OGH 1Ob176/07z

OGH1Ob176/07z11.9.2007

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. E. Solé und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am 3. Dezember 2002 geborenen mj Christian H***** infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Patricia H*****, vertreten durch Dr. Ulla Reisch, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 16. Mai 2007, GZ 43 R 293/07t-S33, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Wie die Revisionsrekurswerberin selbst erkennt, hängt die Beurteilung, ob eine Gefährdung des Kindeswohls gemäß § 176 ABGB gegeben ist, regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab, sodass ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof nur bei einer gravierenden Fehlbeurteilung durch das Rekursgericht zulässig wäre (vgl nur RIS-Justiz RS0114625 ua). Eine solche liegt hier jedoch nicht vor. Das Kindeswohl ist iSd § 176 ABGB gefährdet, wenn die Obsorgepflicht nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt wird oder sonst schutzwürdige Interessen des Kindes ernstlich und konkret gefährdet werden, wobei die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung genügt, ohne dass ein subjektives Schuldelement hinzutreten müsste (vgl nur die Judikaturnachweise bei Hopf in KBB² § 176 ABGB Rz 2); dazu gehört etwa auch das Nichtbewältigen der Erziehungsaufgaben (5 Ob 513/95 = EFSlg 78.164).

2. Das Erstgericht hat nach umfangreichen Erhebungen festgestellt, dass die Mutter nicht ausreichend erziehungsfähig ist, wenig Problembewusstsein hat und etwa keinen Bedarf sieht, sich mit Umstellungsreaktionen und Belastungen des Kindes im Falle eines Pflegeplatzwechsels zu ihr auseinanderzusetzen. Sie unternimmt keine Versuche, ihre Erziehungskompetenz zu verbessern. Auch wenn sie sich um einen liebevollen Umgang mit dem Sohn bemüht, besteht immer wieder Unbeteiligtheit, mangelndes Einfühlungsvermögen und sehr wenig Lenkung. Eine Trennung des Kindes von der Pflegefamilie würde eine schwere Traumatisierung bewirken, welche zu einer massiven Irritierung mit diversen Verhaltensauffälligkeiten führen müsste. Die körperliche, emotional-soziale und kognitive Entwicklung des Kindes wäre bei Betrauung der Mutter mit der Pflege und Erziehung ernsthaft beeinträchtigt.

Entgegen der Auffassung der Revisionsrekurswerberin liegen somit ausreichende Tatsachenfeststellungen vor, die die Prognose zulassen, eine Betreuung des Kindes durch die Mutter würde diesem auf Grund ihrer fehlenden Erziehungskompetenz schaden. Konkretere Feststellungen über die einzelnen, dem Kind drohenden Nachteile sind nicht erforderlich.

3. Nicht recht verständlich sind die Revisionsrekursausführungen zum „Prinzip der Familienautonomie" und dem Vorrang leiblicher Eltern bei Obsorgeentscheidungen. Ein Vorrang der Betreuung von Kindern durch die leiblichen Eltern hat jedenfalls (weiterhin) dort seine Grenzen, wo das Kindeswohl iSd § 176 Abs 1 ABGB gefährdet würde. Das bloße „Bemühen" um einen liebevollen Umgang mit dem Kind, auf das die Revisionsrekurswerberin wiederholt hinweist, ist keinesfalls ausreichend, wenn die Erziehungskompetenz objektiv fehlt.

4. Eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegt keinesfalls darin, dass das Rekursgericht nicht - von Amts wegen - erhoben hat, ob im Zeitpunkt der Rekursentscheidung (zwei Monate nach der Entscheidung des Erstgerichts) „nach wie vor eine Kindeswohlgefährdung vorlag", die eine Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger rechtfertigte. Abgesehen davon, dass eine solche maßgebliche Änderung in den entscheidungswesentlichen Tatsachen auch im Revisionsrekurs gar nicht behauptet wird, besteht nicht der geringste Anlass zur Annahme, dass eine (habituelle) Erziehungsinkompetenz in kürzester Zeit weggefallen sein könnte. Wenn die Revisionsrekurswerberin letztlich darauf verweist, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung sei, übersieht sie, dass damit nicht eine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen aktuellen Umstände gemeint sein kann. Auch nach der neueren höchstgerichtlichen Judikatur (4 Ob 2/07h) sind (nur) neue aktenkundige Entwicklungen, die nach der Beschlussfassung durch die Vorinstanz eingetreten sind, von der höheren Instanz im Interesse des Kindeswohls zu berücksichtigen.

5. Durch das Fehlen einer Begründung des Ausspruchs über die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses ist die Mutter nicht beschwert, sodass darin kein erheblicher Mangel des Rekursverfahrens liegt. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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