Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil aufgehoben; zugleich wird auch das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache an dieses zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.
Text
Begründung
Am 22. 10. 1997 ereignete sich gegen 15.15 Uhr im Ortsgebiet von Scharnstein ein Verkehrsunfall, an dem die Erstbeklagte als Lenkerin und Halterin eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW und der am 13. 12. 1985 geborene Kläger als Fussgänger beteiligt waren.
Unter Anerkennung eines Mitverschuldens von 50 % begehrt der Kläger die Zahlung von S 101.350 sA (S 100.000 Schmerzengeld, S 600 Kleiderschaden und S 750 unfallskausale Nebenauslagen) sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle künftigen Schäden, hinsichtlich der zweitbeklagten Partei insoweit beschränkt, als sie nur bis zur Höhe der gesetzlichen bzw höheren vertraglichen Haftpflichtversicherungssumme betreffend den mit der Erstbeklagten für deren PKW abgeschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrag hafte. Er brachte dazu vor, es hätten sich nach Schulschluss der - in Fahrtrichtung der Erstbeklagten gesehenen - rechts neben der Fahrbahn gelegenen Hauptschule zahlreiche Kinder auf dem Gehsteig befunden. Außerdem hätten am linken und rechten Fahrbahnrand Fahrzeuge angehalten, um Kinder einsteigen zu lassen. Die Erstbeklagte sei auch im Hinblick auf das vor der späteren Unfallstelle angebrachte Gefahrenzeichen "Achtung Kinder" zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen und hätte damit rechnen müssen, dass aus der Schule kommende Kinder die Fahrbahn der Straße unvorsichtig und eilig überqueren. Bei Einhaltung einer geringen Geschwindigkeit hätte sie noch vor der Überquerungslinie des Klägers anhalten oder zumindest die Geschwindigkeit entscheidend vermindern können. Außerdem hätte sie ein Warnzeichen abgeben müssen.
Die beklagten Parteien wendeten ein, den Kläger treffe das Alleinverschulden an dem Unfall, weil er die einfachsten Verhaltensregeln, welche beim Überqueren einer Straße anzuwenden seien, außer Acht gelassen habe. Einem 12jährigen Schüler sei es ohne weiteres zumutbar, vor dem Überqueren der Fahrbahn den Fahrzeugverkehr ausreichend zu beachten und einen in näherer Entfernung befindlichen Schutzweg zu benützen. Der Unfall stelle für die Erstbeklagte ein unabwendbares Ereignis dar, weil sie in Annäherung an die Hauptschule und die auf dem Gehsteig befindlichen Kinder ihre ohnedies geringe Fahrgeschwindigkeit noch weiter vermindert habe und überdies gleichzeitig etwas weiter nach links gefahren sei. Der Kläger habe sich aus einer Schülergruppe völlig unvermittelt gelöst und sei ohne Beachtung des Fahrzeugverkehrs auf die Fahrbahn gelaufen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen wurden:
Die Fahrbahn der Straße, auf der sich der Unfall ereignet, hat zwischen den Randlinien eine Breite von 6,2 m. In Fahrtrichtung der Erstbeklagten gesehen schließt sich rechts an die Randlinie ein gut 40 cm breiter Streifen bis zur Kante des 2 m breiten Gehsteigs an. Links besteht außerhalb der Randlinie ein Parkstreifen für PKW an den sich ein Gehsteig anschließt. In einer Entfernung von 44 bis 45 m nach der Unfallstelle führt ein Schutzweg über die Straße. Rund 150 m vor der Unfallstelle befindet sich das Verkehrszeichen "Achtung Kinder". Die Straße verläuft im Bereich der Unfallstelle, die sich im Nahbereich einer Hauptschule befindet, auf mehrere 100 m übersichtlich. Die Erstbeklagte hielt in Annäherung an die spätere Unfallstelle eine Geschwindigkeit von ca 40 km/h ein und fuhr mit ihrem 1,64 m breiten PKW im Bereich der Mitte des rechten Fahrstreifens. Auf dem linken Parkstreifen waren mehrere Autos geparkt. Sowohl am rechten als auch am linken Gehsteig waren Kinder unterwegs. Der Kläger ging in einer Gruppe mehrerer Kinder auf dem rechten Gehsteig in Richtung Schutzweg, also in Fahrtrichtung der Erstbeklagten. In einer Entfernung von 44 bis 45 m vor dem Schutzweg sah er am anderen Straßenrand im Bereich des dort befindlichen Parkstreifens den PKW einer Nachbarin und entschloss sich die Straße zu überqueren. Er befand sich etwa in der Mitte bzw im vorderen Teil der Gruppe. Um die Straße zu überqueren scherte er nach links aus, sah zwar kurz nach links und rechts, schickte sich jedoch ungeachtet des sich im unmittelbaren Nahbereich befindlichen PKWs der Erstbeklagten an, die Fahrbahn laufend unter Einhaltung eines Winkels von ca 45 Grad zu überqueren.
