Spruch:
Es kann dem überlebenden Gatten nicht verwehrt werden, das eheliche Kind in Pflege und Erziehung zu nehmen. Eine andere Regelung sieht das Gesetz nur dann vor, wenn die Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB. gegeben sind und das Wohl des Kindes gefährdet ist.
Entscheidung vom 31. März 1954, 1 Ob 233/54.
I. Instanz: Bezirksgericht Innere Stadt - Wien; II. Instanz:
Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.
Text
Die 1943 ehelich geborene X. litt seit der Geburt an einer Hüftgelenksluxation. Im Jahre 1944 wurde wegen dieses Leidens operiert und wurden ihr Metallschienen angelegt. Nach der Rückkehr vom Wehrmachtsdienste wurde die Ehe der Eltern 1947 aus dem Alleinverschulden des Gatten geschieden. In diesem Verfahren wurde festgestellt, daß er mit dem Kinde lieblos, grob und brutal war, es wiederholt anbrüllte und es grob angefaßt hat.
Als die Mutter des Kindes 1946 erkrankte, zog sie mit dem Kinde zur mütterlichen Großmutter, die das Kind betreute. Im Jahre 1953 ist die Mutter des Kindes gestorben. Seit dem Tode der Mutter kam die Großmutter für die Auslagen des Kindes allein auf und hat der Vater des Kindes in dieser Zeit überhaupt keinen Alimentationsbetrag geleistet. Der eheliche Vater hat wieder geheiratet.
Die mütterliche Großmutter stellte unter Hinweis darauf, daß die mj. Irene ihr sehr zugetan sei und es auch der in einer letztwilligen Anordnung der ehelichen Mutter festgehaltene Wunsch gewesen sei, daß das Kind bei ihr bleibe, den Antrag, das Mädchen ihr in Pflege und Erziehung zu überlassen. Demgegenüber begehrte der Vater, daß ihm nunmehr nach dem Tode seiner Gattin die Pflege und Erziehung des Kindes anzuvertrauen sei.
Das Erstgericht hat den Antrag des ehelichen Vaters abgewiesen und angeordnet, daß die mj. Irene weiter in Pflege und Erziehung der mütterlichen Großmutter zu bleiben hat.
Dem Rekurs des ehelichen Vaters hat das Rekursgericht nicht Folge gegeben.
Der Oberste Gerichtshof gab dem außerordentlichen Revisionsrekurs des Kindesvaters Folge, hob den Beschluß des Rekursgerichtes auf und wies die Rechtssache an das Rekursgericht zur neuerlichen Entscheidung zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Die im bürgerlichen Recht verankerte gemeinschaftliche Erziehung der ehelichen Kinder durch beide Elternteile hat eine Lebensgemeinschaft der Eltern zur Voraussetzung. Besteht aber eine solche Lebensgemeinschaft nicht, dann ist eine gemeinschaftliche Erziehung unmöglich. Für diesen Fall trifft hinsichtlich der Regelung der Pflege und Erziehung ehelicher Kinder § 142 ABGB. die notwendigen Bestimmungen. Diese Gesetzesstelle ist also nicht nur anzuwenden, wenn die Ehe der Eltern geschieden wurde, sondern auch dann analog heranzuziehen, wenn bei aufrechter Ehe die Elternteile getrennt voneinander leben (Klang, 1. Aufl., I. Band, S. 858).
Wenn daher das Rekursgericht im Gegensatz zum Erstgericht die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 142 ABGB. im vorliegenden Falle verneinte, wird diese Ansicht geteilt.
Mit dem Ableben eines Elternteiles kann es aber dem überlebenden Gatten nicht verwehrt werden, das eheliche Kind in Pflege und Erziehung zu nehmen, eine andere Regelung sieht das Gesetz nur dann vor, wenn die Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB. gegeben sind und durch die vorhandenen Umstände das Wohl des Kindes gefährdet ist.
Die Rechtsmeinung des Rekursgerichtes, daß über diese Vorschriften des bürgerlichen Rechtes hinaus die Rechte des überlebenden Elternteiles allein schon durch das Wohl und die Interessen des Kindes ihre Schranken finden, ist aber offenbar gesetzwidrig.
Vom Pflegschaftsgericht kann hinsichtlich der Pflege und Erziehung eines ehelichen Kindes bei Vorhandensein eines Elternteiles nur unter den Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB. und, soweit dadurch das Wohl des Kindes gefährdet wird, eine andere Verfügung getroffen werden (GlUNF. 6492). Es sind daher bei Entscheidung über die Frage, in wessen Pflege und Erziehung ein eheliches Kind nach dem Ableben eines Elternteiles zu kommen hat, nicht nur die Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB. von Amts wegen zu prüfen, sondern auch der Umstand zu klären, ob selbst bei Vorhandensein der erwähnten gesetzlichen Bestimmungen eine Schädigung oder Gefährdung des leiblichen, geistigen und sittlichen Wohles des Kindes zu befürchten ist, wobei zur Gefährdung ein einmaliger Vorfall genügt, auch wenn dieser in der Vergangenheit liegt, wenn es sich nur um eine gegenwärtige Gefährdung handelt (Klang, 1. Aufl., zu § 142 ABGB., S. 953; Ehrenzweig, 6. Aufl., 2. Band, S. 230).
Die Rechtsansicht des Rekursgerichtes aber, daß über diese im bürgerlichen Recht verankerten Grundsätze schon allein das Wohl und das Interesse des Kindes eine andere Verfügung zu rechtfertigen vermögen, steht mit dem Gesetz im Widerspruch, weshalb die Entscheidung des Rekursgerichtes aufzuheben und dem Gericht zweiter Instanz die neuerliche Beschlußfassung aufzutragen war, weil das Rekursgericht zur Frage, ob die Voraussetzungen im Sinne der §§ 176 bis 178 ABGB. gegeben sind, nicht Stellung genommen hat.
Hiezu war aber das Rekursgericht verpflichtet, da schon im Entscheidungsstreit der Ehegattin P. das brutale und grobe Benehmen des Vaters geltend gemacht wurde und im übrigen nach der Aktenlage vorgebracht worden ist, daß der Vater seit dem Tode seiner Gattin seiner Alimentationsverpflichtung schuldhafter Weise nicht nachgekommen ist.
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