OGH 1Ob253/12f

OGH1Ob253/12f7.3.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der Klägerin A***** J*****, vertreten durch Dr. Christian Schöffthaler, Rechtsanwalt in Imst, gegen die beklagte Partei P***** B*****, vertreten durch Corazza Kocholl Laimer Rechtsanwälte OG in Innsbruck, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 5. Oktober 2012, GZ 3 R 231/12k‑12, womit infolge Berufung der Klägerin das Urteil des Bezirksgerichts Imst vom 25. April 2012, GZ 1 C 4/12t‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 559,15 EUR (darin enthalten 93,19 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die Ehe der Streitteile wurde mit Urteil des Erstgerichts vom 14. 7. 2003, GZ 3 C 14/03i-30, aus dem überwiegenden Verschulden des Beklagten geschieden. Mit weiterem Urteil desselben Gerichts vom 1. 6. 2005, AZ 3 C 64/04v, wurde der Beklagte verpflichtet, der Klägerin monatlich im Vorhinein bis zum Fünften eines Monats einen Unterhaltsbetrag von 250 EUR beginnend mit 1. 8. 2004 zu zahlen. Im Verfahren AZ 3 C 1/07h des Erstgerichts sprach das Berufungsgericht mit Urteil vom 27. 2. 2008 aus, dass der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegenüber dem Beklagten erloschen sei. Die Klägerin habe ein Verhalten gesetzt, welches den Verwirkungstatbestand nach § 74 EheG erfülle.

Nunmehr begehrt die Klägerin vom Beklagten beginnend mit April 2011 einen Unterhalt nach § 68a Abs 1 und Abs 2 EheG in der Höhe von 500 EUR monatlich. Sie habe während der Ehe den Haushalt geführt und die Kinder allein aufgezogen. Infolge der starken psychischen Belastung wegen der ständigen Auseinandersetzungen rund um die Auflösung der Ehe sei sie seit mehr als drei Jahren nicht mehr im Stande, einer Tätigkeit nachzugehen.

Der Beklagte wendete ein, ein Wiederaufleben eines einmal verwirkten Unterhaltsanspruchs sei nicht möglich; die Klägerin habe einen allfälligen Unterhaltsanspruch durch weitere Anwürfe gegen den Beklagten neuerlich verwirkt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil der Klägerin seit April 2011 zumindest die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung zumutbar gewesen wäre und es unbillig erscheine, der Klägerin ‑ auf Kosten des Beklagten ‑ die Pflege ihres gekränkten „Ichs“ und den Kampf gegen den Beklagten sowie die von ihr vermutete Verschwörung von Gerichten, Anwälten und Politikern zu ermöglichen.

Der dagegen von der Klägerin erhobenen Berufung gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge. § 74 EheG stelle eine Verwirkungsklausel für alle Unterhaltstatbestände dar, sodass bei rechtskräftig festgestellter Verwirkung auch eine Unterhaltsgewährung nach § 68a EheG nicht in Betracht komme. Da bereits die rechtskräftige Aberkennung des Unterhaltsanspruchs wegen Erfüllung eines Verwirkungstatbestands nach § 74 EheG die von der Klägerin begehrte Festsetzung eines Billigkeitsunterhalts ausschließe, erübrige sich eine Auseinandersetzung mit den übrigen in der Berufung angesprochenen Fragen.

Die ordentliche Revision erklärte das Berufungsgericht für zulässig, weil ‑ soweit überblickbar ‑ der Oberste Gerichtshof noch nicht zur Frage Stellung genommen habe, ob eine Verwirkung des Unterhalts nach § 74 EheG auch den Zuspruch des Billigkeitsunterhalts nach § 68a EheG ausschließe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen abzuändern und ihrem Begehren stattzugeben; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil der Oberste Gerichtshof zu der vom Berufungsgericht angesprochenen Frage noch nicht ausdrücklich Stellung genommen hat. Sie ist aber nicht berechtigt.

Gemäß § 74 EheG verwirkt der Berechtigte den Unterhaltsanspruch, wenn er sich nach der Scheidung einer schweren Verfehlung gegen den Verpflichteten schuldig macht oder gegen dessen Willen einen ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel führt. Die Unterhaltsverwirkung nach dem ersten Fall dieser Bestimmung setzt ein besonders gravierendes, das Maß schwerer Eheverfehlungen im Sinne des § 49 EheG übersteigendes Fehlverhalten gegen den früheren Ehegatten voraus, sodass dem Verpflichteten die Unterhaltsleistung für alle Zukunft nicht mehr zumutbar ist (RIS‑Justiz RS0078153 [T6]; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , EuPR [2011] § 74 EheG Rz 2; und 5; Stabentheiner in Rummel , ABGB³ § 74 EheG Rz 2 je mwN). Ab dem Zeitpunkt, in dem die Voraussetzungen für eine Verwirkung des Unterhalts gegeben sind, kann ein Unterhaltsanspruch für die Zukunft nicht mehr geltend gemacht werden. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass ein einmal erloschener Unterhaltsanspruch nicht wieder aufleben kann (RIS‑Justiz RS0114621; RS0078153 [T2]). Diese Auffassung wird auch in der Lehre geteilt (vgl Zankl/Mondel in Schwimann/Kodek , ABGB 4 I § 74 EheG Rz 17; Stabentheiner aaO Rz 4; Schwimann/Kollmasch , Unterhaltsrecht 4 , 205).

