Spruch:
§ 1315 ABGB. Haftung des Unternehmers eines gefährlichen Betriebes für seine Angestellten ohne Rücksicht auf ihre Tüchtigkeit, soweit es sich um die von ihm geschaffenen Betriebsgefahren handelt.
Entscheidung vom 10. September 1947, 1 Ob 500/47.
I. Instanz: Landesgericht Innsbruck; II. Instanz: Oberlandesgericht Innsbruck.
Text
Durch einen Sturm wurden zwei Maste einer Hochspannungsleitung der erstbeklagten Partei, einer Wasserkraft A. G., umgeworfen. Dadurch hingen die Leitungsdrähte so tief herab, daß die Klägerin in der Dunkelheit mit ihnen in Berührung kam und schwere Brandwunden an der rechten Hand erlitt.
Die Klägerin begehrte in der Klage gegen die A. G. und einen Angestellten derselben die Zahlung einer monatlichen Rente von 113.76 S sowie eines Schmerzengeldes von 3.500 S.
Das Erstgericht gab der Klage gegen die erstbeklagte Partei teilweise statt und wies das Klagebegehren gegen die Zweitbeklagte ab.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der erstbeklagten Partei keine Folge,wohl aber der Berufung der Klägerin gegen die teilweise Abweisung ihres Begehrens gegen die erstbeklagte Partei und sprach der Klägerin die gesamten verlangten Beträge zu.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Erstgericht hat die Klage gegen St. abgewiesen, weil es der Ansicht war, daß er seine Sorgfaltspflicht durch Erstattung der Auswechslungsmeldung an seine Vorgesetzte, die Erstbeklagte, erfüllt habe. Der Oberste Gerichtshof kann sich dieser Ansicht nicht anschließen. St. hat, wie auch das Berufungsgericht feststellt, in der Beurteilung des Grades der von ihm festgestellten Kernfäule geirrt und ist darum zu einem falschen Urteil hinsichtlich der Widerstandsfähigkeit des Mastes 295 gelangt. Darin liegt ein von ihm als Sachverständigen zu vertretender Kunstfehler. Als erfahrender Leitungsrevisor durfte ihm ein solcher Fehlschluß nicht unterlaufen, da er aus der von ihm durchgeführten Nadelprobe bereits den Grad des Fäulnisprozesses erkennen mußte. Er hat aber auch außer acht gelassen, daß der Mast durch Abhackung des Splints bereits bedenklich verdünnt war und er hätte den Durchmesser (Zopfstärke) an der Einspannungsstelle nachmessen sollen, um festzustellen, ob er noch die vom Verband deutscher Elektrotechniker (VDE) bzw. des elektronischen Vereines in Wien (EVW) geforderte Mindeststärke besitze. Dies hat er verabsäumt und verkannt, daß der Mast in die Kategorie der sofort auszuwechselnden oder wenigstens mit Mastfuß zu versehenden gehörte. Da das Urteil in der Sache der Klägerin gegen St. nur in dieser Sache, also zwischen den Parteien, nicht aber in der vorliegenden Streitsache Rechtskraft besitzt und ihm eine erweiterte Wirkung auf die Beklagte nicht zukommt, steht es diesen Feststellungen, bzw. dieser von der des Erstrichters abweichenden Rechtsansicht nicht entgegen.
Für dieses Verschulden des St. haftet die Beklagte nicht nach § 1315 ABGB., da ein einmaliges Versehen eines Betriebsgehilfen noch nicht Untüchtigkeit im Sinne dieser Gesetzesstelle beweist (Ehrenzweig II/1, S. 689, GlUNF. 7436, 7178, 5882 u. a. m.) und andere Fälle von Untüchtigkeit weder behauptet noch bewiesen sind.
