Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Obsorge für die beiden Minderjährigen deren Mutter Irene W***** übertragen wird.
Text
Begründung
Die Ehe der Eltern wurde am 20.Februar 1986 gemäß § 55 a EheG geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich übertrugen sie die Obsorge für die beiden Kinder dem Vater, der sich der Mutter gegenüber verpflichtete, für den Unterhalt der Kinder allein aufzukommen; dieser Vergleich wurde pflegschaftsgerichtlich genehmigt. Der Vater blieb mit den Kindern in der Ehewohnung; die Mutter zog aus. Sie übte ihr Besuchsrecht zunächst im Einvernehmen mit dem Vater aus.
Schon drei Monate danach beantragte die Mutter die Übertragung der Obsorge an sie. Sie sei mit der Übertragung an den Vater nur deshalb einverstanden gewesen, weil er sie "unter Druck gesetzt" habe. Nach Erstattung eines Gutachtens, in dem vorgeschlagen wurde, die Kinder zwar in ihrer vertrauten Umgebung zu belassen, jedoch der Mutter ein Besuchsrecht dreimal wöchentlich zu bewilligen, zog sie ihren Antrag "vorläufig" zurück. Zuletzt übte sie ihr Besuchsrecht an jedem zweiten Wochenende aus; die Ausübung des Besuchsrechtes ist jedoch mit erheblichen Zwistigkeiten zwischen den Eltern belastet.
Am 10.September 1991 beantragte die Mutter erneut die Übertragung der Obsorge an sie. Sie habe im Scheidungsfolgenvergleich nur massivem Druck des Vaters nachgegeben. Sie leide aber unter dem "Verlust" ihrer Kinder, zumal der Vater die Ausübung des Besuchsrechts willkürlich gestatte oder verhindere. Selbst die Kinder hätten vor ihrem Vater Angst, der sie überdies gegen sie aufhetze. Der ältere Sohn habe seiner Lehrerin gegenüber mehrfach geäußert, er wäre lieber bei der Mutter. Die häufig wechselnden weiblichen Hausangestellten des Vaters seien keine richtigen Bezugspersonen für die Kinder. Die gegenwärtige Haushälterin sei die Lebensgefährtin des Vaters. Sie leide unter epileptischen Anfällen; nun sei sie vom Vater schwanger. Die Kinder seien auch in ihrer Gesundheit gefährdet, weil der Arzt nicht oder nicht rechtzeitig konsuliert werde. Sie seien auch unzweckmäßig gekleidet. Bei ihr wären die Verhältnisse für die Kinder wesentlich günstiger. Ihr Ehemann sei Bauführer und besitze ein Einfamilienhaus mit großem Garten; sie sei ausschließlich im Haushalt tätig und würde daher zur Obsorge für die Kinder ausreichend Zeit aufwenden können.
Der Vater sprach sich gegen diesen Antrag aus.
Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter ab.
Es stellte fest, die Kinder ließen keine Präferenz für den einen oder den anderen Elternteil erkennen. Der Vater wohne mit ihnen in einem seinen Zieheltern gehörigen Haus. Den Kindern stünden ein Schlafzimmer und ein gesondertes Spielzimmer mit ausreichender Einrichtung zur Verfügung; im Hausgarten seien Spielgeräte aufgestellt. Während der berufsbedingten Abwesenheit des Vaters würden die Kinder von einer Haushälterin betreut. Die seit Frühjahr 1990 angestellte Haushälterin sei seine Lebensgefährtin. Ob sie unter epileptischen Anfällen leide, stehe nicht fest. Sie sei schwanger. Die beiden Kinder hätten sie gern und kämen gut mit ihr aus. Auch zu den Zieheltern des Vaters hätten sie sehr guten Kontakt. Beide Kinder besuchten derzeit die zweite Klasse der Volksschule. Der Schulbesuch bereite keine Probleme. Ihr Schulfortgang sei durchschnittlich. Der Vater sei an guter Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin interessiert und besuche auch verschiedene Schulveranstaltungen. Die Kinder erschienen zum Schulbesuch sauber und zeitgemäß gekleidet. Der Vater beweise bei der Einkleidung allerdings äußerste Sparsamkeit. In der Freizeit bemühe er sich sehr um seine Kinder; er vernachlässige sie auch in medizinischer Hinsicht nicht. Im Oktober 1990 habe der Vater allerdings einen Hautausschlag bei Michael zunächst mit einer einfachen Hautcreme zu behandeln versucht. Erst über Intervention der Mutter sei das Kind in einem Krankenhaus eine Woche lang stationär behandelt worden. Der Vater ergehe sich in strenger Erziehung, erwarte von seinen Söhnen Respekt und unbedingten Gehorsam und verlange von ihnen, nicht wehleidig zu sein, sondern Schmerzen mannhaft zu ertragen. Er habe ihnen auch schon mehrmals Schläge versetzt, wenn sie "etwas angestellt hatten". Bei der richterlichen Anhörung hätten die beiden jedoch Verständnis für diese Erziehungsmaßnahmen bekundet.
