Spruch:
Beiden Rekursen wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger lebt in Südtirol und ist italienischer Staatsbürger. Er hat vom 13. 3. 2005 bis 14. 2. 2008 in den Spielcasinos der beklagten Partei in Innsbruck und Seefeld gespielt. Seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse wurden von der beklagten Partei zu keiner Zeit überprüft oder hinterfragt.
Der Kläger begehrt 360.000 EUR an Schadenersatz. Er habe in der genannten Zeit zwei bis drei Mal pro Woche im Casino der Beklagten - hauptsächlich Roulette - gespielt. Bei diesem Spiel hätten die Leute der beklagten Partei mitzuwirken und daher einen guten Überblick über die Verluste eines Spielers. Teilweise habe er an einzelnen Abenden mit bis zu 30.000 EUR gespielt, die er gelegentlich auch an einem Spielabend verloren habe.
Trotz dieser hohen Einsätze und der Häufigkeit und Intensität seiner Spielteilnahme habe die Beklagte ihn niemals über seine Einkommens- oder Vermögensverhältnisse befragt oder eine Bonitätsauskunft eingeholt. Sie vertrete nämlich die Auffassung, dass der Spielerschutz des § 25 Abs 3 GSpG nur für österreichische Staatsbürger gelte. Diese Rechtsansicht widerspreche allerdings seit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union dem Gemeinschaftsrecht und sei diskriminierend.
Der Kläger verdiene ca 2.500 EUR pro Monat und habe für eine Ehegattin und drei Kinder zu sorgen. Die Beklagte habe durch ihr Verhalten gegen Schutz- und Sorgfaltspflichten des § 25 Abs 3 GSpG verstoßen und damit den geltend gemachten Schaden kausal verursacht und verschuldet. Wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen, hätte sie den Kläger spätestens ab 1. 3. 2005 sperren und von jeglichem Spiel in ihren Casinos ausschließen müssen. Dann wären die nachfolgenden, dem Klagebegehren entsprechenden Verluste, deren exakte Höhe mathematisch nicht genau bestimmbar sei, nicht eingetreten.
Die Beklagte erhob den Einwand der Präklusion. Wegen Ablaufs der 6-monatigen Präklusivfrist seien die Ansprüche des Klägers, die vor dem 21. 8. 2007 gelegen seien, verfristet. Im Übrigen sei das Klagebegehren abzuweisen, weil der Kläger italienischer Staatsbürger und daher § 25 Abs 3 GSpG auf ihn nicht anzuwenden sei. Stünde diese Bestimmung mit EU-Recht im Widerspruch, sei es Sache des Gesetzgebers und nicht der Beklagten die EU-Konformität des Gesetzes herzustellen. Als privatrechtlich organisierte Aktiengesellschaft könne sie nicht dem Staat zugerechnet werden, weil an ihr ausschließlich private, physische und juristische Personen beteiligt seien und dem Staat kein bestimmender gesellschaftsrechtlicher Einfluss zustehe. Die Beklagte habe in Ausübung der ihr übertragenen Konzession alle geltenden gesetzlichen Vorschriften, insbesondere das Glücksspielgesetz und die im Konzessionsbescheid erteilten Auflagen eingehalten. Im Übrigen sei ihr Handeln weder rechtswidrig noch schuldhaft gewesen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Eine allfällige gemeinschaftsrechtliche Bedenklichkeit des § 25 Abs 3 GSpG in der hier anzuwendenden Fassung sei der Beklagten als Betreiberin der vom Kläger aufgesuchten Spielcasinos weder im Bezug auf Art 12 EGV noch im Hinblick auf Art 49 EGV zuzurechnen. Da auch die Aufsichtsbehörde die Meinung vertreten habe, dass die Schutzbestimmung auf Ausländer nicht anzuwenden sei, könne der Beklagten auch kein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten unterstellt werden, vielmehr sei ihre Rechtsansicht vertretbar gewesen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Zwar sei strittig, inwieweit gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen Drittwirkung zukomme, der Kläger könne sich aber auf das Diskriminierungsverbot berufen, auch wenn dem eine positive österreichische Rechtsnorm entgegenstehe. Die Beklagte hätte sich als Spielbankenmonopolbetreiberin über die einschlägigen - auch europarechtlichen - Normen, insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV, informieren und erkennen müssen, dass die Einschränkung der Sorgfaltsgebote gemäß § 25 Abs 3 GSpG auf Inländer dagegen verstoße. Es seien daher Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Klägers, seinem Spielverhalten und zur Höhe seiner Verluste notwendig.
Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht mit der Begründung zu, dass zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art 12 EGV im Verhältnis zwischen einem Privaten und der ein Monopol betreibenden Beklagten keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs vorliege, ebenso wenig zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des Ersatzanspruchs gemäß § 25 Abs 3 GSpG idF des BGBl I Nr 105/2005 auf das Existenzminimum.
Gegen diese Entscheidung richten sich sowohl der Rekurs des Klägers als auch jener der Beklagten.
Rechtliche Beurteilung
A. Zum Rekurs des Klägers:
Der Kläger hat zwar den Aufhebungsbeschluss im Berufungsverfahren erwirkt, er kann aber dennoch dagegen Rekurs gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO erheben, wenn er sich durch die Begründung der Entscheidung für beschwert erachtet, weil damit eine umfassende Prüfung der Rechtsansicht des Berufungsgerichts bezweckt wird (Zechner in Fasching/Konecny² IV/1 § 519 ZPO Rz 107 f).
Der Kläger regte ein Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich des § 25 Abs 3 GSpG idF BGBl I 105/2005 an.