Allein der Oberste Gerichtshof hält es für unerläßlich, den Unternehmer eines gefährlichen Betriebes für seine Angestellten ohne Rücksicht auf ihre Tüchtigkeit haften zu lassen, soweit es sich um die von ihm geschaffenen Betriebsgefahren handelt. Die bloß auf Auswahl- und Beaufsichtigungsverschulden beschränkte Haftpflicht ließe in den meisten Fällen den Geschädigten ohne Ersatzanspruch, weil gerade bei Großbetrieben, wie dem der Beklagten, der Unternehmer notwendigerweise beides Zwischenpersonen überlassen muß. Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt dieser Rechtsansicht Ausdruck gegeben (GlUNF. 6182, vgl. auch 2486, 5249 und 7282), die auch in der Lehre von Ehrenzweig (II/1, S. 690) vertreten wird. Die österreichische Gesetzgebung hat den ihr zugrunde liegenden Gedanken schon im Eisebahnhaftpflichtgesetz vom 5. März 1869, RGBl. Nr. 27, § 1, Satz 2 ausgesprochen und er liegt auch dem Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz vom 9. August 1908, RGBl. Nr. 162, § 8, zugrunde. Die analoge Anwendung dieses Rechtsgedankens, die ein Gebot der sozialen Fürsorge und der Zweckmäßigkeit ist, verbietet sich durchaus nicht aus dem Gesichtspunkt der Unzulässigkeit der Ausdehnung von Sondergesetzen. Denn hier liegt gar keine Sonderbestimmung vor, sondern nur eine aus der besonderen Situation und der Schaffung außerordentlicher Betriebsgefahren entsprungene Ausdehnung des Grundsatzes der Gehilfenhaftung auf Fälle, in denen die für solche Fälle nicht berechneten Vorschriften des ABGB. keinen ausreichenden Schutz der Öffentlichkeit gewährleisten würden. Es ist lediglich vorausgesetzt, daß der Schaden einer Betriebsgefahr entsprungen ist und daß er von einem unselbständigen Angestellten, nicht also von einem Organ einer juristischen Person oder von einem Beauftragten, der selbst Unternehmer ist, oder von einem autorisierten Sachverständigen verursacht wurde, der die Weisungen des Auftraggebers nicht ohne eigene Prüfung ausführen dar (Ehrenzweig II/1, S. 691), sowie daß der Betriebsgehilfe (die Revision bezeichnet St. unrichtig als Erfüllungsgehilfen) in Ausübung seines Dienstes gehandelt habe. Alle drei Voraussetzungen treffen im vorliegenden Fall zu, so daß die Beklagte auch aus diesem Rechtgrunde für den eingetretenen Schaden zu haften hat.
Der Oberste Gerichtshof hat aber auch, wiederum in Übereinstimmung mit der Lehre (Ehrenzweig II/1, S. 652), in gewissen Grenzen die analoge Anwendung der Grundsätze des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes und des Automobilhaftpflichtgesetzes auf andere gefahrbringende Unternehmungen zugelassen. Wer ein solches Unternehmen betreibt, kann die Gefahr einer aus der Art des Betriebes entspringenden Verursachung von Schäden an Leib, Leben und Vermögen anderer nicht auf die Öffentlichkeit abwälzen, sondern muß für sie auch dann aufkommen, wenn ihm oder seinen Betriebsgehilfen ein Verschulden nicht nachgewiesen werden kann, insoweit nicht Selbstverschulden des Beschädigten, nicht zu vertretendes Verschulden Dritter oder höhere Gewalt vorliegt. Dieses Prinzip hat der Oberste Gerichtshof gerade gegenüber Elektrizitätsschäden schon lange vor Erlassung der Haftpflichtnovelle vom 15. August 1943, DRGBl. I S. 489, angewendet in Fällen, in denen Personen durch den Betrieb einer elektrischen Anlage unmittelbar oder mittelbar Schaden zugefügt wurde (SZ. VIII/72). Er gelangte dazu zum Teil durch ausdehnende Auslegung des § 18 Elektrizitätswege-Gesetzes vom 7. Juni 1922, BGBl. Nr. 348, der zunächst nur den Eigentümern, die mit Leitungsrechtes oder Dienstbarkeiten zugunsten elektrischer Anlagen belastet worden waren, Anspruch auf Ersatz vermögensrechtlicher Nachteile zuspricht, aber die Fälle der Beschädigung Dritter durch die Ausübung eines Leitungsrechtes nicht behandelt (Ehrenzweig II/1, S. 653/654, Anm. 109, 110).
Wenn also Pfundtner - Neubert in der Einleitung zum Gesetz vom 15. August 1943, DRGBl. I S. 489 (III b, 42, S. 6) die Notwendigkeit der Schaffung dieses Gesetzes mit der Unzulänglichkeit des deutschen Reichshaftpflichtgesetzes von 1871 begrundet und ausführt, daß bisher in Fällen wie dem des Elektrizitätsschadens Ersatz nur nach den Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes, also zumeist überhaupt nicht erlangt werden konnte, so treffen diese Erwägungen für Österreich nicht zu, das schon lange vor 1943 zu den gleichen Ergebnissen, wie sie nunmehr das noch in Geltung stehende Gesetz vom 15. August 1943 erzielt, auf dem Wege der Gesetzauslegung und der Analogie gelangte.
Die Haftung der Beklagten für den vorliegendenfalls verursachten Schaden durch Beschädigung der Klägerin an ihrem Körper ist von ihr daher auch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 15. August 1943 durch analoge Anwendung der im österreichischen Recht wiederholt verwirklichten modernen Grundsätze der Haftung für Betriebsgefahren begrundet.
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