Die Mutter unterhalte zu ihren Kindern seit der Scheidung regelmäßigen Besuchskontakt. Seit Mai 1991 sei sie nur mehr im Haushalt tätig. Die beiden Kinder verstünden sich auch mit dem Ehegatten ihrer Mutter "recht gut". Beide freuten sich stets auf den Besuch, auch wenn es bei der Ausübung des Besuchsrechts immer wieder zwischen den Eltern zu Zwistigkeiten komme.
Rechtlich meinte das Erstgericht, das Kindeswohl sei beim Vater nicht gefährdet. Dieser übe sich zwar in einem äußerst autoritären Führungsstil; seine Erziehung werde derzeit von den Kindern aber gutgeheißen.
Das Gericht zweiter Instanz hob diesen Beschluß zur neuerlichen Entscheidung durch das Erstgericht nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, daß der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei. Die Änderung einer Obsorgeregelung sei grundsätzlich nur wegen einer sonst drohenden Gefährdung des Kindeswohls zulässig. Dazu reichten jedoch schon die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung elterlicher Pflichten aus. Dem Akteninhalt zufolge maße sich der Vater im Rahmen der Kindererziehung ein Züchtigungsrecht an. Da nach § 146 a ABGB die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen oder seelischen Leides schlechthin unzulässig sei, gefährde der Elternteil, der zu solchen Mitteln greife, das Kindeswohl. Nach § 146 a ABGB sei auch die "g'sunde Watschn" verboten. Nach den Feststellungen des Erstgerichtes könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Vater nicht auch künftighin zu solchen verbotenen Erziehungsmitteln greifen werde. Dabei sei es unerheblich, ob sie die Kinder als "nötig" oder als "verdient" bezeichneten oder nicht. Diese Erziehungsmaßnahmen seien jedenfalls geeignet, das Kindeswohl zu gefährden; ihre negativen Auswirkungen zeigten sich möglicherweise erst "im jugendlichen Alter" oder noch später. Es fehlten jedoch Feststellungen, aus denen der Schluß gezogen werden könnte, daß die Kinder beim Vater in gewaltfreier Atmosphäre aufwachsen könnten. Das Erstgericht werde daher den Sachverhalt weiter aufzuklären haben, zweckmäßigerweise durch Einholung eines fachpsychologischen Gutachtens. Dabei würden auch Feststellungen zu treffen sein, die eine Beurteilung zuließen, ob die Obsorge des Vaters aus dem Grunde des § 146 a ABGB eine Gefährdung des Kindeswohls darstelle oder solche Befürchtungen nicht berechtigt seien. Die Angaben der Kinder über ihre Präferenz für den Vater oder die Mutter seien für die Entscheidung ohne Bedeutung. Diese Frage überfordere die Kinder dieses Alters im hohen Maß und stürze sie mit großer Wahrscheinlichkeit in schwere Konflikte, die die Beziehungen zu beiden Elternteilen schwer belasteten. Außerdem werde festzustellen sein, ob die Lebensgefährtin des Vaters an Epilepsie leide und zutreffendenfalls, welche Auswirkungen dieses Leiden auf die Betreuung der beiden Kinder haben könne. Für die Beurteilung der Gefährdung des Kindeswohls sei es auch bedeutungslos, ob der Vater subjektiv von der Angemessenheit seiner Erziehungsmethoden und deren Eignung zur Vermeidung der Wehleidigkeit der Kinder überzeugt sei. Neige der Elternteil zur Ablehnung der Rechtsgrundsätze des § 146 a ABGB, könne er im allgemeinen nicht als geeigneter Erzieher der Kinder angesehen werden. Zu beachten sei auch, daß gerade für Kinder dieses Alters die Betreuung durch die Mutter wichtiger und zielführend sei als die Pflege und Erziehung durch Dritte. Es sei zu bedenken, daß der Vater an Werktagen berufsbedingt weitgehend abwesend sein werde. Der Grundsatz der Kontinuität der Kindererziehung könne überdies nicht um seiner selbst willen aufrechterhalten, sondern müsse dem Wohl der Kinder untergeordnet werden.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs des Vaters ist zulässig, weil zur Frage, in welcher Weise Verstöße gegen das im § 146 a ABGB (idFd Art I Z 5 KindRÄG) bei Obsorgeentscheidungen gemäß § 176 ABGB zu berücksichtigen sind, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehlt; er ist auch berechtigt, allerdings nicht im Sinne des Rekurswerbers, weil er - wie noch zu zeigen sein wird - nach den Verfahrensergebnissen zur Stattgebung des Antrags der Mutter führen muß. Eine solche Entscheidung kann der Oberste Gerichtshof treffen, weil die Erledigung von Rechsmitteln gegen rekursgerichtliche Aufhebungsbeschlüsse nicht dem Verbot der reformatio in peius unterliegt (§ 14 Abs 4 AußStrG; JAB, 991 BlgNR, 17.GP, 61; vgl hiezu SZ 48/136).
