OGH 2Ob2432/96b

OGH2Ob2432/96b30.1.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Margarete M*****, vertreten durch Dr.Richard Heiserer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Wiener Stadtwerke, ***** vertreten durch Dr.Konrad Kuderna, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 377.235,47 sA und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 7.Oktober 1996, GZ 12 R 34/96z-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 10.Dezember 1995, GZ 23 Cg 178/94d-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das zweitinstanzliche Teilurteil sowie das diesem zugrundeliegende Ersturteil werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird im Umfang der Aufhebung an das Prozeßgericht erster Instanz zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind auch insoweit weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 29.9.1992 gegen 9.00 Uhr wollte die damals 70-jährige Klägerin in Wien mit einem Zug der Straßenbahnlinie 43 von der Haltestelle Alserstraße Richtung Schottenring fahren. Da die hintere Beiwagentüre bereits geschlossen war, drückte sie auf den Öffnungsknopf und die Türe öffnete sich. Dann begann sie an der rechten Seite des Einstieges einzusteigen. Sie stieg mit dem rechten Fuß auf die erste Stufe und hielt sich mit der rechten Hand am Türgriff an. Mit der linken Hand konnte sie sich nicht an der Griffstange in der Mitte festhalten, weil sie in dieser Hand ein Sackerl hielt und über dem linken Arm einen Mantel trug. Als die Klägerin den linken Fuß nachziehen wollte, begann sich die Türe wieder zu schließen, worauf die Klägerin den Türgriff losließ und nach hinten stürzte. Die Bau- und Betriebsbewilligung für den am Unfall beteiligten Beiwagen wurde mit den Bescheiden vom 17.3.1976 und vom 25.5.1976 erteilt. Die Türsicherungen bestehen aus einem Lichtschranken, greumatischen Fühlerleisten (Gummischläuchen) an den Türkanten, durch die die Türen wieder öffnen, wenn ein Gegenstand dazwischen ist, und einer Rutschkupplung, die zum Wiederöffnen der Türe führt. Der Abstand von der Außenkante der unteren Stufe bis zur Fotozelle beträgt ca. 13 cm, die Höhe des Fotoelementes von der unteren Stufe weggemessen beträgt 41 bis 48 cm, im Mittel sohin etwa 44 bis 45 cm. Der erste, halbe Schließvorgang der Türe dauert 1,3 Sekunden, dann hält die Tür kurzzeitig an und beendet den Schließvorgang insgesamt in ca. 2,5 Sekunden. Ein Gegenstand oder der Fuß einer Person muß in einer Höhe von rund 45 cm etwa 13 bis 16 cm tief in den Wagen hineingeneigt sein, damit die Fotozelle anspricht und so ein Schließen der Türe verhindert wird.

Bei einer Überprüfung, die ein Dienstnehmer der beklagten Partei nach dem Unfall an dem davon beteiligten Beiwagen vornahm, erwiesen sich alle Türsicherungseinrichtungen als voll funktionsfähig.

Die Klägerin begehrt von der beklagten Partei als Betriebsunternehmerin nach den Bestimmungen des EKHG den Ersatz ihrer unfallsbedingten Schäden in der Höhe von S 377.235,47 sA und die Feststellung der Schadenersatzpflicht der beklagten Partei, weil der Unfall durch einen fehlerhaften - nämlich während ihres Einsteigevorganges einsetzenden - Schließmechanismus der hinteren Türe des Straßenbahnbeiwagens verursacht worden sei.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wandte ein, die Einsteigevorrichtungen am Triebwagenanhänger seien fehlerfrei gewesen, der Unfall habe für die beklagte Partei ein unabwendbares Ereignis dargestellt und sei allein auf das ungeschickte Verhalten der Klägerin zurückzuführen. Im übrigen werde durch "entsprechende Bezeichnung" ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ältere und gebrechliche Personen zum Einsteigen die erste Türe des Straßenbahnzuges (beim Fahrer), welche nicht automatisch gesteuert werde, benützen sollten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es vertrat die Auffassung, die dreifachen Türsicherungen hätten ordnungsgemäß funktioniert und entsprächen der Benützungsbewilligung; der Unfall sei offensichtlich auf das Verhalten der Klägerin zurückzuführen gewesen, die beim Einsteigen den rechten Fuß nicht weit genug auf das Trittbrett gesetzt (und deshalb nicht den Schließmechanismus verhindert), sodann bei Beginn des Schließvorganges - wahrscheinlich, weil sie erschrocken sei - den rechten Türgriff losgelassen und dabei den Halt verloren habe; sie hätte durch "weiteres Einsteigen", insbesondere durch Erfassen der mittleren Griffstange, den Schließvorgang unterbrechen und gefahrlos in den Beiwagen gelangen können. Der Unfall sei daher auf das Fehlverhalten der Klägerin und nicht auf ein Versagen der Einrichtungen oder eine unzulängliche Beschaffenheit der Schließautomatik der Beiwagentüre zurückzuführen, sodaß keine Haftung der beklagten Partei nach dem EKHG bestehe.

