European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00030.21G.0429.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Am 8. 6. 2017 ereignete sich in Lustenau in der Flurstraße nahe der ungeregelten Kreuzung mit dem Pestalozziweg ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem 1,925 m breiten Pkw und ein 1,7 m breiter Pkw mit Schweizer Kennzeichen, für den der Beklagte zu haften hat, beteiligt waren. Die Fahrbahn der Flurstraße verläuft im Unfallbereich geradlinig, ermöglicht eine wechselseitige Sicht von über 200 m und ist 5,5 m breit. Aus Fahrtrichtung der Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs gesehen verschmälert sich die Fahrbahn vor der Einmündung des Pestalozziwegs allerdings auf 4,4 m, indem sich der rechte Fahrbahnrand um 1,1 m nach links verlagert, und zwar über eine Strecke von 15 bis 20 m, wo sich eine Bushaltestelle befindet. In diesem Bereich schließt an den rechten Fahrbahnrand ein 1,1 m breiter gepflasterter und mit Randsteinen von der Fahrbahn abgetrennter Streifen – offenbar zum besseren Aus- und Einsteigen der Fahrgäste – an. Ein Gebot gemäß § 52 lit a Z 5 StVO („Wartepflicht bei Gegenverkehr“) bestand am Unfallstag nicht.
[2] Die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs näherte sich dieser „Engstelle“ mit rund 30 km/h und fuhr, weil sich der mit ebenfalls 30 km/h entgegenkommende Kläger noch nicht einmal im Bereich der aus Sicht der Lenkerin an die Engstelle anschließenden Kreuzung mit dem Pestalozziweg befand, in diese ein. Als sie bemerkte, dass der Kläger nicht langsamer wurde, brachte sie ihr Fahrzeug ca 2,2 sec vor der Kollision in einer Position zum Stillstand, in der der Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand – dies ist in dritter Instanz unstrittig – mit dem rechten Vorderrad 0,5 m und mit dem rechten Hinterrad 0,7 bis 0,8 m betrug. Die linke Heckseite des Beklagtenfahrzeugs ragte demnach 0,2 bis 0,3 m über die Fahrbahnmitte, sodass für das Klagsfahrzeug eine nicht ausreichende Durchfahrtsbreite von lediglich 1,9 bis 2 m verblieb. Als für den Kläger das Einfahren des Beklagtenfahrzeugs in die Engstelle erkennbar wurde, hätte es nur einer leichten Bremsung bedurft, um vor dem Beklagtenfahrzeug anhalten zu können. Bei einer mittleren Bremsung hätte er sein Fahrzeug noch vor der Engstelle zum Stillstand gebracht. Der Kläger blieb aber weder vor noch in der Engstelle stehen, sondern versuchte, über die (aus seiner Sicht) rechts gelegene Gehsteigkante am stehenden Beklagtenfahrzeug vorbeizufahren. Dies gelang nur so lange, bis er wegen der dort angebrachten Haltestellensäule nach links steuerte und gegen das Beklagtenfahrzeug stieß. Der Kläger hätte die Kollision vermeiden können, wenn er diesen Fahrfehler nicht begangen hätte oder wenn er zuvor ebenfalls angehalten hätte und beide Lenker dann langsam aneinander vorbeigefahren wären. Die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs hätte die Kollision vermeiden können, wenn sie nicht in die Engstelle eingefahren wäre oder in der Engstelle äußerst rechts zum Stehen gekommen wäre.
[3] Das Erstgericht wies das auf das Alleinverschulden der Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs gestützte Klagebegehren ab. Es verneinte angesichts des von ihm als besonders schwer beurteilten Verschuldens des Klägers trotz der nicht dem Rechtsfahrgebot entsprechenden Annäherung und Stillstandposition des Beklagtenfahrzeugs eine Haftung des Beklagten. Eine Wartepflicht habe für die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs nicht bestanden.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision nachträglich mangels Judikatur zur Frage zu, ob bei einer Haltestelle, die eine Fahrbahnverengung bewirke, eine Wartepflicht jenes Verkehrsteilnehmers ausgelöst werde, auf dessen Seite sie sich befinde.
