OGH 27Ds2/21g

OGH27Ds2/21g17.3.2022

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 17. März 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als weiteren Richter und durch die Rechtsanwälte Dr. Kretschmer und Dr. Schlager als Anwaltsrichter in Gegenwart des Schriftführers Mag. Socher in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwältin in *, wegen des Disziplinarvergehens der Berufspflichtenverletzung nach § 1 Abs 1 erster Fall DSt über die Berufung der Disziplinarbeschuldigten gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom 28. Oktober 2019, GZ D 219/15‑31, nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, des Kammeranwalts Mag. Jakauby, der Disziplinarbeschuldigten und ihres Verteidigers Mag. Unger zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0270DS00002.21G.0317.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Berufung wird das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt:

Die Disziplinarbeschuldigte * wird von dem wider sie erhobenen Vorwurf, sie habe sich am 23. September 2015 entgegen der ausdrücklichen Anweisung eines Mitarbeiters des Gerichts und ohne die Sicherheitskontrolle abzuwarten, Zutritt zum Bezirksgericht H* verschafft, gemäß § 3 DSt freigesprochen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde * des Disziplinarvergehens der Berufspflichtenverletzung nach § 1 Abs 1 (zu ergänzen: erster Fall) DSt „iVm § 4 GOG“ schuldig erkannt. Bemerkt wird, dass die Disziplinarbeschuldigte zufolge der rechtlichen Beurteilung des Disziplinarrats auch das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt begangen hat (ES 7 vierter Absatz), doch erfolgte diesbezüglich kein Schuldspruch (vgl ES 2). Eine Erwähnung bloß in den Gründen ist einem Schuldspruch jedoch nicht gleich zu halten (Lendl, WK‑StPO § 260 Rz 27; RIS‑Justiz RS0116266 [T5]).

[2] Über die Disziplinarbeschuldigte wurde nach § 16 Abs 1 Z 1 DSt die Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises verhängt.

[3] Inhaltlich des Schuldspruchs hat sie sich am 23. September 2015 entgegen der ausdrücklichen Anweisung eines Mitarbeiters des Gerichts und ohne die Sicherheitskontrolle abzuwarten, Zutritt zum Bezirksgericht H* verschafft.

Rechtliche Beurteilung

[4] Gegen das Erkenntnis richtet sich die Berufung der Disziplinarbeschuldigten wegen des Ausspruchs über die Schuld (vgl RIS‑Justiz RS0128656 [T1]) und die Strafe, wobei sie im Rahmen der Schuldberufung die Nichtigkeitsgründe des § 281 Abs 1 Z 9 lit a und 9 lit b StPO geltend macht.

[5] Die Behauptung der Rechtsrüge (Z 9 lit a), es liege keine Berufspflichtenverletzung vor, orientiert sich nicht an den Erkenntnistatsachen und wurde im Übrigen auch nicht aus dem Disziplinarrecht abgeleitet. Denn die Disziplinarbeschuldigte ist zum Tatzeitpunkt als Rechtsanwältin beim Bezirksgericht H* eingeschritten (ES 4). Die Besorgung fremder Angelegenheiten durch den Rechtsanwalt erfolgt gemäß § 2 Abs 1 RL‑BA 2015 in Ausübung des Berufs. Demgemäß war die Disziplinarbeschuldigte zur Einhaltung auch verwaltungsrechtlicher Gesetze (§ 9 Abs 1 RAO) verpflichtet (vgl Engelhart in Engelhart et al, RAO10 § 2 RL‑BA 2015 Rz 11). Es ist daher unzweifelhaft, dass ein Verstoß eines als Parteienvertreter intervenierenden Rechtsanwalts gegen das GOG (hier §§ 3 Abs 3, 4 Abs 1) eine Berufspflichtenverletzung nach § 1 Abs 1 erster Fall DSt darstellt.

[6] In weiterer Folge vermeint die Rüge, die Disziplinarbeschuldigte habe gar nicht gegen § 4 Abs 1 GOG zuwidergehandelt, weil diese Bestimmung ua Rechtsanwälte von der Sicherheitskontrolle gemäß § 3 Abs 1 und Abs 2 GOG ausnimmt. Dabei übersieht die Rüge jedoch, dass diese Ausnahmeregelung an die Bedingung geknüpft ist (vgl § 4 Abs 1 GOG aE: „wenn“), dass sich die eintretende Person mit einem Berufsausweis ausweist und erklärt, keine bzw erlaubterweise eine Waffe mit sich zu führen. Im Übrigen müssen auch Rechtsanwälte die Torsonde durchschreiten, wenn kein anderer für sie bestimmter Durchgang besteht (§ 4 Abs 1 letzter Halbsatz GOG). Die erwähnten Bedingungen wurden von der Disziplinarbeschuldigten nicht erfüllt (ES 4 f).