Die mit ca 40 km/h fahrende Erstbeklagte bemerkte den Kläger erst, als er schon am Fahrbahnrand angelangt war, wo sie sich bereits fast auf gleicher Höhe mit ihm befand. Sie verlenkte ihr Fahrzeug nach links und bremste, wobei jedoch das Verlenken erst in der Auslaufbewegung des Fahrzeuges zum Tragen kam, weil sich der Anstoß selbst noch während des Ablaufens der Reaktionszeit ereignete.
Der Kläger legte vom Heruntersteigen von der Gehsteigkante bis zum Anstoß 1,2 m zurück, seine gesamte Bewegungsstrecke betrug 1,7 m. Diese Strecke legte er in ca 0,7 Sekunden zurück. Innerhalb dieser Zeitspanne legte die Erstbeklagte eine Wegstrecke von ca 7,8 m zurück. Unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden, einer Bremsschwellzeit von 0,2 Sekunden und einer Bremsverzögerung von 8 m/sec**2 hätte die Erstbeklagte ihr Fahrzeug vor der Überquerungslinie des Klägers nur bei Einhaltung einer Annäherungsgeschwindigkeit von höchstens 20 km/h anhalten können. Bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 25 oder 30 km/h wäre der Anstoss immer noch jeweils innerhalb der Reaktionszeit der Erstbeklagten erfolgt. Auf Grund des etwas späteren Eintreffens des PKW an der Unfallstelle wäre es zu einem Frontalanstoß gekommen. "Solche Stoßgeschwindigkeiten können durchaus zu Brüchen, also Gebeinbrüchen führen".
In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, den beklagten Parteien sei der Entlastungsbeweis im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG gelungen, weil die von der Erstbeklagten eingehaltene Geschwindigkeit deutlich unter der im Ortsgebiet erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gelegen sei und der Kläger in Richtung des Schutzweges gegangen sei, ohne Anstalten zu machen, die Fahrbahn vor diesem zu überqueren. Mit dem verkehrswidrigen Verhalten des Klägers habe die Erstbeklagte nicht zu rechnen brauchen. Die Einhaltung einer deutlich unter 30 km/h gelegenen Fahrgeschwindigkeit würde die an einen Fahrzeuglenker zu stellenden Sorgfaltsanforderungen überspannen.
Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es sprach aus, der Wert des Entscheidungsgegenstandes übersteige insgesamt S 52.000, nicht aber S 260.000, die ordentliche Revision sei zulässig.