[5] Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision des Klägers nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:
Rechtliche Beurteilung
[6] 1. Die Verneinung einer Wartepflicht für die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs steht schon mit der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Einklang. Denn nicht einmal ein – hier nicht vorhandenes – Gefahrenzeichen nach § 50 Z 8 lit a bis c StVO („Fahrbahnverengung“), das eine Verengung der Fahrbahn ankündigt, normiert eine Wartepflicht, wie dies etwa durch das – auch nicht vorhandene – Vorschriftszeichen des § 52 lit a Z 5 StVO („Wartepflicht bei Gegenverkehr“) geschieht (8 Ob 302/81 ZVR 1983/24 = RS0075471).
[7] Vielmehr wurde etwa bei einer Fahrbahnverengung durch Aufgrabungsarbeiten ausgesprochen, dass sich dementsprechend die Fahrbahnmitte verlagert und sich die in jeder Richtung noch immer zur Verfügung stehenden Fahrstreifen verschmälern (2 Ob 62/87; RS0073176).
[8] Umso eher ist im vorliegenden Fall, in dem die Fahrbahn nicht nur vorübergehend, sondern durch endgültige bauliche Gestaltung verengt wurde, die Beurteilung des Berufungsgerichts völlig unbedenklich, dass die gesamte Fahrbahn verengt ist und nicht nur – wie die Revision unterstellt – der vom Beklagtenfahrzeug benutzte Fahrstreifen. Die auf die gegenteilige Rechtsansicht gegründete Schlussfolgerung des Klägers, die die Engstelle zuerst erreichende gegnerische Fahrzeuglenkerin wäre ihm gegenüber wartepflichtig gewesen, entbehrt somit einer rechtlichen Grundlage.
[9] 2. Die Rechtsausführungen des Berufungsgerichts bewegen sich allerdings auch insoweit auf dem Boden der Rechtsprechung, als es bei einer Fahrbahnbreite von 4,4 m bei ungehinderter Sicht auf den Gegenverkehr eine Anhaltepflicht beider Fahrzeuge iSd § 10 Abs 2 StVO verneinte.
[10] Die Beurteilung der Anhaltepflicht hat – im Gegensatz zur Frage, ob auf halbe Sicht zu fahren ist – nach den konkreten Umständen zu erfolgen (RS0073541). Eine Anhaltepflicht oder eine Pflicht zur Geschwindigkeitsverminderung besteht bei Gegenverkehr nur, wenn kein ausreichender Raum für eine gefahrlose Begegnung besteht (2 Ob 226/18a mwN). Ob ausreichend Platz vorhanden ist, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. In der Rechtsprechung wurde etwa bei Begegnung zweier PKW mit 15 bis 20 km/h ein insgesamt verbleibender freier Raum von 45 cm für das Ausweichen ohne Begründung einer Anhaltepflicht als ausreichend erachtet, nicht hingegen eine Durchfahrtsbreite von 20 cm (vgl 2 Ob 68/16p; 2 Ob 226/18a).
[11] Im vorliegenden Fall betrug die Summenbreite der beiden Fahrzeuge rund 3,7 m, sodass die Fahrzeuglenker bei entsprechender Vorsicht und mit niedriger Geschwindigkeit auch in der 4,4 m breiten Engstelle aneinander vorbeifahren hätten können (vgl auch 8 Ob 302/81; 8 Ob 93/82 ZVR 1983/232).
[12] 3. Dem Kläger war daher das Einfahren in die Engstelle nicht grundsätzlich untersagt. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass das zuerst in die Engstelle eingefahrene Beklagtenfahrzeug nicht am rechten Fahrbahnrand fuhr. Denn von einem entgegenkommenden Fahrzeug, das zunächst nicht (oder nicht zur Gänze) die ihm zukommende Fahrbahnhälfte benützt, ist die Rückkehr auf die eigene Fahrbahnhälfte zu erwarten, es sei denn, dass sich aus besonderen Gründen das Gegenteil ergibt (2 Ob 146/19p; RS0073503).