Der Ansicht des Berufungsgerichts, die rechtskräftig festgestellte Verwirkung des Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegenüber dem Beklagten wegen Erfüllung des Tatbestands nach § 74 erster Fall EheG führe dazu, dass ihr auch ein verschuldensunabängiger Unterhaltsanspruch nach § 68a Abs 1 und 2 EheG nicht gebühre, tritt die Klägerin mit dem Hinweis entgegen, der Gesetzgeber habe mit § 68a Abs 3 EheG eigene Regeln dafür aufgestellt, wann ein solcher Anspruch nicht oder nicht zur Gänze zu gewähren sei, weswegen der Unterhaltstatbestand des § 68a EheG nicht von der wesentlich älteren Verwirkungsnorm des § 74 EheG erfasst werde. Das folge auch daraus, dass § 68a Abs 3 EheG auf schwerwiegende Eheverfehlungen, § 74 EheG hingegen auf „schwere Verfehlungen“ abstelle.

Dem ist zu erwidern:

Das Eherechts‑Änderungsgesetz 1999 (EheRÄG 1999, BGBl I 1999/125) hat mit § 68a Abs 1 und 2 EheG zwei Fälle eingeführt, in denen ein Unterhaltsanspruch unabhängig vom Verschulden des Berechtigten an der Scheidung gebührt und damit die unterhaltsrechtlichen Bestimmungen zu Gunsten der Vermeidung von Härtefällen ergänzt. Das ist der Fall, wenn die Selbsterhaltung dem Berechtigten wegen der Pflege und Erziehung gemeinsamer Kinder unzumutbar ist (Abs 1) oder eine mangelnde Erwerbsmöglichkeit wegen ehebedingter Absenz vom Berufsleben vorliegt (Abs 2).

§ 68a Abs 3 enthält zum Unterhaltsanspruch nach Abs 1 und 2 eine Unbilligkeitsklausel, die im Gesetzwerdungsprozess Gegenstand intensiver politischer Diskussionen war, weil sich bei jeder Loslösung der Scheidungsfolgen vom Scheidungsverschulden die Grundfrage stellt, inwieweit bei der Entscheidung über den nachehelichen Unterhaltsanspruch im Einzelfall nicht doch Verfehlungen des an sich berechtigten gegenüber dem an sich verpflichteten Ehegatten oder vergleichbare Umstände zu berücksichtigen sind ( Hopf/Kathrein , Eherecht² § 68a EheG Anm 9 mit Verweis auf die RV 1653 BlgNR 20. GP sowie den JAB 1926 BlgNR 20. GP 2 ff).

Nach der vom Gesetzgeber gefundenen Lösung steht der Anspruch nach § 68a EheG dem Grunde nach unter der Voraussetzung, dass die Gewährung des Unterhalts nicht unbillig erscheint. Nach § 68a Abs 3 EheG besteht der an sich zu gewährende Unterhalt unter anderem nicht oder nicht in voller Höhe, soweit dies unbillig wäre, weil der Unterhaltsberechtigte einseitig besonders schwere Eheverfehlungen begangen hat. Dieser Unbilligkeitsgrund bezieht sich auf ein Verhalten während der Ehe und nicht auf Verstöße gegen nacheheliche Pflichten ( Stabentheiner aaO § 68a EheG Rz 10). Diese Bestimmung soll den Zuspruch von Unterhalt verhindern, wenn der Unterhaltsberechtigte während aufrechter Ehe derart eklatant gegen eheliche Gebote verstoßen hat, dass nach dem objektiven Gerechtigkeitsempfinden aller vernünftig denkender Menschen ein Unterhaltszuspruch schon dem Grunde nach unbillig erscheint (vgl 1 Ob 171/02g = JBl 2004, 45 [Kerschner] = EvBl 2003/114; 6 Ob 108/08p = EF‑Z 2008, 226 mwN).

Ein derartiges Verhalten der Klägerin wurde nicht geltend gemacht. Für die Frage, ob die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs wegen eines nach der Scheidung gesetzten Verhaltens dem von der Klägerin nunmehr begehrten verschuldensunabhängigen Unterhaltsanspruch entgegensteht, ist das Verhältnis der Bestimmungen der §§ 68a EheG und 74 EheG zueinander zu klären.

