OGH 2Ob183/21g

OGH2Ob183/21g25.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Musger und Dr. Nowotny die Hofrätin Mag. Malesich sowie den Hofrat MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P* H*, vertreten durch Dr. Heinrich Oppitz, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagten Parteien 1. H* B*, 2. O* GmbH, *, und 3. O* AG, *, alle vertreten durch Posch, Schausberger & Lutz Rechtsanwälte GmbH in Wels, wegen 8.632,50 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 2.251,86 EUR sA) gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 2. Juni 2021, GZ 22 R 124/21y‑14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Wels vom 1. März 2021, GZ 42 C 153/20w‑10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00183.21G.1125.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 481,21 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 80,20 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Am Vormittag des 3. 7. 2020 ereignete sich auf der zum Unfallzeitpunkt maximal 7 Meter breiten, keine Leitlinie aufweisenden Voralpenstraße in Wels im Bereich der Zufahrt zum Servicecenter eines großen Unternehmens ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Halter und Lenker eines PKW Audi und der unmittelbar vor ihm fahrende Erstbeklagte als Lenker eines von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten Tankzugs beteiligt waren. Der Erstbeklagte beschleunigte den Tankzug nach Verlassen eines Kreisverkehrs auf 40 bis 50 km/h, ehe er rund 150 Meter vor der Einfahrt zum Servicecenter den linken Blinker setzte und die Geschwindigkeit auf zuletzt 10 km/h reduzierte. Bei Setzen des Blinkers achtete er durch einen Blick in Rück‑ und Seitenspiegel auf den nachfolgenden Verkehr. Da sich zu diesem Zeitpunkt kein Fahrzeug in Überholposition befand, lenkte er den Tankzug in Richtung Fahrbahnmitte, wobei er einen Abstand zum rechten Fahrbahnrand von bis zu 1 Meter einhielt. Einen zweiten Blick in den Spiegel unmittelbar vor Befahren der Gegenfahrbahn nahm der Erstbeklagte nicht vor. Bei einem solchen hätte er den mit „Überholabsicht“ fahrenden Audi erkennen und unfallvermeidend reagieren können. Der Kläger setzte in einem Zeitpunkt zum Überholen an, in dem der Erstbeklagte mit dem Tankzug bereits mindestens 5 Sekunden lang geblinkt und seine Geschwindigkeit deutlich reduziert hatte sowie in Richtung Fahrbahnmitte eingeordnet war. Die Einfahrt zum Servicecenter ist „weit und breit“ die einzige Abbiegemöglichkeit und war für den Kläger bereits 150 Meter vor dem Unfallort schon wegen des breiten „Zufahrtstrichters“ (Trichterlänge: 26 Meter) und zweier großer „Zufahrtsschilder“ deutlich erkennbar.

[2] Der Kläger begehrt die Zahlung von 8.632,50 EUR sA an Fahrzeugschaden, Ummeldekosten, Spesen und Schmerzengeld. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Erstbeklagten, der ohne Blick in den Rückspiegel und ohne rechtzeitiges Setzen des Blinkers links abgebogen sei. Da er in eine untergeordnete Verkehrsfläche abgebogen und aufgrund der Fahrbahnbreite ein erkennbares Einordnen zur Fahrbahnmitte nicht möglich gewesen sei, sei der Erstbeklagte verpflichtet gewesen, unmittelbar vor Beginn des Abbiegemanövers erneut einen Blick in den Spiegel zu machen.

[3] Die Beklagten wenden das Alleinverschulden des Klägers am Unfall ein. Dieser habe ein gegen § 16 StVO verstoßendes Überholmanöver eingeleitet, obwohl er das vom Erstbeklagten bereits ordnungsgemäß begonnene Einbiegemanöver erkennen hätte müssen. Die Beklagten wenden eine (der Höhe nach unstrittige) Gegenforderung von 2.928,77 EUR ein.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Den Kläger treffe aufgrund seines unzulässigen Überholmanövers das Alleinverschulden. Eine Verpflichtung des Erstbeklagten, unmittelbar vor Beginn des Abbiegemanövers erneut in den Spiegel zu blicken, sei zu verneinen, weil er rechtzeitig geblinkt und sein Fahrzeug zur Mitte hin eingeordnet habe. Die Einfahrt in die Betriebsliegenschaft sei für den Kläger gut zu erkennen gewesen. Selbst wenn man dem Erstbeklagten ein geringes Mitverschulden wegen des unterlassenen zweiten Blicks anlasten wollte, wäre dieses gegenüber dem grob fahrlässigen Verhalten des Klägers zu vernachlässigen.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die ordentliche Revision zu. Da die Zufahrt zum Betriebsgelände besonders auffällig und daher die „Linksabbiegestelle“ nicht zweifelhaft gewesen sei, sei eine Verpflichtung des Erstbeklagten zur Vornahme eines zweiten Blicks in den Spiegel zu verneinen. Ausgehend von den für die Beklagten günstigsten Prämissen sei von einem Seitenabstand des Tankzugs zum rechten Fahrbahnrand von 1 Meter und damit von dessen erkennbarem Einordnen auszugehen.

