OGH 22Os1/16m

OGH22Os1/16m20.9.2016

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 20. September 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Anwaltsrichter Dr. Waizer und Dr. Mascher sowie den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Danzl in der Disziplinarsache gegen *****, Rechtsanwalt in *****, wegen einer einstweiligen Maßnahme über die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten gegen den Beschluss des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Tirol vom 3. Februar 2016, AZ D 11‑08G, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 60 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo. 2005, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0220OS00001.16M.0920.000

 

Spruch:

Der Beschwerde wird Folge gegeben und die einstweilige Maßnahme der Entziehung des Vertretungsrechts in Strafsachen vor dem Oberlandesgericht Innsbruck und allen untergeordneten Gerichten, somit dem Landesgericht Innsbruck, dem Landesgericht Feldkirch und sämtlichen untergeordneten Bezirksgerichten, ersatzlos aufgehoben.

Gründe:

Mit dem angefochtenen Beschluss wurde über den Disziplinarbeschuldigten die einstweilige Maßnahme der Entziehung des Vertretungsrechts in Strafsachen vor dem Oberlandesgericht Innsbruck und allen untergeordneten Gerichten, somit dem Landesgericht Innsbruck, dem Landesgericht Feldkirch und sämtlichen untergeordneten Bezirksgerichten, verfügt (§ 19 Abs 1 Z 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b DSt).

Begründet wurde diese einstweilige Maßnahme mit dem aufgrund der rechtskräftigen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Feldkirch vom 30. März 2015, AZ 6 St 15/10a, welche dem Disziplinarbeschuldigten die Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhinterziehung nach §§ 33 Abs 1, 38 FinStrG mit einem strafbestimmenden Wertbetrag von 469.722,82 Euro zur Last legt (ON 34), gegen den Disziplinarbeschuldigten geführten, noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren vor dem Landesgericht Innsbruck (AZ 24 Hv 44/15g).

Der Disziplinarrat erachtete darin einen an sich schwerwiegenden Vorwurf, mit dem im Weiteren (allenfalls) das Oberlandesgericht Innsbruck im Rechtsmittelverfahren befasst wäre. Da davon auszugehen sei, dass der Disziplinarbeschuldigte wegen des gegen ihn anhängigen Verfahrens nicht unbefangen auftreten und Interessen seiner Mandanten nicht mit Nachdruck vor jenen Strafgerichten und diesen übergeordneten Rechtsmittelgerichten vertreten könne, bei denen er sich selbst als Angeklagter zu verantworten hat, stünden Nachteile für die rechtssuchende Bevölkerung, aber auch für das Ansehen des Standes zu befürchten.

Ein Vorbringen dahingehend, dass bei der Entziehung der Vertretungsbefugnis vor den Strafgerichten die wirtschaftliche Existenz des Disziplinarbeschuldigten bedroht wäre, sei von diesem nicht erstattet worden.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten mit dem Antrag, die einstweilige Maßnahme ersatzlos aufzuheben.

Ihr kommt (nunmehr) Berechtigung zu.

Die Anordnung einer einstweiligen Maßnahme gemäß § 19 Abs 1 Z 1 DSt setzt voraus, dass gegen einen Rechtsanwalt als Beschuldigten oder Angeklagten ein Strafverfahren nach der StPO geführt wird und die einstweilige Maßnahme mit Rücksicht auf die Art und das Gewicht des dem Rechtsanwalt zur Last gelegten Disziplinarvergehens wegen zu besorgender schwerer Nachteile, besonders für die Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung oder das Ansehen des Standes, erforderlich ist.

Voraussetzung für eine einstweilige Maßnahme nach § 19 Abs 1 Z 1 DSt ist daher die Anhängigkeit eines Strafverfahrens nach der StPO, nicht aber der Nachweis einer (zugleich ein Disziplinarvergehen verwirklichenden) gerichtlich strafbaren Handlung (RIS‑Justiz RS0102722, RS0104960, RS0107306, RS0119609).

Mit (nun ausgefertigtem) Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 6. Juli 2016, AZ 24 Hv 44/15g, erging zu Faktum 1 der Anklageschrift hinsichtlich des strafbestimmenden Wertbetrags von 415.944,89 Euro ein Freispruch, zu Faktum 2 der Anklageschrift mit einem strafbestimmenden Wertbetrag von 38.486,76 Euro ein Schuldspruch (Geldstrafe in Höhe von 23.068,05 Euro, wobei die Hälfte der Geldstrafe für eine Probezeit von 2 Jahren bedingt nachgesehen wurde). Gegen diese Entscheidung meldeten Staatsanwaltschaft und Disziplinarbeschuldigter Nichtigkeitsbeschwerde, Letzterer auch Berufung an.

Wie der Disziplinarbeschuldigte selbst zugesteht (Pkt 3. seines Einspruchs zur Anklageschrift in ON 38), steht das Strafverfahren (und damit auch die mittlerweile erfolgte Verurteilung) zu Faktum 2 der Anklageschrift in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt.

Bei Rechtsanwälten handelt es sich um einen Berufsstand, an dessen Angehörige im Hinblick auf die Aufgaben, die von ihnen in Ausübung ihres Mandats wahrzunehmen sind, im öffentlichen Interesse besondere Anforderungen in Bezug auf die korrekte Einhaltung von Rechtsvorschriften zu stellen sind. Schon aus diesem Grund findet eine Bestimmung, die im Fall der Führung eines Strafverfahrens nach der StPO gegen den Rechtsanwalt als Beschuldigten oder Angeklagten (§ 19 Abs 1 Z 1 DSt) während der gesamten Dauer des Strafverfahrens die standes-behördliche Verhängung strenger einstweiliger Maßnahmen ermöglicht, ihre berufsspezifische Rechtfertigung (VfGH 28. 9. 1992, B 1380/91).

Die nun vorliegende Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist aber ausschließlich zu Gunsten des Disziplinarbeschuldigten ausgeführt und wendet sich gegen die – auch vom Gericht erkannte (Urteilsseite 15) – irrige Annahme der Entscheidungskompetenz (§ 53 Abs 1 FinStrG). Sie fordert (auch hinsichtlich des Schuldspruchs) einen Freispruch nach § 214 FinStrG.

Damit ist nach Lage des Falls die (zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz noch vorhandene) Grundlage für die vorliegende einstweilige Maßnahme weggefallen.

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