In rechtlicher Hinsicht schloss sich das Berufungsgericht der Ansicht des Erstgerichtes, den beklagten Parteien sei der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG gelungen, an. Zwar müsse zur Haftungsbefreiung die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche und zumutbare Sorgfalt eingehalten werden. Die erhöhte Sorgfaltspflicht setze nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlange, dass auch schon vorher vermieden werde, in eine Situation zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen könne. Allerdings dürfe die Sorgfaltspflicht auch nicht überspannt werden, solle eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Erfolgshaftung vermieden werden. Insbesondere habe die Beurteilung der Unabwendbarkeit des Geschehens ex ante und nicht ex post zu erfolgen. Wenngleich gegenüber Kindern jede nur denkbare Vorsicht geboten sei, sei das Gelingen des Entlastungsbeweises im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG auch ihnen gegenüber keineswegs ausgeschlossen. Es komme dabei immer darauf an, ob vom Kfz-Lenker nach den Umständen mit der unbedachten Benützung der Fahrbahn durch ein Kind zu rechnen sei. Da bei der Wahl einer Geschwindigkeit von unter 50 km/h im Ortsgebiet bloß abstrakt mögliche Gefahrenquellen nicht in Rechnung gestellt werden müssten, sei entscheidend, ob für die Erstbeklagte bei äußerster Sorgfalt ein Anhaltspunkt dafür bestanden habe, dass ein Kind ohne Beachtung des Verkehrs über die Fahrbahn laufen könne. Aus den Feststellungen ergebe sich aber keine Grundlage dafür, dass das Verhalten des Klägers von der Erstbeklagten bereits zu einem Zeitpunkt als mögliche Gefahr erkannt werden hätte müssen, als sich dieser auf dem Gehsteig in Richtung Schutzweg bewegt habe. Schließlich habe es sich bei der Kindergruppe auch nicht um Klein- oder gerade schulpflichtig gewordene Kinder gehandelt, sondern um Hauptschüler, von welchen in jedem Fall die Einsicht in die grundsätzlichen Verkehrsregeln zu erwarten sei. Es hätten daher keine konkreten Umstände dafür bestanden, die die Erstbeklagte dazu veranlassen hätten müssen, ihre Annäherungsgeschwindigkeit vorausschauend auf einen Wert von etwa 20 bis 30 km/h zu verringern. Es würde eine Überforderung der zumutbaren Sorgfalt auch eines besonders umsichtigen Kraftfahrers bedeuten, wollte man von ihm verlangen, alleine wegen der ordnungsgemäßen Benützung des Gehsteigs durch eine Schülergruppe seine Fahrgeschwindigkeit auf etwa 20 bis 30 km/h herabzusetzen bzw seine Annäherung bereits durch Hupzeichen anzukündigen. Eine andere Betrachtungsweise würde auch zwangsläufig zu einem völligen Zusammenbrechen vor allem des innerstädtischen Verkehrs auf stark frequentierten Straßen, die von Kindern als Schulweg benützt würden, führen. Da der Anstoß innerhalb der verkürzten Reaktionszeit erfolgt sei, könne eine Gefährdungshaftung der beklagten Parteien auch nicht darauf gegründet werden, dass die Erstbeklagte den Kläger erstmals bewusst wahrgenommen habe, als dieser am Fahrbahnrand angelangt gewesen sei. Damit scheide aber auch die unterlassene Abgabe eines Hupsignals als Sorgfaltsverletzung aus.
Die ordentliche Revision erachtete das Berufungsgericht für zulässig, weil zu den Sorgfaltsanforderungen eines Kraftfahrers bei Annäherung an eine unfällig auf dem Gehsteig gehende Schülergruppe keine höchstgerichtliche Rechtsprechung existiere und dieser Rechtsfrage auch eine über den konkreten Einzelfall hinausgehende rechtserhebliche Bedeutung zukomme.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagten Parteien haben Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel des Klägers nicht Folge zu geben.