[13] Ein solcher besonderer Grund lag hier zweifellos darin, dass die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs dieses – für den Kläger jedenfalls erkennbar – in der oben beschriebenen Position anhielt, wodurch ein gefahrloses Passieren des Beklagtenfahrzeugs nicht mehr möglich war.
[14] Die Vorinstanzen haben das Verschulden des Klägers damit begründet, dass er dennoch – unter vorschriftswidriger Benützung der Gehsteigkante (RS0073182) – das Vorbeifahren zu erzwingen versuchte, dabei aber einem Hindernis ausweichen musste und gegen das stehende Beklagtenfahrzeug stieß. Die Revision des Klägers enthält keine gegen diesen Schuldvorwurf gerichtete Argumente und zeigt insoweit daher auch keine Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts auf, die Anlass für ein korrigierendes Eingreifen des Obersten Gerichtshofs bieten müsste.
[15] 4. Die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs hat in der Engstelle gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen (§ 7 Abs 2 StVO), das dem Schutz des Begegnungsverkehrs dient (RS0027759). Dieser Verstoß wäre nach der Rechtsprechung für die Verschuldensfrage nur dann „unwesentlich“, wenn – gemäß § 10 Abs 2 StVO – im Begegnungsverkehr angehalten werden musste (2 Ob 7/07d; RS0073616), was hier aber nicht der Fall war.
[16] 5. Allerdings spricht der Umstand, dass die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs in der Engstelle anhielt, statt (vollends) in die rechte Fahrbahnhälfte zurückzukehren (das Beklagtenfahrzeug befand sich ja bereits in einem Schrägzug nach rechts), dafür, dass sie irrtümlich von den Voraussetzungen des § 10 Abs 2 StVO ausging. Wenn das Berufungsgericht den Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot im Hinblick auf diese Fehleinschätzung angesichts des Umstands, dass tatsächlich nur sehr wenig Raum für ein vorsichtiges aneinander Vorbeifahren zur Verfügung stand, letztlich nur als geringfügigen Sorgfaltsverstoß wertete, so bedarf auch diese Rechtsansicht keiner Korrektur.
[17] Demgegenüber steht das von den Vorinstanzen ebenso vertretbar als besonders schwerwiegend beurteilte Fehlverhalten des Klägers, dessen riskantes Vorbeifahrmanöver jedenfalls gegen § 17 Abs 1 StVO verstieß, und das angesichts der rechts von der Fahrbahn befindlichen Haltestellensäule auch von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
[18] Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hebt das weitaus überwiegende Verschulden des Geschädigten die Haftung des Schädigers gänzlich auf (RS0027202). Wenn das Berufungsgericht daher angesichts der rücksichtslosen Fahrweise des Klägers und der geringen Sorgfaltswidrigkeit der Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs zu dem Ergebnis gelangte, dass im konkreten Einzelfall das Verschulden der Lenkerin vernachlässigbar ist, hält sich auch diese Rechtsansicht noch im Beurteilungsspielraum des Berufungsgerichts.
[19] 6. Insgesamt wird daher keine erhebliche Rechtsfrage bzw aufzugreifende Fehlbeurteilung aufgezeigt. Das Vorliegen des (abermals) gerügten Verfahrensmangels erster Instanz (unterlassene Einvernahme einer Zeugin) hat bereits das Berufungsgericht verneint (RS0042963). Die Revision ist daher zurückzuweisen.
[20] 7. Die Revisionsbeantwortung der Beklagten ist nicht zu honorieren, weil sie darin weder die maßgebenden Gründe für das Fehlen einer erheblichen Rechtsfrage aufgezeigt noch die Zurückweisung des Rechtsmittels beantragt hat.
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