OGH 2Ob40/88

OGH2Ob40/8830.8.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Vogel, Dr. Melber, Dr. Kropfitsch und Dr. Niederreiter als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Sophie K***, Pensionistin, 8422 St. Nikolai ob Draßling 149, vertreten durch Dr. Heinz Pratter, Rechtsanwalt in Leibnitz, wider die beklagten Parteien 1) Wilhelm P***, Kraftfahrer, 8421 Wolfsberg/Schwarzautal 115, 2) Firma Hans W***, Autobusunternehmung, Baldau 13, 8413 St. Georgen/Stiefing, und

3) I*** U***- UND S***-AG, p.Adr. Am Eisernen Tor 3, 8010 Graz, alle vertreten durch Dr. Gottfried Eisenberger und Dr. Jörg Herzog, Rechtsanwälte in Graz, wegen S 414.096,20 sA und Feststellung (S 61.000,--), Revisionsstreitwert S 142.491,67 hinsichtlich der klagenden Partei und S 165.316,66

hinsichtlich der erstbeklagten Partei bzw. S 36.245,83 hinsichtlich der zweit- und drittbeklagten Partei, infolge Revision der klagenden Partei und der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 12. Jänner 1988, GZ 5 R 240/87-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei und der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 3. August 1987, GZ 11 Cg 46/87-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision der beklagten Parteien wird nicht, der der klagenden Partei teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Umfang des Abspruches über das Feststellungsbegehren bestätigt. Im Umfang des Abspruches über das Leistungsbegehren werden sie dahin abgeändert, daß die Entscheidung in diesem Umfang wie folgt zu lauten hat:

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 137.649,99 samt 4 % Zinsen seit 28. Mai 1986 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen. Das Mehrbegehren der klagenden Partei auf Zahlung eines weiteren Betrages von S 276.451,21 samt 4 % Zinsen aus S 414.096,20 vom 20. August 1985 bis 27. Mai 1986 und aus S 276.451,21 seit 28. Mai 1986 wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien an Kosten des Verfahrens in erster Instanz den Betrag von S 18.369,98 (darin Barauslagen von S 3.360,-- und Umsatzsteuer von S 1.364,54) und an Kosten des Revisionsverfahrens den Betrag von S 3.866,-- (darin Umsatzsteuer von S 351,45, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegenseitig aufgehoben.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 12. November 1984 ereignete sich gegen 14 Uhr im Bereich der Autobushaltestelle vor der Volksschule Wolfsberg im Schwarzautal ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fußgängerin und der Erstbeklagte als Lenker des Omnibusses mit dem Kennzeichen St 20.581 beteiligt waren. Der Zweitbeklagte ist der Halter, die Drittbeklagte der Haftpflichtversicherer dieses Kraftfahrzeuges. Der linke Fuß der Klägerin wurde von einem Rad des Omnibusses überfahren; die Klägerin wurde dabei schwer verletzt. Wegen dieses Verkehrsunfalles wurde gegen die Klägerin und den Erstbeklagten zu U 381/84 des Bezirksgerichtes Wildon ein Strafverfahren eingeleitet. Gegen die Klägerin wurde es gemäß § 90 StPO eingestellt; der Erstbeklagte wurde rechtskräftig gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte die Klägerin mit ihrer am 28. Mai 1986 eingebrachten Klage aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 414.096,20 samt 4 % Zinsen seit 20. August 1985; überdies stellte sie ein auf Feststellung der Haftung der Beklagten zur ungeteilten Hand (der Drittbeklagten im Rahmen des Haftpflichtversicherungsvertrages) für 50 % ihrer künftigen Unfallschäden gerichtetes Feststellungsbegehren.

