Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie als Zwischenurteil insgesamt zu lauten haben:
Die Ansprüche der Klägerin auf Bezahlung von Schmerzengeld, Ersatz des Pflegeaufwandes, der Barauslagen (Wohnungskosten) sowie von Sachschäden bestehen dem Grunde nach zu 2/3 zu Recht, zu 1/3 nicht zu Recht.
Die Entscheidung über die Verfahrenskosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 16. August 1975 ereignete sich in Wien auf der Kreuzung Gablenzgasse-Fröbelgasse-Markgraf Rüdigerstraße ein Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin als Fußgängerin und der Beklagte als Lenker und Halter des PKW Peugeot 504, W 471.386, beteiligt waren. Der Beklagte wurde wegen dieses Unfalls des Vergehens nach § 88 Abs 1 und 4, erster Fall, StGB vom Strafbezirksgericht Wien durch das vom Landesgericht für Strafsachen Wien mit der Entscheidung vom 17. April 1984, AZ 13 C Bl 356/84, bestätigte Urteil vom 11. Jänner 1984, GZ 13 U 1558/83-5, schuldig erkannt, ihm vorgeworfen wurde, daß er Hermine K*** unter Außerachtlassung der im Straßenverkehr gebotenen Vorsicht niedergestoßen habe.
Die Klägerin stellte aus diesem Unfall Schadenersatzansprüche in der Gesamthöhe von S 700.993,-- s.A. und brachte vor, daß der Beklagte sie beim Überqueren der Fahrbahn der Gablenzgasse unter Einhaltung einer relativ überhöhten Geschwindigkeit aus Unaufmerksamkeit niedergestoßen habe. Sie sei zum Unfallszeitpunkt 78 Jahre alt gewesen und habe die Fahrbahn dementsprechend langsam überquert. Als sie diese betreten habe, habe sich der PKW des Beklagten noch außerhalb jedes Gefahrenbereiches befunden; als er sich einige Sekunden später der Überquerungslinie genähert habe, sei sie vernünftigerweise stehen geblieben, weil sie keine Gewißheit gehabt habe, bei ihrer langsamen Gehgeschwindigkeit noch rechtzeitig aus dem Bereich des PKW zu gelangen. Der Beklagte habe sich jedoch darauf verlassen, daß sie weiter die Fahrbahn überqueren würde, und habe hinter ihr vorbeifahren wollen.
Der Beklagte räumte einen Verschuldensanteil am Unfall von einem Drittel ein. Die Klägerin treffe jedoch ein Mitverschulden von zwei Dritteln, weil sie die Straße nicht entsprechend der Vorschrift des § 76 Abs 5 StVO in angemessener Eile überquert und sich vorher nicht entsprechend vergewissert habe. Darüber hinaus wendete der Beklagte zwei Drittel des Schadens an seinem PKW in der Höhe von S 4.000,--, somit S 3.333,--, aufrechnungsweise gegen den Klageanspruch ein.
