Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben, die Pflegschaftssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Text
Begründung
Der Jugendwohlfahrtsträger hat die Übertragung der Obsorge gemäß § 215 ABGB iVm § 176 ABGB wegen Gefährdung des Kindeswohls zu einem Zeitpunkt beantragt, indem die Eltern wegen Verdachts der Kindesmisshandlung verhaftet worden waren. Nachdem sich die Vorwürfe nicht erhärteten, wurden die Eltern Ende März 2011, kurz vor der Geburt der Minderjährigen G*****, aus der Untersuchungshaft entlassen.
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Antrag auf Übertragung der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung an den Jugendwohlfahrtsträger im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass die Eltern nunmehr in einem Reihenhaus mit einem kleinen Vorgarten wohnten, ein Kinderzimmer stehe zur Verfügung. Es gebe auch Besuchskontakte der Eltern, die seit Jänner 2012 Erziehungsberatung in Anspruch nehmen, zu beiden Kindern. Sowohl Mutter als auch Vater zeigten ihren Kindern gegenüber ein feinfühliges und empathievolles Verhalten, sie seien bemüht auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Auch der Vater sei erziehungsfähig, es gebe keinen Hinweis auf ein gewalttätiges Verhalten. Die Mutter sei im direkten Umgang verantwortungsbewusst. Aus psychologischer Sicht sei keine Gefährdung des Kindeswohls durch die Eltern ersichtlich.
Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Jugendwohlfahrtsträger erhobenen Rekurs nicht Folge. Selbst nach dessen Ausführungen sei der Besuchskontakt zwischen Eltern und Kindern positiv gewertet worden. Trotz jahrelangen Kontakts der Familie zu den zuständigen Jugendwohlfahrtsträgern hätte keinerlei Anzeichen von Misshandlungen der Kinder verifiziert werden können. Die Einschränkungen hinsichtlich der Wohnsituation und der mangelnden Krankenversicherung der Mutter seien mittlerweile behoben worden. Dass die Rückführung der Kinder aufgrund ihres längeren Aufenthalts bei Pflegeeltern einen schwerwiegenden Eingriff bedeute, könne nicht außer Acht gelassen werden, bilde aber keinen ausreichenden Grund dafür, den Kindern die wahren Eltern vorzuenthalten. Es komme hiebei auf die konkrete Ausgestaltung der Modalitäten einer behutsamen Rückführung an.
Rechtliche Beurteilung
Im außerordentlichen Revisionsrekurs weist der Jugendwohlfahrtsträger wieder auf die mittlerweile entstandenen Beziehungen und Bindungen in der Fremdunterbringung hin sowie darauf, dass die Minderjährige G***** nie im Haushalt der Eltern gelebt hat. Weiters wird das vom Erstgericht eingeholte Gutachten bemängelt und auf Vorbringen in anderen Schriftsätzen verwiesen.
In der Folge langte am 7. August 2012 beim Obersten Gerichtshof eine weitere Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers ein, wonach die bei den Eltern im Reihenhaus vorgefundenen Wohnverhältnisse in keiner Weise den Bedürfnissen von Kindern entsprechen. Die Eltern hätten keinen Mietvertrag. Sie verfügten nur über eine sehr kleine Küche, einen Raum im Obergeschoß (Kinderzimmer) und einen Raum im Erdgeschoß. Im Kinderzimmer befände sich ein alter verschmutzter Kasten, ein Bett und ein Gitterbett. Es gebe im Zimmer keine Lichtquelle außer einer kleinen Nachttischlampe. Der Boden bestehe aus einem extrem verschmutzten Spannteppich. Der Raum sei auch laut Angabe der Eltern derzeit nicht benutzbar. Auch die Küche im Erdgeschoß sei verschmutzt und überfüllt mit diversen Gegenständen. Das Zimmer der Eltern sei ebenfalls voll geräumt und habe keine Lichtquelle. Der Raum sei ungepflegt und schmutzig. Auch nehme die Mutter die ihr aufgetragene Erziehungsberatung nicht in Anspruch und verfüge über keine realistische Einschätzung über die Bedürfnisse ihrer Kinder. Die Lebensumstände der Eltern seien schon ohne Kinder als verwahrlost zu beschreiben. Eine Rückführung der Kinder würde deren Wohl gefährden.
Auch bei einem weiteren Hausbesuch im August 2012 sei die Wohnung düster, teilweise verschmutzt und wenig kinderfreundlich gewesen. Nach wie vor bestehe kein Mietvertrag.
Die Eltern, die diese Vorwürfe bestreiten, beantragen in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen, in eventu, ihm nicht Folge zu geben.
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne einer Aufhebung berechtigt.
Zwar herrscht im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich Neuerungsverbot, der Maxime des Kindeswohls ist im Obsorgeverfahren aber auch nach Inkrafttreten des neuen Außerstreitgesetzes dadurch zu entsprechen, dass der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen aufgetreten sind (RIS‑Justiz RS0119918 [T2], zu vom Jugendwohlfahrtsträger selbst vorgetragenen Tatsachen: 3 Ob 155/11g).
Da sich aus dem zu berücksichtigenden neuen Vorbringen des Jugendwohlfahrtsträgers Umstände ergeben, die ‑ bei ihrem tatsächlichen Bestehen ‑ eine Gefährdung des Kindeswohls bei der Rückführung der Kinder in die Pflege und Erziehung der Eltern befürchten lassenwürden, ist eine Aufhebung der vorinstanzlichen Beschlüsse und Rückverweisung an das Erstgericht zur näheren Prüfung der Lebensumstände, die die Kinder bei den Eltern erwarten, unumgänglich.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)