European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1996:E41903
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Am 14.9.1992 kam es auf der Fahrbahn der Bürgergasse in F* zu einem Zusammenstoß zwischen der Klägerin als Radfahrer und dem am 16.1.1987 geborenen Sohn der beiden Beklagten, der beim Überqueren der Fahrbahn gegen das Fahrrad lief. Dabei kam die Klägerin zu Sturz und verletzte sich.
Die Klägerin begehrte von den Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes Schmerzengeld und Ersatz ihrer Auslagen für Haushaltshilfen, insgesamt S 141.160 sA. Sie behauptete, die Beklagten hätten ihre Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Sohn dadurch verletzt, daß sie ihn am Unfallstag in Begleitung seiner erst 10jährigen Schwester auf der stark befahrenen Bürgergasse spielen ließen. In der Tagsatzung vom 30.3.1995 brachte die Klägerin vor, der Sohn der Beklagten habe bereits am 27.1.1992 in der Bürgergasse im gegenständlichen Unfallsbereich einen Verkehrsunfall gehabt, bei welchem er verletzt worden sei. Er sei auch damals unbeaufsichtigt gewesen. Im übrigen sei der Sohn der Beklagten sowohl vor als auch nach dem streitgegenständlichen Unfall wiederholt unbeaufsichtigt im Bereich der Bürgergasse beobachtet worden, wie er mit einem Kinderfahrrad in der Bürgergasse in Schlangenlinien herumgekurvt sei. Hiezu führte die Klägerin zwei Zeugen, deren Vernehmung unterblieb.
Die Beklagten wendeten ein, es sei für sie nicht vorhersehbar gewesen, daß die Kinder, denen es nicht erlaubt gewesen sei, auf der Straße zu spielen, beim Brunnen spielen würden und daß ihr Sohn dabei unvorsichtig die Straße überqueren würde. Im übrigen seien die Kinder auch an den Umgang mit Straßenverkehr gewöhnt. Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit sei es den Beklagten nicht möglich, ihre Kinder ständig unter Beobachtung zu halten. Dazu komme, daß sich der Unfall in einer "verkehrsberuhigten" Zone in unmittelbarer Nähe ihres Wohnbereiches ereignet habe. Im übrigen treffe das Verschulden am Zustandekommen des Unfalls die Klägerin selbst, weil sie die beim Springbrunnen spielenden Kinder hätte wahrnehmen können und sich entspechend vorsichtig hätte nähern müssen. Die Klägerin habe aber auf die Bewegung des Sohnes der Beklagten nicht rechtzeitig reagiert. Der Sturz sei für die behaupteten Verletzungen nicht kausal gewesen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte ua folgendes fest: Die Bürgergasse ist eine verkehrsberuhigte Einbahnstraße, für die eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h verfügt ist. Sie verläuft in Süd‑Nord‑Richtung an der Unfallstelle über mindestens 50 m annähernd geradlinig. Die Klägerin befuhr die Bürgergasse, von Süden kommend, Richtung Norden mit normaler Radfahrgeschwindigkeit. Auf Höhe des Hauses Nr.32 bzw 19 überquerte der Sohn der Beklagten plötzlich und für die Klägerin unvorhersehbar die Bürgergasse von Osten nach Westen und lief dabei der Klägerin in den Lenker ihres Fahrrades, wodurch sie zu Sturz kam. Die Klägerin hatte keine Möglichkeit, rechtzeitig und unfallverhütend auf die unvermittelt von rechts auftauchende Gefahr zu reagieren. Die Beklagten betreiben in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle ein Restaurant, das ihre Arbeitskraft zur Gänze in Anspruch nimmt. Sie haben drei minderjährige Kinder, nämlich zwei Töchter, geboren am 25.12.1979 und am 28.9.1982, und einen Sohn, geboren am 16.1.1987, wobei es den Gepflogenheiten der Familie entspricht, daß eine der beiden Töchter den jüngeren Bruder hilfsweise beaufsichtigt und ihn zum Spielen ins Freie begleitet. Den Kindern wurde von den Beklagten das Spielen auf der Straße untersagt. In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, daß die Beklagten ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt hätten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision - mangels einer im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Frage - für nicht zulässig.