Mit dem Teil- und Teilzwischenurteil vom 10. November 1985, ON 23, erkannte das Erstgericht das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht und die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend, verurteilte den Beklagten zur Bezahlung eines Betrages von S 232.350,-- und gab darüber hinaus dem Feststellungsbegehren statt. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung mit Urteil vom 22. Mai 1986, ON 33. Der Oberste Gerichtshof hob die Urteile der Vorinstanzen, die insoweit, als das Klagebegehren dem Grunde nach mit einem Drittel als zu Recht bestehend erkannt und festgestellt wurde, daß der Beklagte für alle Unfallfolgen zu einem Drittel zu haften habe, sowie der Beklagte schuldig sei, der Klägerin den Betrag von S 4.117,-- s.A. zu bezahlen, als nicht in Beschwerde gezogen unberührt blieben, mit Beschluß vom 17. Dezember 1986, ON 38, auf. Bei der Beurteilung des Mitverschuldens der Klägerin komme es nicht nur auf die bisher behandelte Frage an, ob sie in angemessener Eile über die Gablenzgasse gegangen sei und ob sie nach Erkennung der Gefahrenlage auf der Fahrbahn habe stehen bleiben dürfen, sondern auch darauf, ob sie überhaupt berechtigt gewesen sei, die Fahrbahn noch vor dem herannahenden PKW des Beklagten zu betreten. Nach ständiger Rechtsprechung müßten Fußgänger vor dem Überqueren der Fahrbahn die Verkehrslage sehr sorgfältig prüfen; sie dürfen gemäß dem letzten Satz des § 76 Abs 5 StVO den Fahrzeugverkehr nicht behindern. Demgemäß hätten sie die Annäherungsgeschwindigkeit von Fahrzeugen in Relation zu ihrer eigenen Gehrichtung und Gehgeschwindigkeit zu setzen und von der Überquerung der Fahrbahn Abstand zu nehmen, wenn dies nicht mehr gefahrenlos möglich sei. Im konkreten Fall sei daher zu prüfen, ob die Klägerin die Gablenzgasse noch vor dem sich nähernden Fahrzeug des Beklagten habe überqueren dürfen oder zufolge dessen Annäherung schon verpflichtet gewesen sei, die Vorbeifahrt des PKWs abzuwarten und erst dann auf die andere Straßenseite hinüber zu gehen. Im zweiten Rechtsgang erkannte das Erstgericht mit Zwischenurteil das Klagebegehren wiederum dem Grunde nach als zu Recht bestehend. Es traf folgende Feststellungen:
Am Unfallstag war es sonnig, die Fahrbahn war trocken. Die Gablenzgasse wird stadteinwärts als Einbahn geführt und weist in dieser Richtung zwei Fahrstreifen zuzüglich zweier Parkstreifen auf. Die Klägerin war zum Unfallszeitpunkt 78 Jahre alt und konnte sich wegen zweier Hüftgelenksoperationen nur schlecht und langsam bewegen. Ihre Gehgeschwindigkeit betrug zirka 3 km/h oder 0,83 m/sec. Sie beabsichtigte, die Gablenzgasse von der Markgraf Rüdigergasse kommend zu Fuß von rechts nach links aus der Fahrtrichtung des Beklagten gesehen zu überqueren. Die Fahrbahn war in Annäherungsrichtung des Beklagten gesehen links durch einen Kastenwagen verparkt und zwar mit einer Verparkungsbreite von 2,2 m. Als die Klägerin auf die Fahrbahn trat, befand sie sich nicht im Sichtbereich des sich annähernden PKWs. Sie mußte erst rund 1 m bis 1,2 m (entspricht 1,2 bis 1,4 Sekunden) zurücklegen, um das Fahrzeug des Beklagten zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt war es 51 bis 60 m entfernt. Unmittelbar nachdem die Klägerin den PKW des Beklagten wahrgenommen hatte, blieb sie stehen; sie wurde in der Folge vom Fahrzeug des Beklagten erfaßt. Die Kollisionsposition befand sich zirka 3,5 m vom rechten Fahrbahnrand weg. Bei der Ausgangsgeschwindigkeit des PKWs des Beklagten von 49 bis 50 km/h betrug sein Reaktionsverzug 1,5 bis 2,2 Sekunden. Dieser Reaktionsverzug war unfallsauslösend.
Rechtlich erachtete das Erstgericht ein Mitverschulden der Klägerin auch nach der Ergänzung des Verfahrens nicht als gegeben. Sie habe bei Betreten der Fahrbahn keine Sicht auf das sich annähernde Fahrzeug des Beklagten gehabt. Erst nachdem sie 1 bis 1,5 m in die Fahrbahn gegangen sei, habe sie dieses erkennen können. Daß sie daraufhin stehen geblieben sei, könne ihr nicht vorgeworfen werden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. Die Klägerin habe nicht mit einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Beklagten rechnen müssen; das Betreten der Fahrbahn sei daher nicht rechtswidrig gewesen. Im übrigen werde auf die Begründung des Urteils des ersten Rechtsganges verwiesen.
Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision des Beklagten aus dem Anfechtungsgrund des § 503 Abs 1 Z 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das Klagebegehren dem Grunde nach zu einem Drittel (auf der Grundlage einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin) zu Recht bestehe; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist teilweise berechtigt.