Die Revision des Klägers ist zulässig und auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Kläger vertritt in seinem Rechtsmittel die Ansicht, den beklagten Parteien sei der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen. Der Unfall habe sich nach Schulschluss um 15.15 Uhr ereignet, und hätten sämtliche Kinder, die sich auf beiden Gehsteigen befunden hätten, bereits einen langen Schultag hinter sich gehabt. Es sei eine Erfahrungstatsache, dass Kinder nach einem langen Schultag unkonzentriert und unruhig seien und sich daher im Straßenverkehr unberechenbar verhielten. Insbesondere müsse jeder Kraftfahrer damit rechnen, dass dann, wenn sich auf beiden Gehsteigen Kindergruppen befanden und am Fahrbahnrand Fahrzeuge auf sie warteten, sich einzelne Kinder aus diesen Gruppen lösten um die Fahrbahn zu überqueren. Darauf hätte die Erstbeklagte ihr Fahrverhalten einstellen müssen. Insbesondere wäre sie verpflichtet gewesen, ihre Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen und bremsbereit zu fahren. Wenn sie ihre Geschwindigkeit auf nur 30 km/h reduziert hätte, wäre der Kläger möglicherweise nicht so schwer verletzt worden. Alle nicht aufklärbaren Umstände über wesentliche Einzelheiten des Unfallsherganges oder der Unfallsfolgen gingen zu Lasten des Fahrzeughalters. Der Erstbeklagten sei auch vorzuwerfen, kein Warnzeichen abgegeben zu haben. Im Hinblick auf die Unmündigkeit des Klägers sei von einer gleichteiligen Haftung auszugehen.
Hiezu wurde erwogen:
Zur Haftungsbefreiung nach § 9 Abs 2 EKHG reicht es nicht aus, dass dem Betriebsunternehmer, Halter und die mit ihrem Willen beim Betrieb tätigen Personen kein Verschulden trifft (Apathy, KommzEKHG, Rz 15 zu § 9 mwN). Vielmehr muss die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche und zumutbare Sorgfalt eingehalten werden (Apathy aaO, Rz 16 zu § 9; Schauer in Schwimann**2, ABGB Rz 21 zu § 9 EKHG). Als Maßstab ist die Sorgfalt eines besonders sorgfältigen, d.h. umsichtigen und sachkundigen, erfahrenen Fachmannes (Kraftfahrers) heranzuziehen. Dieser "ideale" Verkehrsteilnehmer zeichnet sich durch besonders überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht aus; er beachtet nicht nur die Gesetzesbestimmungen, sondern vermeidet es von vornherein, in eine Situation zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen kann. Kindern gegenüber ist jede nur denkbare Vorsicht geboten und insbesondere die Geschwindigkeit zu verringern. Spielen Kinder am Gehsteig oder Straßenrand, so muss damit gerechnet werden, dass sie unbedacht in die Fahrbahn laufen (ZVR 1999/54).
Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, dann hätte ein besonders umsichtiger und aufmerksamer Lenker seine Geschwindigkeit angesichts der am linken und rechten Gehsteig gehenden Kinder (der Kläger ging in einer Gruppe von Kindern) auf zumindest 30 km/h herabgesetzt. Gerade wenn sich Kinder auf beiden Seiten der Fahrbahn befinden, besteht die Gefahr, dass sie (für den PKW-Lenker unvorhersehbar) die Fahrbahn überqueren. Dass sich der Unfall auch bei einer Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/h mit den gleichen Folgen ereignet hätte, konnten die dafür beweispflichtigen beklagten Parteien (Schauer, aaO Rz 52 zu § 9 EKHG), nicht nachweisen. Vielmehr stellte das Erstgericht lediglich fest, dass solche Stoßgeschwindigkeiten durchaus zu Brüchen führen können. Das Erstgericht hat also nicht festgestellt, dass sich der Unfall mit den gleichen Folgen auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/h ereignet hätte.
Da nach ständiger Rechtsprechung (zB ZVR 1994/306) das Verschulden unmündiger Minderjähriger in der Regel milder zu beurteilen ist, als unter sonst gleichen Umständen das Verschulden Erwachsener, ist auch im vorliegenden Fall die Haftung im Verhältnis 1 : 1 zu teilen (vgl zuletzt etwa ZVR 1999/54).
Da die Vorinstanzen - ausgehend von einer anderen Rechtsansicht - keine Feststellungen über die Schäden des Klägers getroffen haben, waren deren Entscheidungen aufzuheben und wird das Erstgericht darüber Feststellungen zu treffen haben.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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