Dem Grunde nach stützte die Klägerin ihr Begehren im wesentlichen darauf, daß sie zwar selbst ein mit 50 % zu bewertendes Mitverschulden treffe, daß aber dem Erstbeklagten ein gleichfalls mit 50 % zu bewertendes Verschulden an diesem Verkehrsunfall anzulasten sei. Die Klägerin habe an der Haltestelle in den vom Erstbeklagten gelenkten Omnibus umsteigen wollen und habe das noch stehende Fahrzeug zu einem Zeitpunkt erreicht, als die vorderen Türen gerade geschlossen worden seien. Die Klägerin habe an die Glasscheiben der Türen geklopft, doch habe sie der Erstbeklagte nicht bemerkt, insbesondere deshalb, weil der Aufgang des Einstieges noch durch Fahrgäste verstellt gewesen sei. Unmittelbar darauf sei der Erstbeklagte losgefahren. Er habe auf Grund der örtlichen Gegebenheiten scharf nach rechts einschlagen müssen und dabei sei der linke Fuß der Klägerin überrollt worden. Der Erstbeklagte hätte bei gehöriger Aufmerksamkeit und wenn er seiner Verpflichtung, den Aufstieg zur vorderen Eingangstür freizuhalten, entsprochen hätte, die Klägerin sehen müssen.

Das Leistungsbegehren der Klägerin umfaßt neben anderen nicht mehr strittigen Beträgen einen Betrag von S 400.000,-- aus dem Titel des Schmerzengeldes. Dieses Begehren begründete die Klägerin im wesentlichen damit, daß die ihr zugefügten Verletzungen ein Schmerzengeld von (ungekürzt) S 800.000,-- rechtfertigten; im Hinblick auf die vorzunehmende gleichteilige Verschuldensteilung hätten ihr die Beklagten die Hälfte dieses Betrages zu bezahlen. Den Beginn des Zinsenlaufes mit 20. August 1985 begründete die Klägerin damit, daß die Beklagten mit Schreiben des Klagevertreters vom 2. August 1985 zu einer Akontoleistung aufgefordert worden seien, jedoch mit Schreiben vom 20. August 1985 jegliche Ersatzleistung abgelehnt hätten.

Die Beklagten wendeten dem Grunde nach im wesentlichen ein, daß die Klägerin das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalles treffe. Der Erstbeklagte habe jede mögliche Sorgfalt angewendet; der Unfall sei für ihn ein unabwendbares Ereignis gewesen. Der Erstbeklagte habe über den rechten Außenspiegel eine einwandfreie Beobachtungsmöglichkeit nach hinten gehabt; er hätte die Klägerin auch bei vollkommen freier Sicht durch die Einstiegstür nicht sehen können. Die Klägerin habe ihren Einstiegsversuch außerhalb der Haltestelle unternommen. Der Erstbeklagte habe nach dem Anfahren des Omnibusses nicht mehr damit rechnen müssen, daß sich eine Person dem Fahrzeug nähere, die trotz geschlossener Eingangstür versuche, in das bereits in Bewegung befindliche Fahrzeug einzusteigen. Das von der Klägerin verlangte Schmerzengeld sei überhöht. Verzugszinsen könnten erst ab Fälligstellung verlangt werden, die vor Klagseinbringung nicht erfolgt sei.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 104.316,66 samt 4 % Zinsen seit 28. Mai 1986; das auf Zahlung eines weiteren Betrages von S 309.779,50 samt 4 % Zinsen seit 20. August 1985 und 4 % Zinsen aus S 104.316,66 seit 20. August 1985 (richtig bis 27. Mai 1986) gerichtete Mehrbegehren wies es ab. Dem Feststellungsbegehren der Klägerin gab das Erstgericht in Ansehung eines Drittels ihrer künftigen Schäden aus diesem Verkehrsunfall statt; das Feststellungsmehrbegehren wies es ab. Den gegen diese Entscheidung des Erstgerichtes gerichteten Berufungen beider Streitteile gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil keine Folge. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschieden hat, zusammen mit dem in einem Geldbetrag bestehenden Teil insgesamt S 300.000,-- übersteigt. Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richten sich die Revisionen beider Streitteile. Die Klägerin bekämpft sie im Umfang der Abweisung ihres Leistungsbegehrens mit einem Betrag von S 122.158,34, der Abweisung ihres Zinsenbegehrens für die Zeit vom 20. August 1985 bis 27. Mai 1986 und der Abweisung ihres Feststellungsbegehrens aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß ihr ein weiterer Betrag von S 122.158,34 samt 4 % Zinsen vom insgesamt zugesprochenen Betrag seit 20. August 1985 zugesprochen und ihrem Feststellungsbegehren vollinhaltlich stattgegeben werde; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. Die Beklagten bekämpfen die Entscheidung des Berufungsgerichtes insoweit, als dem gegen den Erstbeklagten gerichteten Klagebegehren stattgegeben wurde und der Zweit- und die Drittbeklagte zur Zahlung eines S 78.237,50 sA übersteigenden Betrages verurteilt wurden und dem gegen sie gerichteten Feststellungsbegehren in Ansehung von mehr als einem Viertel der künftigen Schäden der Klägerin stattgegeben wurde, aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das gegen den Erstbeklagten gerichtete Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde und daß das gegen den Zweit- und die Drittbeklagte gerichtete Leistungsbegehren, soweit es den Betrag von S 78.237,50 samt 4 % Zinsen seit 28. Mai 1986 übersteigt, sowie das gegen diese Beklagten gerichtete Feststellungsbegehren, soweit es über die Feststellung der Haftung dieser Beklagten für ein Viertel der künftigen Schäden der Klägerin, begrenzt durch die Haftungshöchstbeträge des EKHG, hinausgeht, abgewiesen werde; hilfsweise stellen auch sie einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagten haben eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, der Revision der Klägerin keine Folge zu geben. Die Klägerin hat keine Revisionsbeantwortung erstattet. Beide Revisionen sind im Hinblick auf die Höhe des Streitgegenstandes, über den das Berufungsgericht entschieden hat, ohne die im § 503 Abs 2 ZPO normierte Einschränkung der Revisionsgründe zulässig. Sachlich ist die Revision der Klägerin teilweise, die der Beklagten nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der im Rechtsmittel der Beklagten geltend gemachte Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die Vorinstanzen gingen, soweit für die im Revisionsverfahren noch strittigen Rechtsfragen (Schadensteilung, Höhe des Schmerzengeldes der Klägerin) von Bedeutung, im wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Die Unfallstelle liegt im Bereich der Autobushaltestelle der Zweitbeklagten im Ortsgebiet von Wolfsberg im Schwarzautal. Die Haltestellenbucht befindet sich nördlich der Landesstraße 616; sie hat ursprünglich eines Breite von 6,4 m und verjüngt sich bei der Ausfahrt auf 5 m. Die Ausfahrt mündet mit einem Trichter von 6 m Breite in einem Winkel von 90 Grad in die Landesstraße. Im Ausfahrtstrichter befindet sich das Verkehrszeichen "Vorrang geben". Der gesamte Unfallsbereich ist übersichtlich.