Zur Verfahrensrüge führte das Berufungsgericht ua aus, daß das Unterbleiben der beantragten Zeugenvernehmungen keinen Verfahrensmangel bilde, weil es auf das angegebene Beweisthema nicht entscheidend ankomme. Im bezüglichen Vorbringen der Klägerin liege nämlich nicht auch die Behauptung, daß die Beklagten den Kindern gegenüber ein Verbot des Aufenthalts auf der Straße nicht ausgesprochen hätten und daß den Beklagten bekannt gewesen sei bzw bekannt gewesen sein mußte, daß sich ihr Sohn immer wieder unbeaufsichtigt in der Bürgergasse aufhielt. Der Beweisantrag sei aber auch deshalb unwesentlich, weil zum Unfallszeitpunkt der in den Unfall verwickelte Sohn nicht allein mit einem Kinderfahrrad unterwegs gewesen sei und auch nicht behauptet worden sei, daß der Sohn der Beklagten dann, wenn er allein mit einem Kinderfahrrad unterwegs gewesen sein sollte, damit auf der Fahrbahn der Bürgergasse in Schlangenlinien "herumgekurvt" sei.
Die Feststellung über die Unvermeidbarkeit der Kollision für die Klägerin wurde vom Berufungsgericht nicht übernommen. Es billigte aber die Rechtsmeinung des Erstgerichtes, wonach eine Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Beklagten nicht vorliege.
Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagten beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrages auch berechtigt.
Die Klägerin macht geltend, das Berufungsgericht habe sich mit ihrer Mängelrüge von einer unrichtigen Rechtsansicht ausgehend nicht befaßt; ihr Vorbringen, der Sohn der Beklagten sei sogar mit einem Kinderfahrrad in der Bürgergasse unbeaufsichtigt herumgefahren, sei entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht rechtlich irrelevant, weil sich daraus eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht der Beklagten ergebe. Das bloße Verbot an die 10jährige Tochter und den fünfjährigen Sohn, auf der Straße nicht zu spielen, sei nicht als entsprechende Obsorge anzusehen, zumal die Beklagten aus dem Unfall vom 27.1.1992 erkennen hätten müssen, daß ihr Sohn sich nicht an dieses Verbot halte.
Hiezu wurde erwogen:
Für die Frage, ob der Aufsichtspflichtige seiner Obsorgepflicht im Sinne des § 1309 ABGB genügt hat, kommt es auf das Alter, die Entwicklung und die Eigenart des Kindes, auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des zu Beaufsichtigenden, auf das Maß der von diesem ausgehenden, dritten Personen drohenden Gefahr sowie darauf an, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern, welchen Anlaß zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen sie hatten (ZVR 1984/324, 1989/153, 1990/156 ua; Reischauer in Rummel2 § 1309 ABGB Rz 4; Harrer in Schwimann § 1309 ABGB Rz 1, 6 f, 11 mwN).
