Spruch:
Die Aufforderung, zur Annahme des Schriftstückes zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort "anwesend" zu sein, kann begrifflich nur an eine physische Person gerichtet werden. Ist eine bestimmte Person, zu deren Handen ein für eine juristische Person bestimmtes Schriftstück zuzustellen ist, von der Partei nicht bezeichnet worden und daher auch auf dem Gerichtsbrief nicht genannt worden, geht jeder Fehler des Zustellorgans zu Lasten der Partei, deren Schriftsatz zuzustellen ist.
Entscheidung vom 19. Dezember 1968, 1 Ob 286/68.
I. Instanz: Bezirksgericht Hernals; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.
Text
Die Klägerin kundigte der beklagten Partei das von dieser im Haus W., H.-Straße, gemietete Geschäftslokal zum 30. April 1968 auf. In der Kündigung war nicht angeführt, zu Handen welcher Person - die beklagte Partei ist eine Gesellschaft m. b. H. - die Kündigung zuzustellen sei. Der Gerichtsbrief wurde demzufolge nur an die beklagte Partei adressiert und am 25. März 1968 postamtlich hinterlegt. Der Geschäftsführer der beklagten Partei, Johann B., hat ihn am 2. April 1968 behoben; am 3. April 1968 erhob die beklagte Partei Einwendungen gegen die Aufkündigung.
Der Erstrichter sah die Einwendungen mit der Begründung als rechtzeitig erhoben an, daß die Aufkündigung der beklagten Partei erst am 2. April 1968 wirksam zugestellt worden sei; die Hinterlegung sei nicht wirksam gewesen, da Voraussetzung der Hinterlegung die Zustellung an einen der Geschäftsführer der beklagten Partei als deren gesetzlichen Vertreter gewesen wäre. Im übrigen hob er die Aufkündigung als rechtsunwirksam auf.
Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Ob die Unterinstanzen die Hinterlegung des Gerichtsbriefes mit der Aufkündigung am 25. März 1968 zutreffend als unwirksam angesehen und demzufolge in Anwendung der Bestimmung des § 108 ZPO. zutreffend die Einwendungen als rechtzeitig behandelt haben, ist eine Frage verfahrensrechtlicher Natur, deren Geltendmachung der Klägerin zufolge ihrer Beschränkung auf den Revisionsgrund nach § 503 Z. 4 ZPO., wie sie im § 502 (4) ZPO. normiert ist, verwehrt ist. Dieser Revisionsgrund dient nur zur Überprüfung der rechtlichen Beurteilung, der die Unterinstanzen den festgestellten, allenfalls den zur Begründung des Klagebegehrens behaupteten Sachverhalt in materiellrechtlicher Hinsicht unterzogen haben (vgl. dazu die bei Stagel - Michlmayr[12] zu § 503 Z. 4 ZPO. unter Nr. 1 angeführte Judikatur). Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß die Klägerin zulässigerweise nur die Rechtsansicht bekämpfen kann, die das Berufungsgericht bezüglich des Kündigungsgrundes nach § 19 (2) Z. 10 MietG. vertreten hat.
Richtig ist, daß anläßlich einer zulässigen Rechtsrüge Nichtigkeiten, also Verfahrensverstöße besonders schwerer Art, auch von Amts wegen aufgegriffen werden können und müssen, es sei denn, es liege über den Grund der Nichtigkeit eine bindende Entscheidung vor (vgl. dazu MietSlg. 6127, 6128, 6820, 17782, 18678). Unter diesem Blickpunkt muß erwogen werden, daß die Durchführung des Prozesses, falls die Einwendungen verspätet erhoben worden wären, gegen die Rechtskraft des über die Aufkündigung ergangenen Beschlusses (§§ 562, 564 ZPO.) verstoßen hätte (vgl. dazu auch Fasching III S. 172 zu § 240 ZPO. unter Anm. 10). Aber auch daraus läßt sich für die Klägerin nichts gewinnen, weil beide Unterinstanzen übereinstimmend (§ 528 ZPO.) entschieden haben, die Einwendungen seien rechtzeitig erhoben. Daß dies nicht in der Form eines Beschlusses auf Abweisung des zwar nicht expressis verbis, aber der Sache nach von der Klägerin bei der Tagsatzung vom 10. Mai 1968 gestellten Antrages auf Zurückweisung der Einwendungen als verspätet geschah, sondern nur in den Gründen beider Urteile, ist nach wiederholten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes nicht ausschlaggebend (vgl. dazu JBl. 1959 S. 37 = SZ. XXXI 74 u. a.). Da aber in Lehre und Rechtsprechung auch die gegenteilige Auffassung vertreten wird (vgl. dazu JBl. 1962 S. 315 mit Glosse Novaks, JBl. 1964 S. 569 u. a.), sei dem der Vollständigkeit halber beigefügt, daß in der Auffassung der Unterinstanzen, die Hinterlegung am 25. März 1968 habe nicht die Wirkung der Zustellung gehabt, kein Gerichtsfehler erblickt werden könnte. Die Aufforderung, zur Annahme des Schriftstückes zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort "anwesend" zu sein, kann begrifflich nur an eine physische Person gerichtet werden. Ist eine bestimmte Person, zu deren Handen zuzustellen sei, von der Partei, deren Schriftsatz zuzustellen ist, nicht bezeichnet worden (vgl. dazu Fasching II S. 553 f.) und daher auch vom Gericht auf dem Gerichtsbrief nicht genannt worden, geht jeder Fehler des Zustellorgans zu Lasten der Partei, deren Schriftsatz zuzustellen ist. Die im vorliegenden Fall vom Zusteller zurückgelassene, nicht auf eine bestimmte physische Person abgestellte Anwesenheitsaufforderung ging umsomehr ins Leere, als nach ständiger Judikatur eine Erkündigungspflicht des Adressaten nicht besteht; dies schließt auch die Aufrollung der Frage aus, ob er den (unwirksam) hinterlegten Brief früher beheben hätte können und müssen (vgl. dazu Fasching a. a. O. S. 598, MietSlg. 15619). Daß die beklagte Partei auch nicht verpflichtet war, schon vor Einleitung des konkreten Verfahrens Vorsorge dafür zu treffen, daß für sie bestimmte, eigenhändig zuzustellende Gerichtsbriefe jederzeit zugestellt werden könnten, hat das Berufungsgericht - gleichfalls unter Heranziehung von Faschings Kommentar (a. a. O. S. 595 f.) - bereits zutreffend dargelegt.
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