Am Unfallstag beabsichtigten die Klägerin und eine Anzahl von Schülern, die mit einem anderen Omnibus zur Haltestelle gekommen waren, in den in der Haltestelle wartenden Omnibus der Zweitbeklagten umzusteigen. Der Omnibus der Zweitbeklagten stand mit der Front etwa in Höhe der Bezugslinie (westliche Begrenzung der Ausfahrt). Dieser Omnibus hat eine Länge von 12 m. Die Mitte der vorderen Doppeleinstiegstür befindet sich 90 cm, das Vorderrad 2,65 m hinter der Wagenfront. Die Klägerin näherte sich als letzte dem Omnibus der Zweitbeklagten. Sie ging vom Gehsteig aus etwa auf der Höhe des Einstiegs zum Einstieg zu. Unmittelbar bevor die Klägerin die Einstiegstür erreichte, wurde diese geschlossen. Die Klägerin klopfte gegen die Einstiegstür. In diesem Moment fuhr der Omnibus los. Der Bereich rechts des Fahrersitzes und die Stufen im Bereich des Einstiegs waren durch Schüler verstellt. Der Erstbeklagte sah die Klägerin nicht und hörte auch nicht ihr Klopfen. Er schloß die Einstiegstür und blickte in den rechten Außenspiegel, konnte darin aber die Klägerin, die sich bereits neben der Einstiegstür befand, nicht wahrnehmen. Die Sicht durch die Einstiegstür war für den Erstbeklagten verstellt. Der Omnibus wurde zunächst ein Stück geradeaus und dann, bedingt durch die Örtlichkeit, scharf nach rechts gelenkt. Die Klägerin bewegte sich ca 2 m mit dem Omnibus mit. Im Zuge der starken Rechtslenkung wurde die Schaufel des linken Fußes der Klägerin vom rechten Vorderrad des Omnibusses überrollt. Der Omnibus legte von der Ausgangsposition bis zum Kontakt mit der Klägerin 3,75 m zurück. Dafür benötigte er 2,5 Sekunden; er hatte im Zeitpunkt des Unfalles eine Geschwindigkeit von über knapp 10 km/h erreicht. Als der Erstbeklagte einen Druck in der Lenkung spürte, bremste er den Omnibus über eine Strecke von 1 m ab. Er erreichte 7,75 m nach dem Anfahren die Endstellung.

