European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0010OB00167.14M.0918.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Der nunmehr elfjährige F***** ist der Sohn der Rechtsmittelwerberin und ihres Ehemanns. Mit rechtskräftigem Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 3. 4. 2003 wurde beiden Elternteilen gemäß § 176 ABGB aF die Obsorge über ihren Sohn entzogen und dem örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträger übertragen. Der Minderjährige lebt seit März 2003 bei Pflegeeltern.
Das Erstgericht wies den Antrag beider Elternteile vom 6. 3. 2012 auf Rückübertragung der Obsorge für ihren Sohn auf sie ab.
Das Rekursgericht gab dem allein von der Mutter erhobenen Rekurs nicht Folge und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Die Übertragung der Obsorge auf die leiblichen Eltern führe zumindest zu deutlichen Einschränkungen der Kontakte des Minderjährigen zu seinen primären Bezugspersonen (Pflegeeltern) und zu seinem gesamten Lebensumfeld. Der Minderjährige lebe seit mehr als zehn Jahren in der Pflegefamilie. Zu seinen leiblichen Eltern bestehe keine Bindung; sein Verhältnis zu ihnen sei von Angst geprägt. Die leiblichen Eltern negierten diese Umstände gänzlich; ihr Wunsch gehe in Richtung einer sofortigen Übergabe des Minderjährigen ohne entsprechende Kontaktanbahnung, was ihren Mangel an Förderkompetenz zeige. Die Rückführung des Minderjährigen zu den leiblichen Eltern führe nicht bloß zu vorübergehenden Umstellungsschwierigkeiten, sondern zu einer konkreten und ernsten Gefahr für seine weitere Entwicklung.
In ihrem dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf:
Rechtliche Beurteilung
1. Die behauptete Aktenwidrigkeit und eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegen nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).
2. Soweit sich die Mutter über die vom Erstgericht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen hinwegsetzt, ist ihr entgegenzuhalten, dass der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz ist (RIS‑Justiz RS0007236). Fragen der Beweiswürdigung sind nicht revisibel (RIS‑Justiz RS0043125 [besonders T12]; vgl RS0043414 [T19]). Der Revisionsrekursgrund der Aktenwidrigkeit kann nicht als Ersatz für eine im Revisionsrekursverfahren unzulässige Beweisrüge herangezogen werden (RIS‑Justiz RS0117019, zuletzt zum AußStrG 10 Ob 31/13a).
3. Hatte eine Einschränkung der elterlichen Rechte und Pflichten bereits stattzufinden, muss ‑ wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen hat (9 Ob 28/04i mwN; 5 Ob 103/10y; 9 Ob 25/14p) ‑ bei einem Antrag auf Rückführung des Kindes in die Pflege und Erziehung der leiblichen Eltern (hier: der Mutter) ‑ nunmehr nach § 226 ABGB idF KindNamRÄG 2013 ‑ mit großer Wahrscheinlichkeit klargestellt sein, dass nunmehr die ordnungsgemäße Pflege und Erziehung durch den antragstellenden Elternteil, dem schon einmal die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, gewährleistet ist und keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht (RIS‑Justiz RS0009676; RS0048731 [T1, T6]; vgl RS0109080 [T1]). Da das Kindeswohl auch bei der Aufhebung von Maßnahmen dem Elternrecht vorgeht (RIS‑Justiz RS0118080), muss eindeutig feststehen, dass die Wiederherstellung der Obsorge der Mutter dem Kindeswohl dient (5 Ob 103/10y). Dabei ist nicht nur von der aktuellen Situation auszugehen, sondern auch eine Zukunftsprognose anzustellen; ein Obsorgewechsel hat zu unterbleiben, wenn keine sichere Prognose über dessen Einfluss auf das Kind vorliegt (RIS‑Justiz RS0048632 [T2, T3, T6]). Bei der Entscheidung ist zu berücksichtigen, ob ‑ vor allem bei einem längeren Aufenthalt bei einem Dritten ‑ die Notwendigkeit der Trennung von diesem zu psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und damit zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würde; dabei stehen aber nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes ergeben würden (RIS‑Justiz RS0009673 [T4]). Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind, hängt grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls ab (RIS‑Justiz RS0115719).
4. Die ausführlich begründeten und sämtliche Beweisergebnisse berücksichtigenden übereinstimmenden Entscheidungen der Vorinstanzen tragen den dargelegten Grundsätzen Rechnung. Der Minderjährige lebt seit März 2003 bei Pflegeeltern. Seit damals fanden lediglich sieben Kontakte zwischen ihm und seinen leiblichen Eltern statt. Er hat keine Bindung zu seinen Eltern aufgebaut und derzeit Angst vor ihnen. Die Förderkompetenz der Eltern bezüglich ihres Sohns ist nicht gegeben. Sie haben sich noch nicht mit seiner Misshandlung im Februar 2003 auseinandergesetzt, was sich auf die weitere Entwicklung negativ auswirken würde, bestehen doch bei ihm nach wie vor daraus resultierende körperliche Beeinträchtigungen. Die Erziehungsfähigkeit der Eltern, die zwei weitere Kinder haben, ist zwar gegeben. Primäre Bezugspersonen des Minderjährigen sind aber seine Pflegeeltern, bei denen von einer guten Zukunftsprognose ausgegangen werden kann.
Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass eine Rückführung des Minderjährigen zu seinen leiblichen Eltern ausgehend vom festgestellten Sachverhalt zu nicht bloß vorübergehenden Umstellungsschwierigkeiten, sondern zu einer konkreten und ernsten Gefahr für seine weitere Entwicklung führen würde, ist jedenfalls vertretbar. Da derzeit die Voraussetzungen für die Aufhebung der Obsorgeübertragung nicht vorliegen, muss nicht darauf eingegangen werden, welche Maßnahmen das Pflegschaftsgericht treffen könnte, um eine Annäherung zwischen den leiblichen Eltern und ihrem Kind herbeizuführen. Eine Wiederannäherung zwischen der Revisionsrekurswerberin und ihrem Sohn scheitert schon daran, dass sie ‑ ebenso wie der Vater ‑ die notwendige psychotherapeutische Begleitung der Kontaktanbahnung ablehnt und die sofortige Übergabe des Minderjährigen als geeigneten Schritt ansieht. Auf dieses mangelnde Problembewusstsein der leiblichen Eltern wiesen bereits die Vorinstanzen hin. Demgegenüber sind die Pflegeeltern bereit, eine psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
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