Der Beklagte macht zutreffend geltend, daß die Klägerin nach den getroffenen Feststellungen nur 1 m bis 1,2 m weit in die Fahrbahn der Gablenzgasse gehen mußte, um den sich nähernden PKW des Beklagten wahrzunehmen. Sie blieb zwar unmittelbar darauf stehen, doch hatte sie sich nach den weiteren Feststellungen der Vorinstanzen hiebei schon 3,5 m weiter in die Fahrbahn der Gablenzgasse begeben. Daraus folgt zwingend, daß sie angesichts des sich nähernden PKWs des Beklagten ihren Weg über die Fahrbahn in einer Länge von zumindest 2,3 m fortgesetzt hatte, ohne der raschen Annäherung dieses Fahrzeuges entsprechend Rechnung zu tragen. Gemäß § 76 Abs 5 letzter Halbsatz StVO dürfen Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn den Fahrzeugverkehr nicht behindern. Diese Regelung ist von dem Grundsatz beherrscht, daß die Fahrbahn in erster Linie für den Fahrzeugverkehr bestimmt ist. Demgemäß hätte die Klägerin nicht nur vor dem Betreten der Fahrbahn, sondern insbesondere auch bevor sie von jener Stelle, ab welcher sie Sicht auf den PKW des Beklagten hatte, wegging, in Betracht ziehen müssen, daß sich der PKW des Beklagten schnell näherte, sie selber aber infolge ihres Alters nur langsam gehen konnte. Ihre Gehgeschwindigkeit betrug nach dem Beweisergebnis nur 3 km/h, sodaß sie den herannahenden Beklagten - gleichgültig ob von einer Annäherungsgeschwindigkeit von 40 km/h oder 50 km/h ausgegangen wird - jedenfalls zu einer sofortigen Reaktion durch jähe Herabsetzung der Geschwindigkeit oder Auslenkung des Fahrzeuges nötigte. Damit liegt aber ihr Verstoß gegen § 76 Abs 5 letzter Halbsatz StVO klar auf der Hand. Das hohe Alter der Klägerin vermag diese nicht zu exkulpieren. Aus dem hohen Alter allein kann nicht gefolgert werden, daß sie die mit ihrem Verhalten verbundene Gefahr nicht habe erkennen können. Von ihr war vielmehr zu erwarten, daß sie die Vorbeifahrt des herannahenden PKWs des Beklagten aus gesicherter Position abwarten und erst dann mit der weiteren Überquerung der Fahrbahn beginnen werde.
Stellt man das Verschulden der Klägerin am Unfall jenem des Beklagten gegenüber, ist nicht zu übersehen, daß dieser eine gravierende Reaktionsverspätung zu verantworten hat, die mit 1,5 Sekunden bis 2,2 Sekunden deshalb besonders ins Gewicht fällt, weil der Unfall bei sofortiger Reaktion des Beklagten vermieden worden wäre. Sein Sorgfaltsverstoß gegenüber jenem der Klägerin ist als wesentlich schwerwiegender zu erachten, weil von ihm als geprüfter Fahrzeuglenker die rechtzeitige Reaktion auf das Fehlverhalten der Fußgängerin grundsätzlich erwartet werden kann. Den festgestellten Umständen wird daher eine Verschuldensteilung von 1 : 2 zu Lasten des Beklagten gerecht.
Die von den Vorinstanzen abweichende Beurteilung der Verantwortlichkeit der Unfallbeteiligten hat zur Folge, daß deren Zwischenurteil wie im Spruch der Entscheidung abzuändern war. Hiebei wurde berücksichtigt, daß die Parteien zu den in Betracht kommenden Ersatzposten außer Streit stellten, daß sie der Höhe nach mit je S 1,-- zu Recht bestehen (AS 77). Im übrigen wurde bei der Fassung des Urteilsspruches darauf Bedacht genommen, daß bereits im ersten Rechtsgang ua der Ausspruch über die grundsätzliche Haftung des Beklagten mit einem Drittel unbekämpft geblieben war.
Der Ausspruch über die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen beruht auf den §§ 52 Abs 2, 393 Abs 4 ZPO.
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