Bei diesem Unfall wurde die Klägerin schwer verletzt. Sie erlitt eine Abquetschung und Zertrümmerung des linken Fußes. Dieser mußte knapp vor dem Chopart'schen Gelenk amputiert werden; es mußte eine teno-plastische Stumpfdeckung durchgeführt werden. Die Klägerin war vom 12. November 1984 bis 5. Februar 1985 in stationärer Behandlung im Unfallkrankenhaus Graz und vom 12. März 1985 bis 8. Mai 1985 im Rehabilitationszentrum Tobelbad. Sie erlitt verletzungsbedingt 3 Tage Schmerzen sehr starken bis qualvollen Grades, 18 Tage Schmerzen starken Grades, 45 Tage Schmerzen mittleren Grades und 120 Tagen Schmerzen leichten Grades. Auch künftig sind kurzfristig mittelgradige und häufiger intermittierende leichtgradige Schmerzen zu erwarten. Die Klägerin muß einen orthopädischen Schuh tragen. Außerhalb des Hauses bedarf sie einer Krücke als Gehhilfe, bei unebenem Boden zweier Krücken. Es ist nicht auszuschließen, daß später operative Maßnahmen infolge einer vorzeitigen Arthrose notwendig sind.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß das Verhalten der Klägerin, die sich über eine Strecke von 2 m mit dem bereits fahrenden Omnibus mitbewegt habe, die primäre Unfallsursache darstelle. Der Erstbeklagte habe entgegen der Vorschrift des § 102 Abs 2 KFG nicht dafür Sorge getragen, daß sein Blickfeld durch die rechte Seitentür freigehalten werde. Die Beobachtungsmöglichkeit durch den rechten Außenspiegel sei für den Erstbeklagten ungenügend gewesen. Die Klägerin habe sich beim Anfahren des Omnibusses bereits neben der vorderen Eingangstür befunden; dieser Bereich sei über den Außenspiegel nicht einsehbar gewesen. Der Erstbeklagte wäre daher verpflichtet gewesen, sich freie Sicht durch die Einstiegstür zu verschaffen; dabei hätte er die Klägerin sehen und den Unfall vermeiden können. Unter diesen Umständen sei eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Klägerin gerechtfertigt.

Das der Klägerin auf Grund der festgestellten Verletzungen und ihrer Folgen gebührende Schmerzengeld sei mit (ungekürzt) S 300.000,-- zu bemessen.

Schadenersatzforderungen würden erst fällig, wenn sie der Geschädigte dem Schädiger gegenüber ziffernmäßig bestimme, also einmahne. Dies sei erst mit Einbringung der Klage am 28. Mai 1986 geschehen.

Das Berufungsgericht führte rechtlich im wesentlichen aus, die Verpflichtung eines jeden Kraftfahrers, während seiner Fahrt die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite einschließlich der beiden Fahrbahnränder und etwa anschließender Verkehrsflächen im Auge zu behalten, werde aus der Bestimmung des § 20 Abs 1 StVO abgeleitet. Diese Aufmerksamkeit müsse auch beim Anfahren angewendet werden, zumal § 1299 ABGB, welche Bestimmung auch für einen Kraftfahrzeuglenker zu gelten habe, gegenüber der Vorschrift des § 1297 ABGB den anzuwendenden objektiven Sorgfaltsmaßstab anhebe. In diesem Zusammenhang sei auch die Bestimmung des § 102 Abs 2 KFG von Bedeutung, die den Lenker verpflichte, dafür zu sorgen, daß die Sicht vom Lenkersitz aus für das sichere Lenken des Fahrzeuges ausreiche; wenn er dieser Verpflichtung wie hier nicht nachgekommen sei und deshalb beim Anfahren und Einbiegen im Gefahrenbereich befindliche Personen nicht sehen habe können, so sei ihm dieses Fehlverhaltes als Verschulden zuzurechnen. Daß nach dem Schließen der Türen noch Fahrgäste Einlaß begehrten, sei bei einem öffentlichen Verkehrsmittel kein ganz ungewÄhnliches Ereignis. Die vom Erstgericht den Streitteilen zugemessenen Verschuldensanteile würden den jeweiligen Verschuldenskomponenten durchaus gerecht; das Verhalten der Klägerin habe deutlich mehr zur Schaffung der gefährlichen und zum Unfall führenden Situation beigetragen.