[7] Dem Einwand, die Anweisung durch den Sicherheitsbeauftragten ADir. * S* (ES 4 letzter Absatz) sei keine solche durch ein Kontrollorgan im Sinne des § 3 Abs 1 GOG gewesen, ist zu erwidern, dass sich die Disziplinarbeschuldigte der Sicherheitskontrolle entzog (ES 5 erster Abs), was unabhängig von einer Aufforderung durch den genannten Beamten jedenfalls eine Berufspflichtenverletzung darstellt. Die Feststellung der Aufforderung durch den Zeugen ADir. S* (ES 4 letzter Absatz) betrifft somit keine entscheidende Tatsache, sondern einen illustrativen Nebenumstand.

[8] Wie vom Disziplinarrat konstatiert (ES 4), war die Sicherheitsschleuse jedoch unbesetzt, mit dem Schild „Komme gleich“ versehen und die Zugangstüre vorerst versperrt, sodass für die Beschuldigte keine für sie bestehende Durchgangsmöglichkeit (vgl § 4 Abs 1 letzter Satz GOG) bestand. Angesichts dieser Situation stellt sich die Anbringung des Schildes „Komme gleich“ als, wenngleich schriftliche, so doch unmissverständlich erteilte Anordnung des Kontrollorgans im Sinn des § 3 Abs 3 GOG dar, dessen Rückkehr zwecks Einhaltung der in § 4 Abs 1 GOG geregelten, für Rechtsanwälte geltenden Vorgangsweise abzuwarten und diese nicht eigenmächtig zu umgehen.

[9] Es erübrigt sich, auf das Rügevorbringen gegen die Überlegungen des Disziplinarrats in Richtung § 1 Abs 1 zweiter Fall DSt (ES 7 vierter Absatz) einzugehen, weil – wie schon eingangs erwähnt – diesbezüglich gar kein Schuldspruch erfolgte.

[10] Die ins Treffen geführten Rechtsfehler mangels Feststellungen zur subjektiven Tatseite und zu einem Tatbildirrtum liegen nicht vor, weil sich die Disziplinarbeschuldigte ihrer Pflichten gemäß § 4 GOG bewusst war und ihr bei Betreten des Gerichtsgebäudes der damit begangene Rechtsbruch erkennbar gewesen sein musste (ES 7 fünfter Absatz).

[11] Der Sache nach zutreffend weist die Berufung allerdings auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 DSt hin (§ 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO iVm § 77 Abs 3 DSt).

[12] Gemäß § 3 DSt ist ein Disziplinarvergehen vom Disziplinarrat nicht zu verfolgen, wenn das Verschulden des Rechtsanwalts geringfügig ist und – kumulativ (vgl Feil/Wennig, AnwR8 § 3 DSt, 883) – sein Verhalten keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat. Spezial- oder generalpräventive Erwägungen sind hingegen kein Kriterium der Anwendung dieser Bestimmung (vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek RAO10 § 3 DSt Rz 2; RIS‑Justiz RS0114103).

 

[13] Die bei der zusätzlich vorzunehmenden Schuldgewichtung anzustellende Prüfung hypothetischer Strafzumessungsgründe hat entsprechend den Grundsätzen der §§ 32 ff StGB zu erfolgen (vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 3 DSt Rz 5). Vorliegend kommen der Beschuldigten mildernd die Unbescholtenheit, die im Tatsächlichen geständige Verantwortung und die überlange Verfahrensdauer von insgesamt über sechs Jahren zugute. Dem steht kein Erschwerungsumstand gegenüber. Bei der Schuldbewertung waren auch die besonderen Tatumstände, wonach das Disziplinarvergehen aus der Abwesenheit des damals eingesetzten einzigen Kontrollorgans resultierte, und das Wohlverhalten seit der Tat in Anschlag zu bringen.

[14] Folgen des inkriminierten Fehlverhaltens lagen nur in einer gewissen Publizität durch Befassung des Bundesministeriums für Justiz im Rahmen der Anzeigeerstattung, diese können aber im Vergleich mit dem doch deutlich reduzierten Schuldgehalt noch als geringfügig eingestuft werden, sodass nach § 3 DSt mit Freispruch vorzugehen war.

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