An sich zutreffend verweist die Revisionswerberin darauf, dass der Verwirkungstatbestand des § 74 EheG unverändert in seiner Stammfassung besteht und daher wesentlich älter ist als die Regelung des § 68a EheG. Zum Verhältnis dieser Bestimmung zu § 74 EheG nehmen die Gesetzesmaterialien des EheRÄG 1999 nicht Stellung. In der Lehre wird dazu überwiegend die Meinung vertreten, dass ein Verhalten nach der Scheidung bei der Beurteilung der Billigkeit im Sinn des § 68a Abs 3 EheG außer Betracht bleibt, aber zur Verwirkung nach § 74 EheG führen kann ( Zankl/Mondel aaO § 68a EheG Rz 32; Schwimann/Kollmasch aaO 202). Danach gilt § 74 EheG auch für den verschuldensunabhängigen Unterhaltsanspruch nach § 68a EheG. Auch nach Deixler‑Hübner (Grundfragen des neuen verschuldensunabhängigen Unterhaltsanspruchs nach § 68a EheG, ÖJZ 2000, 707 [713]) besteht § 74 EheG neben § 68a Abs 3 EheG. Ob das Verhalten des Berechtigten nach der Scheidung bei der Beurteilung der Unbilligkeit nach § 68a Abs 3 EheG als Tatsache, die eine Verwirkung im Sinne des § 74 EheG zur Folge hat, im Vorfeld eines Verfahrens in die Entscheidung über einen Unterhaltsanspruch nach § 68a EheG im Rahmen der Billigkeitsklausel Eingang findet (so Deixler‑Hübner aaO), muss hier nicht untersucht werden. Den genannten Lehrmeinungen liegt zugrunde, dass § 74 EheG ganz allgemein für alle Unterhaltstatbestände als Verwirkungsklausel auch nach Inkrafttreten des EheRÄG 1999 gilt (so [ausdrücklich auch zu § 68a EheG] Hirsch , Der Billigkeitsbegriff im nachehelichen Unterhaltsrecht. Eine vergleichende Gegenüberstellung der unterschiedlichen Bedeutung des Billigkeitsbegriffs in den §§ 67 ff EheG, JBl 2008, 545 [556]; Deixler-Hübner aaO).

Gitschthaler (aaO § 68a EheG Rz 35) bezieht zur Frage, inwieweit nacheheliches Verhalten des Anspruchsberechtigten Auswirkungen auf seinen Unterhaltsanspruch nach § 68a EheG haben kann, wie folgt Stellung: „Bei Beurteilung der Frage, ob dem Unterhaltsberechtigten ein Unterhaltsanspruch nach § 68a EheG überhaupt zusteht, kommt es darauf an, ob er (während der Ehe) besonders schwerwiegende Eheverfehlungen begangen hat. Wird dies verneint, begeht er aber nach der Scheidung (lediglich) schwere Eheverfehlungen, verwirkt er den Unterhaltsanspruch gem[äß] § 74 EheG.“ Dies erscheine nach Meinung des Autors auch insofern billig, als es bei der Beurteilung eines Verhaltens des Unterhaltsberechtigten nach der Scheidung als unterhaltsverwirkend nicht darauf ankommen könne, welcher konkrete Unterhaltsanspruch tatsächlich gegeben sei.

Für diese Lösung spricht auch die Systematik, in die der Gesetzgeber des EheRÄG 1999 die Bestimmung des § 68a EheG eingefügt hat. Danach regelt das Ehegesetz im Kapitel „E. Folgen der Scheidung“ unter Punkt II. (Unterhalt) zunächst die Unterhaltspflicht bei Scheidung wegen Verschuldens (lit a). Dazu zählen die Unterhaltstatbestände der §§ 66 bis 68a Ehe. Daran schließen die Regelungen über die Unterhaltspflicht bei Scheidung aus anderen Gründen (lit b) und über die Art der Unterhaltsgewährung (lit c) an. Den Abschluss der unter II. zusammengefassten Regeln über den Unterhalt bildet der Abschnitt lit d, in dem das Gesetz unter der Überschrift „Begrenzung und Wegfall des Unterhaltsanspruchs“ unter anderem in § 74 die Verwirkung regelt.

Dieser Gesetzesaufbau bietet keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Verwirkungstatbestand des § 74 EheG nicht für alle Unterhaltstatbestände gelten solle. Der erkennende Senat teilt daher die Auffassung, dass es für die Frage der Verwirkung nach dieser Gesetzesstelle nicht darauf ankommt, welcher konkrete Unterhaltstatbestand tatsächlich gegeben ist, dass der Verwirkungstatbestand des § 74 EheG für alle in §§ 66 ff EheG geregelten Unterhaltstatbestände gleichermaßen gilt. Ein nach § 74 EheG einmal verwirklichter Unterhaltsanspruch lebt nicht wieder auf (RIS‑Justiz RS0114621). Dieser Grundsatz kommt auch für den Unterhaltsanspruch nach § 68a Abs 1 oder 2 EheG zum Tragen und hindert dessen Gewährung, wenn ‑ wie hier im Fall der Klägerin ‑ feststeht, dass der Berechtigte seinen Anspruch auf Unterhalt gegenüber dem Pflichtigen verwirkt hat.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmung des § 74 erster Fall EheG bestehen weder im Hinblick auf das Gleichheitsgebot noch in Beziehung auf die Art 6 und 8 MRK, weswegen die Anregung der Revisionswerberin, ein Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten, nicht aufzugreifen ist.

Da die Vorinstanzen das Klagebegehren zu Recht abgewiesen haben, ist der Revision der Klägerin ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50 Abs 1, 41 Abs 1 ZPO.

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