Diese Anregung hat der Oberste Gerichtshof aufgegriffen und zu 2 Ob 252/09m den Verfassungsgerichtshof angerufen, der mit Erkenntnis vom 27. 9. 2011, G 34/10-16, die Verfassungswidrigkeit jener Wortfolge des § 25 Abs 3 GSpG, in der die Haftung der Spielbankleitung der Höhe nach mit der Differenz zwischen dem nach Verlusten das Existenzminimum unterschreitenden Nettoeinkommen des Spielers unter Berücksichtigung seines liquidierbaren Vermögens einerseits und dem Existenzminimum andererseits abschließend beschränkt war, und höchstens das konkrete Existenzminimum betrug, festgestellt und ausgesprochen hat, dass diese Wortfolge auf die am 22. 6. 2011 bei Gericht anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist.
Damit hat es bei der aufhebenden Entscheidung des Berufungsgerichts zu bleiben. Bei der neuerlichen Entscheidung wird das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zu berücksichtigen sein.
Auf die weiteren Ausführungen des Rechtsmittels zur zeitlichen Anwendbarkeit der Bestimmung und ihrer verfassungsgemäßen Interpretation kommt es nicht mehr an.
B. Zum Rekurs der Beklagten:
Die Beklagte macht in ihrem Rekurs einerseits die Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung und andererseits die mangelnde Anwendbarkeit des Art 12 EGV auf sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln geltend und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteils. Weiters regt sie die Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs in diesem Zusammenhang an.
Der Rekurs der Beklagten ist im Hinblick auf Art 12 EGV zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.
I. Zur Nichtigkeit:
Die Beklagte beruft sich auf eine Nichtigkeit wegen nicht gehöriger Besetzung des Gerichts. Der Beschluss des Berufungssenats übernehme mit Ausnahme der Ausführungen der persönlichen Situation des Klägers wortgleich die Begründung des Beschlusses 4 R 129/09f des Berufungsgerichts. Der Senat habe sich daher mit der Sach- und Rechtslage in keiner Weise auseinandergesetzt und die Würdigung eines anderen Senats ungeprüft übernommen.
Die geltend gemachte Nichtigkeit liegt nicht vor.
Dem erkennenden Richter ist es nicht verwehrt, sich der Begründung eines anderen Gerichts (oder Senats) zur selben Rechtsfrage anzuschließen und diese zu übernehmen, unabhängig davon, ob er die Begründung mit eigenen Worten wiedergibt oder diese wortgleich übernimmt.
II. Zur Anwendbarkeit des Art 12 EGV:
Mit dieser Frage hat sich der Oberste Gerichtshof in der jüngst ergangenen Entscheidung 6 Ob 250/11z zur selben Rechtsfrage im Hinblick auf einen anderen Kläger, der ebenfalls italienischer Staatsangehöriger ist, ausführlich befasst. Er ist zusammengefasst zu dem Ergebnis gelangt, dass Art 12 EGV nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sehr weit aufzufassen ist, sodass Unionsbürger im Hinblick auf das allgemeine Recht der Freizügigkeit Anspruch darauf haben, nicht gegenüber den Angehörigen des Staates, in den sie sich begeben, ungleich behandelt zu werden. Deshalb sei § 25 Abs 3 GSpG aF aufgrund seiner inhaltlichen Beschränkung der Sorgfaltspflichten auf Inländer gegenüber EU/EWR-Ausländern iSd Art 12 EGV diskriminierend gewesen. Diese Verpflichtung betreffe nicht nur die EU-Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten, sondern auch natürliche und juristische Personen, „deren Handeln den Staaten zugerechnet wird“. Unter ausführlicher Behandlung der hiezu ergangenen Judikatur und Darstellung der Lehre gelangte der 6. Senat zum Ergebnis, dass die Beklagte die Kriterien eines Unternehmens iSd Art 86 Abs 2 EGV erfüllt und Art 12 EGV daher direkt auf sie anzuwenden ist. Die Beklagte hätte die Diskriminierung von EU/EWR-Ausländern unterlassen und ihre Schutzpflichten auch diesen Personen gegenüber wahrnehmen müssen. Da diese Bestimmung auch den Schutz der Vermögensinteressen einzelner Spieler bezwecke, sei sie als Schutzgesetz iSd § 1311 ABGB anzusehen und könne ihre Verletzung Schadenersatzansprüche des Spielers zur Folge haben.
Der erkennende Senat schließt sich diesen Erwägungen ebenso an wie jenen zur Vorwerfbarkeit dieses Verhaltens in subjektiver Hinsicht und zur groben Fahrlässigkeit der Beklagten.
Letztlich meint die Beklagte, sie sei im Hinblick auf den nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bestehenden Kontrahierungszwang einer Spielbank (6 Ob 48/01d) einer Pflichtenkollision ausgesetzt gewesen. Ein solcher Kontrahierungszwang schließt aber die Vorgangsweise nach § 25 Abs 3 GSpG keineswegs aus und kann jedenfalls nicht dazu führen, dass die Beklagte - wie im vorliegenden Fall - in keiner Weise tätig wird, also den Spieler nicht einmal warnt bzw zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen befragt oder diesbezüglich Auskünfte einholt.
III. Zur Anregung auf Einholung einer Vorabentscheidung:
Im Hinblick auf die zum Diskriminierungsverbot des Art 12 EGV vorliegende umfangreiche Judikatur, deren Anwendung auf den Einzelfall hier zu erfolgen hatte, und darauf aufbauende Literatur (vgl 6 Ob 250/11z mwN) war die Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs entbehrlich.
IV. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.
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