einer Sekunde in Abrechnung, sodaß der Obus vor Ablauf der nächsten Sekunde nicht zum Stillstand hätte kommen können. Es liegt daher die Annahme nahe, daß es vom Erstbeklagten überhaupt nicht zu vermeiden war, daß sich der Obus an der Unfallstelle noch in Bewegung befand. Zu beachten ist auch, daß das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, daß sich die vordere Begrenzung des Obus in dem Zeitpunkte, als der Erstbeklagte das Ausweichmanöver des Klägers bemerkte, etwa in der Straßenmitte befunden habe. Da es sich im vorliegenden Falle bei der Beurteilung des Verschuldens des Erstbeklagten um Bruchteile von Metern und Sekunden handelt, muß es von vorneherein als zweifelhaft erscheinen, ob der Unfall durch rechtzeitige Abwehrmaßnahmen des Erstbeklagten hätte vermieden werden können.
Das Revisionsgericht erachtet jedoch aus rechtlichen Gründen nähere tatsächliche Feststellungen in den angeführten Punkten nicht für erforderlich. Es muß davon ausgegangen werden, daß dem Erstbeklagten in dem Zeitpunkt, als er die Gefahr eines Zusammenstoßes erkannte, selbst nach der Annahme des Berufungsgerichtes nur mehr ein Zeitraum von zwei Sekunden zur Verfügung stand. Es kann eine Überspannung der Sorgfaltspflicht bedeuten, einem Kraftfahrer als Fahrlässigkeit anzurechnen, daß er bei einer ohne sein Verschulden plötzlich auftretenden Gefahrenlage, die sofortiges Handeln verlangt, nicht das richtige Mittel zur Vermeidung der Gefahr ergriffen hat. Der Zeitverbrauch vom Sichtbarwerden eines Hindernisses bis zum Stillstand des Fahrzeuges umfaßt nicht nur die Wirkungszeit, den Zeitraum, während dessen die volle Bremstätigkeit erfolgt, sondern auch die Bremsbetätigungszeit, den Zeitraum, der nötig ist, die Bremseinrichtung zur vollen Wirkung zu bringen, die Reaktionszeit, den Zeitraum zwischen der Möglichkeit der Wahrnehmung eines Geschehnisses und der Verwirklichung des folgerichtigen Entschlusses, und unter Umständen auch die Schreckzeit, die Vergrößerung der Reaktionszeit durch Überraschung oder Mangel an gehöriger Aufmerksamkeit. Ob eine Schreckzeit zuzubilligen ist, hängt von der Möglichkeit des Führers ab, sich seelisch von der bisherigen Tätigkeit auf die neu aufgetretene Gefahrenlage umzustellen (Müller, Straßenverkehrsrecht, 18. Aufl. S. 778/779). Die im entscheidenden Augenblick zur Verfügung stehende, nur kurze Überlegungsfrist kann zwar nicht entschuldigen, wenn sich der Führer durch unvorsichtiges Fahren selbst in die Zwangslage versetzt hat. Dies trifft jedoch für den Erstbeklagten im vorliegenden Falle nicht zu. Das Berufungsgericht will dem Erstbeklagten eine Schrecksekunde deshalb nicht zubilligen, weil er mit der erforderlichen Reaktionsbereitschaft aus der O-Busschleife herausfahren mußte. Der Erstbeklagte hatte sich sicherlich darauf einzustellen, daß Fahrzeuge aus der Richtung K. ihm entgegenkämen, nicht aber darauf, daß ein entgegenkommendes Fahrzeug plötzlich nach links auf die unrichtige Straßenhälfte abweichen werde. Auf alle nach der Verkehrslage denkbaren Verstöße gegen die Fahrvorschriften konnte der Erstbeklagte überhaupt nicht gefaßt sein. Es besteht kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß der Erstbeklagte nicht mit der erforderlichen Aufmerksamkeit aus der O-Busschleife herausgefahren wäre, hat er doch den Obus knapp nach dem Anstreifen zum Stillstand bringen können. Nach den Feststellungen der Untergerichte stand dem Erstbeklagten als dem von rechts kommenden Fahrer der Vorrang zu. Wenn seine Reaktion, wie das Berufungsgericht annahm, verspätet erfolgte, so kann ihm dies nicht zur Last gelegt werden, weil der Kläger durch mehrere Verstöße gegen die Verkehrsvorschriften die Gefahrenlage geschaffen hat. Da die Zeitspanne, die dem Erstbeklagten für seine Gegenmaßnahmen zur Verfügung stand, sehr gering war, kann auch nicht gesagt werden, daß ein Mangel an Geistesgegenwart der Ausfluß seiner mangelnden Befähigung zur Führung eines Obus wäre.
Eine rückschauende Betrachtung, die nicht die Notwendigkeit berücksichtigt, in Sekundenbruchteilen folgenschwere Entscheidungen zu treffen, würde der Sachlage nicht gerecht werden.
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