Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß der erstinstanzliche Beschluß ersatzlos aufgehoben wird.
Text
Begründung
Die Ehe der Eltern der jetzt zehnjährigen Minderjährigen wurde mit Beschluß vom 27. Mai 1994 im Einvernehmen geschieden. Das Kind kam in die alleinige Obsorge der Mutter, die in der vormaligen Ehewohnung verblieb und seit Mai 1994 mit ihrem späteren Ehegatten (im folgenden nur Stiefvater) zusammenlebte. Dem Vater wurde ein Besuchsrecht eingeräumt.
Nach dem Tod der Mutter am 23. März 1999 beantragten der Vater, die mütterliche Großmutter und der Stiefvater die Obsorgezuteilung jeweils an sie. Die Minderjährige erklärte, unbedingt in der Wohnung ihres Stiefvaters und ihres dreijährigen (Halb)Bruders bleiben zu wollen, weil ihr beide derzeit wegen ihrer traurigen Situation durch den Verlust der Mutter sehr helfen würden; sie wolle keinesfalls von dort weg. Die mütterliche Großmutter erklärte, es für unmenschlich und wahnsinnig zu halten, die beiden Kinder jetzt auseinanderzureißen; außerdem brauche das Kind derzeit jene Wohnung, also ihre gewohnte Umgebung, in der sie mit ihrer Mutter gelebt habe, zur Aufarbeitung der derzeitigen Situation.
Das Erstgericht bestellte - ohne Anhörung des Vaters und des Jugendwohlfahrtsträgers (§ 215 Abs 2 ABGB) - den Stiefvater über dessen Antrag zum vorläufigen Sachwalter für die "Regelung der Pflege und Erziehung" der Minderjährigen, weil dies iSd §§ 145, 145b Abs 2 ABGB im Interesse des Kindeswohls gelegen sei, um der Minderjährigen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe und in ihrer gewohnten Umgebung den erst zehn Tage zurückliegenden Tod ihrer Mutter verarbeiten zu können, zumal der Vater angekündigt habe, die Minderjährige gleich bei sich zu behalten.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ sich dabei von folgenden Erwägungen leiten: Das Erstgericht habe zu Recht § 145b Abs 2 ABGB angewendet; der seit dem Ableben der Mutter bestehende Vertretungsmangel rechtfertige eine Sachwalterbestellung. Mit dem Rekursvorbringen, es sei unzulässig, trotz Erziehungsfähigkeit des Vaters und der (mütterlichen) Großmutter die vorläufige Obsorge an jemanden zu übertragen, der für die Obsorge nie in Frage komme, lasse der Vater das in der gegenwärtigen Situation von ihm zu erwartende Verständnis und Einfühlungsvermögen für seine zehnjährige Tochter vermissen. Allein der Umstand, daß der Vater (bereits) sechs Tage nach dem Tod der Mutter bei Gericht einen Antrag auf Zuteilung der Obsorge an ihn gestellt habe, dokumentiere, daß er seiner Tochter nur wenig Zeit zur Aufarbeitung ihrer derzeit menschlich tragischen Situation zubillige. Obwohl im erstinstanzlichen Beschluß mehrmals der ausdrückliche Wunsch des Kindes auf Belassung der derzeitigen Familiensituation erwähnt worden sei, finde sich im Rekursvorbringen kein Wort zu diesem Wunsch, sondern der Vater ziehe sich auf gesetzliche Bestimmungen sowie auf seinen vermeintlichen Rechtsanspruch zurück. Das Erstgericht versuche bloß, die faktische familiäre Situation der Minderjährigen zunächst aufrecht zu erhalten, um gemeinsam mit dem Stiefvater und ihrem (Halb-)Bruder den Verlust ihrer Mutter aufarbeiten zu können. Noch dazu handle es sich bei der derzeitigen Wohnung des Stiefvaters um die frühere Ehewohnung der leiblichen Eltern, sodaß die Minderjährige bisher nie, auch nicht durch die Ehescheidung ihrer Eltern, aus ihrer bis dahin gewohnten Umgebung herausgerissen worden sei; durch die vom Vater beantragten gerichtlichen Maßnahmen würde die Minderjährige gegen ihren Willen also nicht nur ihre Mutter, sondern auch noch ihre gewohnte Umgebung, in der sie bisher aufgewachsen sei, verlieren. Daß eine solche Maßnahme zehn Tage nach dem Tod der Mutter nicht dem Wohl des Kindes entspreche, liege auf der Hand und sei vom Erstgericht zutreffend begründet worden.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist entgegen dem Ausspruch der zweiten Instanz iSd § 14 Abs 1 AußStrG zulässig; er ist auch berechtigt.