[6] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil das Berufungsgericht von Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs insoweit abgewichen sei, als in diesen allgemein ausgesprochen worden sei, dass beim Linksabbiegen in eine Betriebszufahrt ein weiterer Kontrollblick erforderlich sei.

[7] Gegen die Abweisung des Klagebegehrens im Umfang von 2.251,86 EUR sA richtet sich die Revision des Klägers. Dieser strebt unter Zugrundelegung gleichteiligen Verschuldens eine teilweise Abänderung des Urteils des Berufungsgerichts an; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist.

[10] 1. Hat der Lenker eines Fahrzeugs seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig angezeigt und sich davon überzeugt, dass niemand zum Überholen angesetzt hat, dann ist er nicht verpflichtet, unmittelbar vor dem Abbiegen nach links noch einmal den nachfolgenden Verkehr zu beobachten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass ein nachfolgender Fahrzeuglenker dieses Manöver wahrnehmen, sich vorschriftsmäßig verhalten und ihn rechts überholen werde. In diesem Fall braucht er auch an Kreuzungen nicht damit zu rechnen, links überholt zu werden (stRsp: RS0079255; 2 Ob 50/18v). Dieser Grundsatz gilt dann nicht, wenn besondere Gründe den Linksabbieger eine Gefahr erkennen lassen (2 Ob 229/03w) oder er damit rechnen muss, dass hinter ihm eine unklare Verkehrslage besteht (RS0073793). Ob die Unterlassung eines weiteren Rückblicks unmittelbar vor dem Linksabbiegen ein Verschulden begründet, hängt letztlich von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (RS0079255 [T7]; 2 Ob 121/18k).

[11] 2. Einen weiteren Kontrollblick verlangt die Rechtsprechung etwa dann, wenn die Einmündung, in die abzubiegen beabsichtigt ist, für nachkommende Verkehrsteilnehmer schwer erkennbar ist (RS0079255 [T14, T15]; 2 Ob 37/12y) oder wenn der Lenker zwar blinkte, aber nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet war oder sich nicht einordnen konnte (2 Ob 28/94; 8 Ob 20/87; 8 Ob 260/82 ZVR 1984/28).

[12] 3. Der Oberste Gerichtshof hat auch bereits mehrfach ausgesprochen, dass ein weiterer Rückblick bei Einbiegen in eine Grundstücks-, Betriebs- oder Hofzufahrt (RS0079255 [T2, T16 und T20]; RS0073793 [T4 und T9]) zu verlangen ist.

[13] 3.1. In der Entscheidung 11 Os 206/68 ZVR 1969/254 verneinte der Oberste Gerichtshof eine Verpflichtung des in eine Fabrikseinfahrt einbiegenden Lenkers zur Vornahme eines Kontrollblicks, weil der Nachfolgeverkehr die angezeigte Abbiegeabsicht eindeutig auf die breite Fabrikseinfahrt beziehen habe können.

[14] 3.2. In der Entscheidung 8 Ob 217/71 ZVR 1972/150 lastete der Oberste Gerichtshof einem Linksabbieger in eine Grundstückseinfahrt ein Mitverschulden von einem Drittel gegenüber einem überholenden Lenker an. Er stellte darauf ab, dass die konkrete Einfahrt nicht ohne Weiteres rechtzeitig erkennbar war, sodass der Nachfolgeverkehr Zweifel über die Abbiegeabsicht haben konnte, und bejahte folglich eine Verpflichtung zur Vornahme eines zweiten Rückblicks.