Auch die Bemessung des Schmerzengeldes durch das Erstgericht sei zu billigen.

Eine Schadenersatzforderung werde erst fällig, wenn sie der Geschädigte dem Schädiger gegenüber ziffernmäßig bestimmt geltend gemacht habe. Da nach dem Vorbringen der Klägerin wegen der grundsätzlichen Ablehnung von Schadenersatzleistungen seitens der Drittbeklagten eine ziffernmäßig bestimmte Einmahnung des Schadens der Klägerin vor Klagseinbringung nicht erfolgt sei, habe das Erstgericht zu Recht Zinsen von einem davorliegenden Zeitpunkt nicht zugesprochen.

I) Zur Frage der Schadensteilung:

Hier ist zweckmäßigerweise zu beiden Rechtsmitteln gleichzeitig Stellung zu nehmen.

Die Klägerin versucht in ihrer Rechtsrüge darzutun, daß bei ihrer Meinung nach richtiger rechtlicher Beurteilung ihrem Fehlverhalten und dem des Erstbeklagten gleiches Gewicht beizumessen und demgemäß mit einer Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1

vorzugehen sei. Demgegenüber stellen sich die Beklagten in ihrer Rechtsrüge auf den Standpunkt, daß den Erstbeklagten kein Verschulden an dem hier zu beurteilenden Verkehrsunfall treffe und daß daher das gegen ihn gerichtete Klagebegehren abzuweisen sei. Der Zweit- und die Drittbeklagte hätten zwar den Entlastungsbeweis im Sinne des § 9 EKHG nicht erbracht, doch rechtfertige dies im Hinblick auf das schwerwiegende Fehlverhalten der Klägerin nur die Haftung des Zweit- und der der Drittbeklagten für ein Viertel des Unfallschäden der Klägerin, beschränkt mit den Haftungshöchstbeträgen nach dem EKHG.

Beidem kann nicht gefolgt werden.

Gemäß § 102 Abs 2 KFG hat der Lenker unter anderem dafür zu sorgen, daß die Sicht vom Lenkerplatz aus für das sichere Lenken des Fahrzeuges ausreicht. Wenn der Erstbeklagte nach den getroffenen Feststellungen beim Anfahren mit dem von ihm gelenkten Omnibus einen Bereich befuhr, den er weder durch die Frontscheibe des Fahrzeuges noch durch den rechten Außenrückspiegel einsehen konnte, nämlich den Bereich unmittelbar neben der rechten vorderen Einstiegstür, den er nur durch die Scheiben der Einstiegstür einsehen hätte können, dann kann keinesfalls gesagt werden, daß die Sicht des Erstbeklagten durch Frontscheibe und Außenrückspiegel für das sichere Lenken seines Fahrzeuges ausreichte, zumal es gerade bei einem Omnibus im Linienverkehr durchaus nicht selten vorkommt, daß sich auch noch nach Schließen der Einstiegstür verspätete Fahrgäste dieser von außen nähern. Wenn unter diesen Umständen der Erstbeklagte nichts unternahm, um die Fahrgäste, die ihm die Sicht durch die Einstiegstür verstellten, in solcher Weise in dem von ihm gelenkten Omnibus unterzubringen, daß sie seine Sicht nicht behinderten, hat er damit die als Schutznorm im Sinne des § 1311 ABGB anzusehende eingangs wiedergegebene Vorschrift des § 102 Abs 2 KFG übertreten. Daß der Schaden in gleicher Weise auch ohne Übertretung dieser Schutznorm durch den Erstbeklagten eingetreten wäre, ist nicht erwiesen. Mit Recht haben daher die Vorinstanzen dem Erstbeklagten ein Verschulden an dem hier zu beurteilenden Verkehrsunfall angelastet.

Daß das festgestellte Verhalten der Klägerin ihren aus § 76 StVO abzuleitenden Pflichten als Fußgängerin in grober Weise widersprach, bedarf keiner weiteren Erörterung.

