European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0020OB00030.15Y.0409.000
Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Am 20. Juni 2013 kam es auf der H*****straße zu einem Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem Moped und L***** W***** mit dem von ihm gehaltenen Toyota, mit dem deutschen Kennzeichen ***** beteiligt waren.
Der Unfallort liegt im Freiland in einer Rechtskurve, deren Innenseite mit einer Hecke bewachsen ist, sodass die Sicht entlang des rechten, kurveninnenseitigen Fahrstreifens auf 42 m reduziert ist. Es besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h.
L***** W***** bewohnt in diesem Straßenabschnitt ein kurvenaußenseitig gelegenes Haus mit einem vorgelagerten Parkplatz. Auf diesem stieg er vor dem Unfall in seinen PKW und fuhr rückwärts in die H*****straße ein. Dann wechselte er in den Vorwärtsgang und fuhr mit geringer Beschleunigung los, weil er auf dem Beifahrersitz bzw der Mittelkonsole seine Brille suchte und dann aufsetzte. Er fuhr auf diese Weise 13 bis 18 Sekunden lang mit 4 bis 6 km/h.
Der Kläger lenkte sein Moped in derselben Fahrtrichtung mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h. Als er erstmals den Toyota am Ende der beschriebenen Rechtskurve in einem Tiefenabstand von rund 20 m erblickte und im Stillstand wahrzunehmen glaubte, bremste er voll ab, hielt aber ein kollisionsfreies Anhalten nicht mehr für möglich. Er lenkte deshalb nach links aus, wobei er zu Sturz kam. Bei seiner Ausgangsgeschwindigkeit hätte aber eine stärkere Bremsung genügt, um kollisionsfrei hinter dem Beklagtenfahrzeug zu bleiben. Dies umso mehr bei Einhaltung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h.
Der Kläger begehrt Schmerzengeld, Ersatz von Sachschaden uam und die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden, weil er als Mopedfahrer auf das in der unübersichtlichen Kurve ohne Veranlassung stehen gebliebene Beklagtenfahrzeug geprallt sei.
Die beklagte Partei bestritt und wandte das Alleinverschulden des Klägers ein. Der Pkw‑Lenker sei vom Parkplatz von seinem Haus kommend langsam losgefahren und nicht längere Zeit auf der Fahrbahn gestanden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und außerdem falsch reagiert, hätte er doch mit einer stärkeren Bremsung ebenso wie mit einer Linkslenkung eine Kollision verhindern können. § 20 Abs 1 letzter Satz StVO schreibe zwar generell vor, dass niemand so langsam fahren dürfe, dass er dadurch andere Verkehrsteilnehmer behindere. Diese Vorschrift komme aber nur dann zur Anwendung, wenn andere Verkehrsteilnehmer im Sichtbereich vorhanden seien. Der Kläger sei während fast der gesamten Dauer des Langsamfahrens des Beklagtenfahrzeugs nicht in dessen Sichtbereich gewesen. Im Übrigen sei das Langsamfahren nicht schon dann unzulässig, wenn andere Verkehrsteilnehmer vorübergehend zur Herabsetzung ihrer Geschwindigkeit veranlasst würden. Es ergebe sich daher kein relevanter Sorgfaltsverstoß des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs.
Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht hob diese Entscheidung auf. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs sei ohne zwingenden Grund längere Zeit langsam und damit auch verkehrsbehindernd im äußerst unübersichtlichen Kurvenbereich gefahren. Er habe deshalb, auch wenn bei seinem Ausparkmanöver kein anderes Fahrzeug im Sichtbereich gewesen sei, jedenfalls mit nachfolgenden Fahrzeugen rechnen müssen, für welche kaum zu unterscheiden gewesen sei, ob sich sein Fahrzeug im Stillstand oder langsamer Vorwärtsbewegung befinde. Er habe daher auch mit Schreckreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer rechnen müssen. Sein unbegründetes Langsamfahren sei daher als verkehrsbehindernd zu qualifizieren. Eine abschließende Verschuldensteilung sei aber noch nicht möglich, weil aufgrund der teils unüberprüfbaren, teils unvollständigen Feststellungen nicht beurteilt werden könne, ob dem Kläger neben der überhöhten Geschwindigkeit auch eine verspätete oder unrichtige Reaktion vorzuwerfen sei. Zur diesbezüglichen Feststellung des Erstgerichts fehle jegliche Beweiswürdigung.
Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zuzulassen, weil keine Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit während eines Zeitraums von 13 bis 18 Sekunden in einem unübersichtlichen Kurvenbereich auf einer Freilandstraße bei erlaubter Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h als grundloses und verkehrsbehinderndes Langsamfahren im Sinne des § 20 Abs 1 letzter Satz StVO zu qualifizieren oder im Sinne der Entscheidung 2 Ob 96/77 = ZVR 1978/147 nicht als Verschulden zu werten sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen.
Die klagende Partei beantragt, dem Rekurs der beklagten Partei nicht Folge zu geben.
Der Rekurs der beklagten Partei ist im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichts zulässig, weil aktuelle Rechtsprechung zu der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Rechtsfrage nicht besteht; er ist aber nicht berechtigt.
Die Rekurswerberin führt aus, dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs alleine aufgrund der Unübersichtlichkeit der Kurve berechtigt gewesen sei, langsam und vorsichtig zu fahren. Die ihm vom Berufungsgericht auferlegten Pflichten seien überzogen. Insbesondere habe er keine Überlegungen dahin anstellen müssen, ob einem nachfolgenden Fahrzeuglenker erkennbar sei, ob sein Fahrzeug stehe oder sich langsam fortbewege. Auch mit einer Schreckreaktion habe er nicht rechnen müssen. Die Feststellungen des Erstgerichts seien entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ausreichend und vollständig. Sie gründeten sich auf das schlüssige verkehrstechnische Sachverständigengutachten, das zum Ergebnis gekommen sei, dass dem Kläger keine Reaktionsverspätung anzulasten sei, dieser jedoch das Gebot des Fahrens auf Sicht nicht eingehalten habe.
Rechtliche Beurteilung
Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
1. Gemäß § 20 Abs 1 letzter Satz StVO darf ein Fahrzeuglenker nicht ohne zwingenden Grund so langsam fahren, dass er den übrigen Verkehr behindert.
Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, in denen der Verschuldensvorwurf auf die Einhaltung einer zu geringen Geschwindigkeit gestützt wurde, sind selten.
So wurde zuletzt in 2 Ob 17/12g ausgesprochen, dass auf einer Autobahn mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h das Fahren mit 20 km/h ‑ noch dazu bei Dunkelheit und ohne Warnblinkanlage ‑ ein maßgebliches Fehlverhalten darstelle (RIS‑Justiz RS0128258).
In einer älteren ‑ bereits von den Vorinstanzen zitierten ‑ Entscheidung, 2 Ob 96/77 = ZVR 1978/147, wurde ausgesprochen, dass eine ohne zwingenden Grund vorgenommene allmähliche Herabsetzung der Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit, wodurch der Lenker eines einzeln nachfolgenden Fahrzeugs gezwungen wird, ebenfalls vorübergehend seine Geschwindigkeit zu vermindern, noch keinen Verstoß gegen § 20 Abs 1 letzter Satz StVO bedeutet; es wurde aber hinzugefügt, dass ein solcher bei „nennenswerter längerer Behinderung“ anzunehmen sei (vgl auch RIS‑Justiz RS0074753). Dies wurde in 8 Ob 87/81 = ZVR 1982/380 bestätigt.
Auch in 8 Ob 153/80 = ZVR 1981/212 wurde auf Autobahnen eine Behinderung des Nachfolgeverkehrs durch Langsamfahren ohne zwingenden Grund als möglich erachtet. Insbesondere bei Nacht sei die Abschätzung der Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahrzeugs auf der Autobahn äußerst schwierig. Unter diesen Umständen habe der Kläger sehr wohl damit rechnen müssen, durch sein grundloses Langsamfahren den Nachfolgeverkehr zu gefährden. Aus dem Zweck dieser Bestimmung sei abzuleiten, dass sie nicht nur der Sicherung der Flüssigkeit des Verkehrs im Allgemeinen, sondern auch und im Besonderen der Vermeidung von Verkehrsunfällen diene, die durch grundloses verkehrsbehinderndes Langsamfahren ausgelöst und begünstigt würden. Die Übertretung dieser Schutzvorschrift aber setze voraus, dass es sich um Langsamfahren ohne zwingenden Grund handle und die Fahrweise verkehrsbehindernd sei.