[15] 3.3. In der Entscheidung 8 Ob 116/73 ZVR 1974/179 sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass eine Verpflichtung zur Vornahme eines Kontrollblicks beim Linksabbiegen auch bei einer Einfahrt in ein Industriegelände nur dann anzunehmen sei, wenn diese Einfahrt ihrer Anlage, Breite, Ausgestaltung und Ausstattung mit Verkehrszeichen nach nicht dem Auffälligkeitswert einer einmündenden Straße entspreche. Wenn für den Nachfolgeverkehr ausreichend erkennbar sei, dass und wo abgebogen werden solle, bestehe keine Verpflichtung des Linksabbiegers zu einem Kontrollblick.

[16] 3.4. In der Entscheidung 8 Ob 135/82 ZVR 1983/239 bejahte der Oberste Gerichtshof eine Verpflichtung des Linksabbiegers zur Durchführung eines Kontrollblicks schon wegen nicht rechtzeitiger Betätigung des Blinkers und billigte eine Schadensteilung von 3 : 1 zu Lasten des Überholenden. Er verwies weiters darauf, dass beim Einbiegen in eine Hofeinfahrt für den Nachfolgeverkehr nicht ohne Weiteres zu erkennen sei, wann und wo das Fahrzeug nach links einbiegen werde.

[17] 3.5. In der Entscheidung 2 Ob 205/09z bejahte der Senat eine Verpflichtung zur Vornahme eines zweiten Kontrollblicks in einem Fall, in dem der Kläger mit einem „Quad“ mehr als 8 Meter vor Erreichen einer 8 Meter breiten Einfahrt zu einem Autohaus die Fahrbahnmitte überschritt und in einem sehr flachen Bogen nach links abzubiegen begann.

[18] 3.6. Zusammengefasst ist diesen Entscheidungen damit zu entnehmen, dass nicht gleichsam automatisch in jedem Fall, in dem ein Fahrzeug nach links in eine Grundstücks-, Betriebs- oder Hofzufahrt einbiegt, ein Kontrollblick geboten ist. Vielmehr ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu prüfen, ob für den Nachfolgeverkehr ausreichend erkennbar war, dass und wo abgebogen werden soll.

[19] 4. Demnach ist das Berufungsgericht nicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen. Es liegt auch keine aufzugreifende Fehlbeurteilung der einzelfallbezogen zu beantwortenden Frage vor, ob ein Kontrollblick erforderlich war.

[20] Die Betriebszufahrt war über eine Strecke von 150 Metern deutlich erkennbar und stellte die einzige Abbiegemöglichkeit „weit und breit“ dar. Angesichts der Breite der Zufahrt und der vorhandenen Schilder konnte ein nachfolgender Lenker keinen Zweifel über die Abbiegeabsicht des Erstbeklagten haben.

[21] Das (für die Beurteilung eines Verschuldens des Erstbeklagten zu Grunde zu legende [vgl RS0022560]) Einhalten eines Seitenabstands von 1 Meter zum rechten Fahrbahnrand durch den Tankzug ist bei einer Gesamtbreite der Fahrbahn von 7 Metern auch ohne Vorhandensein von Leitlinien als für den Nachfolgenden erkennbares Einordnen zur Mitte anzusehen. Der in diesem Zusammenhang gerügte sekundäre Feststellungsmangel liegt nicht vor, weil die Feststellungen zur Unfallörtlichkeit durch Bezugnahme auf die als Beilage vorgelegten und auch im verlesenen Strafakt erliegenden Lichtbilder ohne Weiteres ergänzt werden konnten (RS0121557 [T5 bis T7]).

[22] Die in der Revision erwähnte, nicht näher präzisierte Feststellung des Erstgerichts, wonach der Tankzug beim Einordnen in die Mitte „leicht ausholte“, hat das Berufungsgericht als überschießend qualifiziert. Mit dieser Rechtsansicht setzt sich der Kläger nicht auseinander, sodass sich nähere Ausführungen zur Frage erübrigen, ob dieses „Ausholen“ eine unklare Verkehrssituation schaffen konnte.

[23] Insgesamt hat das Berufungsgericht damit jedenfalls vertretbar eine Verpflichtung des Erstbeklagten zur Vornahme eines Kontrollblicks verneint.

[24] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagten in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen haben, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

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