Das mit der Berufung der Klägerin befaßte Gericht zweiter Instanz bestätigte - ausgehend von einer grundsätzlichen Haftung der beklagten Partei wegen eines im Schließmechanismus der Beiwagentür liegenden Fehlers in der Beschaffenheit der von der Klägerin benützten Beiwagentüre, allerdings auch von einer gleichteiligen Anspruchskürzung wegen eines dementsprechenden Eigenverschuldens der Klägerin -, das Urteil des Erstgerichtes hinsichtlich der Abweisung der Hälfte des Leistungs- und des Feststellungsbegehrens als Teilurteil, hob es jedoch im übrigen Umfang sowie im Kostenpunkt auf und verwies die Rechtssache in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es sprach überdies aus, daß die ordentliche Revision und der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig seien. Unter Hinweis auf die einen praktisch gleichen Sachverhalt betreffende Entscheidung des erkennenden Senates ZVR 1993/152 bejahte das Gericht zweiter Instanz die grundsätzliche Haftung der beklagten Partei für die bei der Klägerin ursächlich eingetretenen Unfallsfolgen, weil ein den Haftungsausschluß nach § 9 Abs 2 EKHG verhindernder Fehler in der Beschaffenheit des Straßenbahnbeiwagens darin zu erblicken sei, daß es beim Zusammentreffen ungünstiger Umstände, die eine Auslösung der über eine Lichtschranke zu bewirkenden automatischen Schließsperre verhinderten, trotz Betretens des unteren Trittbrettes und Anhaltens am rechten Türgriff zu einem Beginn des Schließvorganges gekommen sei, weshalb die vorhandenen Sicherheitseinrichtungen eben nicht ausreichend gewesen seien. Das Berufungsgericht lastete allerdings der Klägerin ein die Kürzung ihrer Ansprüche um die Hälfte auslösendes Eigenverschulden an, weil der Unfall nur darauf zurückzuführen sein könne, daß die Klägerin nicht mit dem ganzen Fuß auf die unterste Trittstufe stieg und den Einsteigevorgang, für den ihr 4,5 bis 5 Sekunden zur Verfügung gestanden seien, nicht in zumutbarer Weise so zügig fortsetzte, daß sie hiedurch die Lichtschranke unterbrach. Die Klägerin sei zwar im Unfallszeitpunkt 70 Jahre alt gewesen, jedoch stünden etwaige Gebrechen, die sie an einem zügigen Einsteigen gehindert hätten, "unangefochten nicht fest".

Rechtliche Beurteilung

Während die beklagte Partei den Aufhebungsbeschluß unbekämpft ließ, erhob die Klägerin gegen das zweitinstanzliche Teilurteil Revision, der auch Berechtigung zukommt.

Zunächst ist der Vorinstanz beizupflichten, daß die beklagte Partei der Klägerin für die Folgen des beim Einsteigen in den Straßenbahnbeiwagen zufolge Einsetzens des Schließmechanismus erlittenen Sturzes im Grunde haftet, weil ein Fehler in der Beschaffenheit der Straßenbahn vorlag, der den Haftungsausschluß im Sinne des § 9 Abs 1 EKHG verhindert. Gegen die zweitinstanzliche Beurteilung dieser Frage, die im wesentlichen der Entscheidung des erkennenden Senates ZVR 1993/152 folgt, werden in der Revisionsbeantwortung der beklagten Partei keine stichhältigen Argumente vorgebracht. Es kann daher auf die Gründe der zweitinstanzlichen Entscheidung verwiesen werden (§ 510 Abs 3 ZPO), zumal die Ausführungen in der Revisionsbeantwortung keinen Anlaß bieten, von der angeführten Entscheidung des erkennenden Senates abzugehen.

Zur Frage des Verschuldens der Klägerin kann dahingestellt bleiben, ob das von der beklagten Partei hiezu in erster Instanz erstattete Vorbringen einen sachverhaltsmäßig substantiierten tauglichen Eigenverschuldenseinwand darstellte oder nicht. Denn selbst bei Annahme ausreichenden Vorbringens der die Schuldvorwürfe des Berufungsgerichtes an die Klägerin begründenden Tatsachen ist dieser Schuldvorwurf nicht gerechtfertigt. Es konnte der Klägerin nicht zugesonnen werden, auf die bei ihren festgestellten Einsteigemanövers eintretende automatische Schließung der Straßenbahntüre durch zügige Fortsetzung des Einsteigevorgangs zu reagieren, sodaß sie die Lichtschranke unterbrochen hätte. Hält man sich vor Augen, daß sie sich nur mit der rechten Hand am rechten Türgriff festhielt und sich diese Türe zu schließen begann, sodaß ihre körperliche Stabilität beim Einsteigen erheblich beeinträchtigt, wenn nicht gar beseitigt war, so lag es für sie angesichts des überraschenden Schließvorganges jedenfalls näher, den Türgriff los zu lassen und nach hinten abzusteigen (wodurch sie in der Folge stürzte) als den instabil gewordenen Griff an der Türe beizubehalten und allenfalls von der losfahrenden Straßenbahn mitgezogen zu werden. Ihre Reaktion auf das unerwartete Einsetzen der automatischen Türschließung war daher - auch ex post betrachtet - jedenfalls vertretbar und nicht mit einem Schuldvorwurf zu belasten. Auf die Dauer der "Öffnungszeit" der automatisch schließenden Beiwagentüre und deren "zielstrebige" Nutzung durch die Klägerin kommt es im vorliegenden Fall nicht an, weil die Klägerin nach dem Aufsteigen auf das unterste Trittbrett nicht mehr damit rechnen mußte, daß dessen ungeachtet die Schließautomatik ausgelöst werden könnte. Daß sie etwa erst nach dem Einsetzen der Schließautomatik den Einsteigevorgang begonnen hätte, ist hier nicht festgestellt. Das Berufungsgericht stützt seinen Schuldvorwurf ebenso wie schon das Erstgericht auf bloße Vermutungen, die nicht zielführend sind, weil hiefür keine Tatsachenfeststellungen vorliegen.

Die - im fortgesetzten Verfahren noch zu prüfenden - Ansprüche der Klägerin sind daher nicht aufgrund eines ihr anlastbaren Eigenverschuldens zu kürzen. Diese Erwägungen führen zur Aufhebung der klagsabweislichen Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Sache vor das Erstgericht, das Feststellungen zum Feststellungsbegehren und zur Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche zu treffen haben wird.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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