2. Eine Mindestgeschwindigkeit als allgemeine Fahrregel ist nicht vorgeschrieben (Pürstl StVO13, Anm 19). Nach den in 8 Ob 153/80 = ZVR 1981/212 wiedergegebenen Gesetzesmaterialien (Bericht des Handelsausschusses 240 BlgNR 9. GP ) hat der Gesetzgeber zwar von einer ziffernmäßigen Bestimmung einer Mindestgeschwindigkeit bewusst Abstand genommen; mit dieser Vorschrift sollte aber dafür Sorge getragen werden, dass niemand grundlos so langsam fahren dürfe, dass er den übrigen Verkehr behindere.
3. Angesichts der hier ‑ in einem unübersichtlichen Straßenbereich auf einer Freilandstraße mit einer Sichtweite von lediglich 42 m ‑ für einen Zeitraum von zumindest 13 Sekunden eingehaltenen Schrittgeschwindigkeit, wenn auch die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nur 50 km/h betrug, kann auch nach Ansicht des erkennenden Senats nicht davon ausgegangen werden, dass den Lenker des Beklagtenfahrzeugs jedenfalls kein Verschulden im Sinne des § 20 Abs 1 letzter Satz StVO trifft.
Dass im Zeitpunkt seines Losfahrens noch kein anderer Verkehrsteilnehmer im Sichtbereich war, gereicht ihm angesichts der Unübersichtlichkeit der Kurve und der besonders langen, auch nicht durch verkehrsbedingte Umstände ausgelösten Dauer seines Langsamfahrmanövers nicht zur Entlastung, macht doch in Ansehung unübersichtlicher Kurven das Gesetz den Verkehrsteilnehmern im Interesse der Sicherheit des Verkehrs in zahlreichen Bestimmungen (vgl § 7 Abs 2, § 16 Abs 2 lit b, §§ 20 Abs 1, 23 Abs 1 sowie 24 Abs 1 lit b, § 99 Abs 2 lit d StVO) in mehrfacher Hinsicht besondere Vorsicht zur Pflicht (RIS‑Justiz RS0073369). Ansonsten wäre gerade in unübersichtlichen Straßenbereichen, in denen ein dem § 20 Abs 1 letzter Satz StVO widersprechendes Verhalten besonders gefährlich ist, grundloses Langsamfahren deshalb folgenlos, weil angesichts der dort regelmäßig geringen Sichtweite andere Verkehrsteilnehmer besonders spät in den Sichtbereich gelangen.
Die vom Erstgericht zitierte Entscheidung ZVR 1977/98, wonach das in § 20 Abs 1 letzter Satz StVO normierte Verbot das Vorhandensein sonstigen Verkehrs voraussetzt, den ein Fahrzeuglenker wahrnimmt bzw bei pflichtgemäßer Sorgfalt wahrnehmen könnte, lag der Fall eines zufolge Nachrangs bloß mit 4 km/h in eine Kreuzung einfahrenden Linkseinbiegers zugrunde, also ein völlig anders gelagertes Fahrmanöver in einer grundsätzlich alltäglichen Verkehrssituation, das nur besonders „zögernd und langsam“ durchgeführt wurde, aber nicht, wie hier, ein gänzlich unnötiges (die Brille hätte bereits vor Fahrtantritt auf dem Parkplatz gesucht und aufgesetzt werden können) und für andere Verkehrsteilnehmer völlig unvorhersehbares Verhalten. Angesichts der Länge des Zeitraums, währenddessen der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hier seine Schrittgeschwindigkeit beibehielt, kann es auf die Verkehrsverhältnisse am Beginn dieses (angesichts der Unfallstelle auch keineswegs ungefährlichen) Fahrmanövers nicht ankommen.
4. Entgegen der Rekursausführungen liegt Entscheidungsreife nicht vor, konnte doch das Berufungsgericht die in der Berufung des Klägers relevierte Tatsachenrüge und Aktenwidrigkeit aus den vom Berufungsgericht dargelegten Gründen nicht behandeln.
Da der Oberste Gerichtshof nur Rechts- und nicht auch Tatsacheninstanz ist, kann die Beweiswürdigung der Vorinstanzen nicht weiter bekämpft werden (1 Ob 205/02g = RIS‑Justiz RS0043414 [T11]). Die vom Rekurs zitierten Ausführungen des Sachverständigen ersetzen entsprechende ‑ bei Bekämpfung vom Berufungsgericht gebilligte ‑ Feststellungen nicht.
5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)