Es ist auch kein Rechtsirrtum darin zu erblicken, daß die Vorinstanzen dem Fehlverhalten der Klägerin erheblich höheres Gewicht zuerkannten als dem des Erstbeklagten und demgemäß zu einer Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Klägerin gelangten. Es mag ihr durchaus zugebilligt werden, auch noch nach dem Schließen der Einstiegstür des Omnibusses bei stehendem Fahrzeug einen Versuch zu unternehmen, Zutritt zu diesem Verkehrsmittel zu erlangen. Wenn sie aber auch noch nach dem Anfahren des Omnibusses neben diesen herlief, so liegt darin ein in höchster Weise sorgloses Verhalten, zumal sie damit rechnen mußte, daß der Omnibuslenker bei den gegebenen örtlichen Verhältnissen scharf nach rechts lenken werde, wodurch die eminente Gefahr bestand, daß sie in den Bereich des rechten Vorderrades kommen konnte. Unter diesen im vorliegenden Fall gegebenen Umständen ist die von den Vorinstanzen vorgenommene Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Klägerin durchaus zu billigen.

II) Zur Höhe des Schmerzengeldanspruches der Klägerin:

Hier versucht die Klägerin in ihrer Rechtsrüge darzutun, daß die ihr zugefügten Verletzungen und ihre Folgen die Bemessung ihres Schmerzengeldes mit (ungekürzt) S 440.000,-- rechtfertigten. Den diesbezüglichen Ausführungen der Klägerin kann teilweise Berechtigung nicht abgesprochen werden.

Es ist nicht zu übersehen, daß die der Klägerin zugefügte Verletzung an sich schwer war und zu erheblichen und langdauernden Schmerzen aller Grade führte. Der linke Fuß der Klägerin mußte teilweise amputiert werden; der Heilungsverlauf war durchaus nicht komplikationsfrei. Insbesondere aber ist diese Verletzung mit doch sehr schwerwiegenden Dauerfolgen verbunden; die Klägerin kann sich etwa außer Haus nur mehr mit Hilfe von Krücken fortbewegen. Damit ist sie durch die Verletzungsfolgen in so hohem Maß körperlich beeinträchtigt, daß dem mit der Bemessung des Schmerzengeldes mit (ungekürzt) S 300.000,-- nicht ausreichend Rechnung getragen erscheint. Der erkennende Senat hält vielmehr im Hinblick auf die im vorliegenden Fall erhobenen Umstände ein Schmerzengeld von (ungekürzt) S 400.000,-- für angemessen.

III) Zum Beginn des Zinsenlaufes:

Der Anspruch auf Verzugszinsen aus einer Schadenersatzforderung entsteht erst mit der Einforderung (Einmahnung) eines ziffernmäßigen Schadens durch den Geschädigten (SZ 41/79; ZVR 1982/137; ZVR 1982/142 uva). Daß im vorliegenden Fall eine solche durch die Klägerin vor Klagseinbringung erfolgt wäre, wird von ihr nicht behauptet. Mit Recht haben daher die Vorinstanzen den Zuspruch gesetzlicher Verzugszinsen vor Klagseinbringung abgelehnt. Zusammenfassend ergibt sich somit, daß der Revision der Beklagten keine Berechtigung zukommt. Die Revision der Klägerin ist insoweit unberechtigt, als sie sich gegen die von den Vorinstanzen vorgenommene Schadensteilung und die Ablehnung des Zuspruches gesetzlicher Verzugszinsen für einen Zeitraum vor Klagseinbringung richtet. Hingegen ist sie in Ansehung der Höhe des Schmerzengeldes teilweise berechtigt. Die Urteile der Vorinstanzen waren daher im Umfang der Entscheidung über das Feststellungsbegehren zu bestätigen; im Umfang der Entscheidung über das Leistungsbegehren waren sie abzuändern. Der Klägerin gebührt (entsprechend der vorgenommenen Schadensteilung) aus dem Titel des Schmerzengeldes ein Betrag von S 133.333,33 und darüber hinaus ein (nicht strittiger) Betrag von S 4.316,66, insgesamt also ein Betrag von S 137.649,99 sA; ihr Leistungsmehrbegehren ist abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens in erster Instanz beruht auf § 43 Abs 1 ZPO, die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens auf den §§ 43 Abs 1, 50 ZPO.

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