Die Mutter hat die Übertragung der Obsorge für die beiden neun und acht Jahre alten Kinder, die aufgrund des pflegschaftsgerichtlich genehmigten Scheidungsfolgenvergleiches dem Vater zusteht, an sie beantragt. Die Obsorge darf aber nach ständiger Rechtsprechung (EFSlg 62.864; SZ 51/136 uva; Pichler in Rummel, ABGB2 § 177 Rz 2) nur dann auf den anderen Elternteil übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB - also die Gefährdung des Kindeswohls - gegeben sind, der Obsorgeberechtigte demnach die elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt oder sogar subjektiv gröblich vernachlässigt hat (SZ 53/142 uva; Pichler aaO § 176 Rz 1). Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß die Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als Notmaßnahme angeordnet werden darf (EFSlg 62.865 ua). Vor allem dürfen Vorkehrungen im Sinne des § 176 ABGB nicht schon dann getroffen werden, wenn die Verhältnisse beim anderen Elternteil zwar an sich besser wären, die Pflege und Erziehung durch den Obsorgeberechtigten aber keinen Anlaß zur Besorgnis bietet (EFSlg 51.284 ua).
Gerade letzteres ist aber den erstinstanzlichen Feststellungen zu entnehmen: Der Vater praktiziere eine strenge Erziehung, fordere von seinen Kindern Respekt und unbedingten Gehorsam sowie mannhaftes Erdulden von Schmerzen und habe den Kindern schon mehrmals Schläge versetzt, wenn sie etwas "angestellt" haben. Durch die körperliche Züchtigung der Kinder verstieß er gegen das § 146 a ABGB durch Art I Z 5 KindRÄG angefügte, seit 1.Juli 1989 in Kraft befindliche Gewaltverbot, wonach die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen und seelischen Leides unzulässig sind. Es ist damit jede unzumutbare, dem Kindeswohl abträgliche Behandlung untersagt. Das schließt nicht nur Körperverletzungen und die Zufügung körperlicher Schmerzen ("g'sunde Watschn" - vgl Pernhaupt-Czermak, Die gesunde Ohrfeige macht krank (1980), 81 ff) aus, sondern auch jede sonstige die Menschenwürde verletzende Behandlung, selbst wenn das Verhalten vom Kind im konkreten Fall nicht als "Leid" empfunden werden sollte (Schwimann in Schwimann, ABGB § 146 a Rz 3). Zutreffend hält das Rekursgericht fest, nach den erstinstanzlichen Feststellungen müsse davon ausgegangen werden, daß der Vater auch weiterhin zu Mitteln der Gewalt greifen werde, um seine Anordnungen bzw. seine Erziehungsprinzipien durchzusetzen, meint aber in der Folge, es bedürfe weiterer tunlichst auf fachpsychologische Begutachtung gegründeter Feststellungen zur Frage, ob die Kinder in gewaltfreier Atmosphäre aufwachsen könnten. Bei dieser Argumentation gerät das Rekursgericht mit seinen eigenen durchaus zutreffenden Erwägungen in Widerspruch, bei der Einstellung des sich äußerst autoritär gebenden Vaters zu Erziehungsfragen, seiner strengen Haltung seinen Kindern gegenüber und seiner Art, handgreiflich zu reagieren, wenn die Kinder "etwas anstellen", könne nicht davon ausgegangen werden, daß er zu derartigen nach § 146 a ABGB verbotenen Erziehungsmitteln nicht mehr greifen werde; ebenso richtig bemerkt das Rekursgericht in diesem Zusammenhang auch, daß sich die negativen (sc. seelischen) Auswirkungen dieser Erziehungsweise möglicherweise nicht sofort, sondern erst in einigen Jahren (sc. etwa in der Pubertät der Kinder) bemerkbar machen werden.