Ausgehend von diesen Grundsätzen bestehen im vorliegenden Fall in zweifacher Hinsicht Zweifel daran, ob die Beklagten ihrer Aufsichtspflicht genügt haben:
Zum einen kann das in der Tagsatzung vom 30.3.1995 erstattete Vorbringen der Klägerin über das wiederholte unbeaufsichtigte Radfahren des fünfjährigen Sohnes der Beklagten entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes nicht als irrelevant angesehen werden. Im betreffenden Vorbringen der Klägerin liegt nämlich im gegebenen Zusammenhang durchaus die Behauptung früherer einschlägiger Obsorgeverletzungen der Beklagten. Daß der Sohn der Beklagten beim gegenständlichen Unfall nicht mit dem Fahrrad fuhr, schließt eine Beweisführung darüber, daß die Beklagten ihren Sohn im allgemeinen im Straßenverkehr nicht ausreichend beaufsichtigen, nicht aus, zumal sich aus einem früheren Verhalten Konsequenzen für die künftige Beaufsichtigung ergeben können. Wenn die Klägerin vorgebracht hat, der Sohn der Beklagten wäre "in der Bürgergasse.....herumgekurvt", so kann ihr Beweisantrag ohne Erörterung nicht schon deshalb als ungeeignet angesehen werden, weil sie nicht die Wendung "auf der Fahrbahn der Bürgergasse" gebraucht hat. Das Berufungsgericht hat zwar keinen Verfahrensmangel darin erblickt, daß die beantragten Zeugenvernehmungen zum wiederholten unbeaufsichtigten Radfahren des Sohnes der Beklagten unterblieben sind. Der Grundsatz, daß vom Berufungsgericht verneinte Verfahrensmängel in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden können, gilt aber dann nicht, wenn das Berufungsgericht einen Verfahrensmangel erster Instanz - wie hier - infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht wahrgenommen hat (Kodek in Rechberger § 503 ZPO Rz 3 mwN).
Zum anderen hat das Erstgericht den Inhalt der Anzeige des Unfalls vom 27.1.1992 (an dem der Sohn der Beklagten schon vor dem gegenständlichen Unfall vom 14.9.1992 beteiligt war) insofern unzutreffend wiedergegeben, als damals lediglich der im Beisein von Familienangehörigen befragte Sohn der Beklagten angegeben hatte, er habe in der Absicht, über die Fahrbahn zu einem Freund zu laufen, einen kleinen Schneehügel bestiegen, sei darauf ausgerutscht und unmittelbar vor einen herannahenden PKW auf die Fahrbahn gefallen. Demgegenüber hatte der PKW‑Lenker (gegen den das Verfahren gemäß § 90 Abs 1 StPO eingestellt wurde) ausgesagt, das Kind sei hinter einer Blumenkiste und einem Schneehaufen hervor plötzlich auf die Fahrbahn gelaufen. Hiezu ist zu bemerken, daß die Lichtbilder der Verkehrsunfallsanzeige nur Schneereste in einiger Entfernung von der Unfallstelle zeigen. Nach der Aktenlage ist es demnach nicht auszuschließen, daß schon dieser Unfall für die Beklagten Anlaß zu einer besseren Beaufsichtigung ihres Sohnes im Straßenverkehr hätte sein müssen.
Nach Auffassung des erkennenden Senates bedarf das Verfahren somit noch einer Ergänzung, weshalb die Rechtssache unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile an das Erstgericht zurückzuverweisen war. Im fortgesetzten Verfahren werden das angebliche unbeaufsichtigte Radfahren des Sohnes der Beklagten vor dem gegenständlichen Unfall, die Umstände des Unfalls vom 27.1.1992, soweit sie für den hier zu beurteilenden Fall von Bedeutung sind, und die jeweiligen Maßnahmen der Beklagten zu untersuchen sein. Sollten die Beklagten auf wiederholtes früheres Fehlverhalten ihres Sohnes im Straßenverkehr nicht ausreichend reagiert und sich mit einer seiner Eigenart nicht genügenden Beaufsichtigung durch seine 10jährige Schwester begnügt haben, könnte ihnen eine Verletzung der Aufsichtspflicht durchaus zur Last fallen. Gegebenenfalls müßten auch Feststellungen zu den geltend gemachten Haushaltshilfekosten nachgeholt werden. Ob die Bedenken des Berufungsgerichtes gegen die für die Frage eines allfälligen Mitverschuldens bedeutsame erstgerichtliche Tatsachenfeststellung, die Kollision sei für die Klägerin unvermeidlich gewesen, zutreffen, hat der Oberste Gerichtshof nicht zu überprüfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.
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