Ist ein Elternteil, dem die Obsorge für das Kind allein zugekommen ist, gestorben, so hat das Gericht unter Beachtung des Wohles des Kindes zu entscheiden, ob die Obsorge ganz oder teilweise dem anderen Elternteil oder ob und welchem Großelternpaar (Großelternteil) sie zukommen soll (§ 145 Abs 1 zweiter Satz ABGB idFd KindRÄG BGBl 1989/162). Tritt somit eine Behinderung bei jenem Elternteil ein, der bisher allein die Obsorge hatte, so hat das Gericht mit Beschluß zu entscheiden, wem unter den in § 145 Abs 1 ABGB Genannten die Obsorge für das Kind nun zukomme. Der erkennende Senat hat bereits in seiner Entscheidung 1 Ob 2396/96a = EFSlg 83.835 ausgesprochen, bei einem Konkurrenzfall sei dem geschiedenen ehelichen Elternteil, der die Obsorge nach § 177 ABGB verloren habe, der Vorrang vor den Großeltern des ehelichen Kindes dann einzuräumen, wenn das Kindeswohl beim Elternteil und bei den Großeltern annähernd gleicherweise gewährleistet sei. Daran ist festzuhalten. Eine Obsorgezuteilung an den Stiefvater kommt angesichts der klaren Regelung des § 145 ABGB dann nicht in Frage, wenn die dort genannten Personen zur Übernahme der Obsorge des Kindes geeignet sind. Über die Obsorgezuteilung wurde indes hier nicht entscheiden.
Soweit in einem Teilbereich die Vermögensverwaltung, die Vertretung oder die Pflege und Erziehung keiner Person zusteht, der die Obsorge im übrigen zukommt, ist erforderlichenfalls ein Sachwalter zu bestellen (§ 145b Abs 1 ABGB idFd KindRÄG). Sind einzelne Handlungen der Obsorge zur Wahrung des Wohles des Kindes dringend nötig und liegen die Voraussetzungen des § 145 Abs 1 erster Satz ABGB bei den Personen vor, denen bezüglich dieser Handlungen die Obsorge zukommt oder bis zu ihrem Tod zugekommen ist, so ist ebenfalls ein Sachwalter zu bestellen (§ 145b Abs 2 ABGB idFd KindRÄG). Danach ist somit bei tatsächlicher oder rechtlicher Verhinderung des Obsorgeberechtigten iSd § 145 Abs 1 ABGB (Tod ua) auch dann ein Sachwalter zu bestellen, wenn einzelne Obsorgehandlungen zur Wahrung des Kindeswohls dringend nötig sind, die der Verhinderte hätte vornehmen sollen (Schwimann in Schwimann2 § 145b ABGB Rz 2). Welche konkreten einzelnen Obsorgehandlungen die Vorinstanzen in Ansehung der Minderjährigen als dringend nötig ansahen, sind den vorinstanzlichen Beschlüssen nicht zu entnehmen. Solche dringend notwendigen konkreten Obsorgehandlungen sind auch nicht zu erkennen. Die von den Vorinstanzen als gegeben erachtete "Gefahr", daß der Vater die Minderjährige zu sich nehme, besteht in Wahrheit nicht, ist doch ein Gerichtsbeschluß notwendig, ob die Obsorge ganz oder zum Teil auf den anderen Elternteil, dem die Obsorge bisher nicht zukam, oder auf die Großeltern zu übertragen sei (Pichler in Rummel2, § 145 ABGB Rz 2a). Dem Gericht ist auch die Befugnis eingeräumt, bis zur endgültigen Entscheidung über die nunmehrige Obsorge für die Minderjährige eine vorläufige Entscheidung zu treffen, wobei auch hier das Kindeswohl bei der Auswahl des vorläufig Obsorgeberechtigten das maßgebliche Kriterium ist. In diesem Rahmen kann auch darauf Bedacht genommen werden, ob die Minderjährige in ihrem bisherigen Lebensumfeld bleiben soll. Wenn somit einzelne Handlungen der Obsorge zur Wahrung des Wohles des Kindes dringend nötig sind, ist ein Sachwalter nach § 145b Abs 2 ABGB zu bestellen, wenn dagegen nur die Obsorge bis zur endgültigen Entscheidung darüber geregelt werden soll, ist die Obsorge vorläufig zuzuteilen. Für ersteres liegen die Voraussetzungen hier nicht vor, sodaß auf die Frage, ob auch der Stiefvater als Sachwalter bestellt werden könnte, wenn (geeignete) Personen des § 145 Abs 1 ABGB vorhanden sind, nicht eingegangen werden muß.
Auf die Frage, ob in analoger Anwendung des § 211 ABGB schon seit dem Tod der obsorgeberechtigten Mutter bis zu einer anderen Entscheidung des Gerichts der Jugendwohlfahrtsträger Vormund ist - Pichler (aaO § 211 ABGB Rz 1) schränkt diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut auf den unvertretenen Zustand bei und unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ein -, kommt es demnach nicht mehr an.
Dem Revisionsrekurs ist Folge zu geben; die Entscheidungen der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, daß der erstinstanzliche Beschluß ersatzlos aufgehoben wird.
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