Dann aber bedarf es keiner weiteren Ermittlungen mehr, weil von einer Gefährdung des Kindeswohls schon angesichts des bisherigen im Sinne des § 146 a ABGB rechtswidrigen Erziehungsverhaltens des Vaters - die gewaltfreie Erziehung ist erklärte Absicht der Novellierung der genannten Bestimmung - jedenfalls ausgegangen werden muß: Der Vater besteht auf der Respektierung seiner Person als Autorität und auf unbedingten Gehorsam und er neigt zu Gewaltaktionen, die schon begrifflich mit der Zufügung körperlichen und seelischen Leids verbunden sind; Anzeichen dafür, daß er zu einer besseren Einsicht gelangt wäre und daher von solchen rechtswidrigen Erziehungsmitteln in Hinkunft Abstand nehmen werde, können selbst seiner Aussage vor dem Erstgericht nicht entnommen werden.
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen liegt demnach der die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil erfordernde Tatbestand der Gefährdung des Kindeswohls im Sinne des § 176 ABGB infolge einer nachhaltig gegen das Gewaltverbot des § 146 a ABGB verstoßenden und schädlichen Erziehung durch den obsorgeberechtigten Vater vor. Von einem einmaligen Vorfall, der die Entziehung der Obsorge noch nicht rechtfertigen würde (vgl hiezu ÖA 1990, 52), kann hier keine Rede sein. Zutreffend hat das Gericht zweiter Instanz auch erkannt, daß die Meinung der beiden nicht einmal noch zehn Jahre alten Kinder bei der Obsorgeentscheidung des Gerichtes keinen Ausschlag geben kann. Die Bestimmung des § 178 b ABGB, die die Anhörung des Kindes vorsieht, sagt entgegen ihrer Überschrift nichts darüber aus, ob die Meinung des Kindes auch zu berücksichtigen ist (Pichler aaO Rz 6 hiezu); die Anhörung der Kinder dient in Wahrheit bloß dazu, daß der Richter die entscheidungswesentlichen Umstände auch aus deren Sicht und deren Empfindungen erkennen und ins Klare setzen kann (EFSlg 56.836, 45.890 ua). So wichtig es auch für den Richter ist, sich von der Familie bzw den Obsorgeverhältnissen ein Bild zu machen, so entspricht es doch gesicherter psychologischer Erkenntnis (Figtor in ÖA 1990, 7), daß die Befragung der Kinder nach ihrer Präferenz für den einen oder den anderen Elternteil - abgesehen von der entwicklungspsychologisch erklärbaren Unverläßlichkeit und fehlenden Signifikanz solcher Präferenzäußerungen - die befragten Kinder in hohem Maß überlastet und mit großer Wahrscheinlichkeit in schwere Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle oder gar Vergeltungsängste stürzt, was deren künftigen Beziehungen zu beiden Elternteilen schwer belastet und die seelische Entwicklung der Kinder gefährden kann.
Muß aber schon nach den vorliegenden Feststellungen eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls befürchtet werden, so bedarf es der weiteren vom Gericht zweiter Instanz angeordneten Erhebungen nicht mehr; in Stattgebung des Rekurses des Vaters ist dem Antrag der Mutter auf Übertragung der Obsorge an sie stattzugeben.
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