Spruch:
Bringt ein Ehegatte eine Scheidungsklage aus einem Verschuldentatbestand ein, während das Verfahren über eine gleichartige Scheidungsklage des anderen Ehegatten zwar in I. Instanz geschlossen, aber noch nicht rechtskräftig beendet ist, kann Streitanhängigkeit nicht eingewendet werden.
Entscheidung vom 12. März 1947, 1 Ob 151/47.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Der Beklagte hatte gegen die Klägerin ein Scheidungsbegehren gestellt, das abgewiesen worden war. Unmittelbar vor der Berufungsverhandlung hat die Klägerin, die sich bis dahin zu einer Scheidung ablehnend verhalten hat, ebenfalls eine Scheidungsklage eingebracht. Das Erstgericht hat über diese Klage eine Streitverhandlung angeordnet, bei der der Beklagte mit Rücksicht darauf, daß auch das inzwischen gefällte berufungsgerichtliche Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen war, die Streitanhängigkeit eingewendet hat.
Das Erstgericht hat unter Annahme der Streitanhängigkeit die Klage zurückgewiesen.
Das Rekursgericht hat den Zurückweisungsbeschluß aufgehoben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen.
Der Oberste Gerichtshof hat dem Revisionsrekurs des Beklagten nicht Folge gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Begründung
Die Streitanhängigkeit im Sinne der §§ 232 und 233 ZPO. setzt nicht nur die Identität der Parteien, sondern auch die Identität der Streitsache voraus. Eine solche ist aber nur dann gegeben, wenn der Rechtsgrund und der Klagsanspruch in beiden Prozessen übereinstimmen. Während der Beklagte im vorausgegangenen Verfahren die Scheidung aus dem Verschulden der Ehefrau beantragt hat, begehrt die Klägerin in diesem Verfahren die Scheidung aus dem Verschulden des Mannes. Den beiden Klagen ist nur das Verlangen nach einer Scheidung der Ehe gemeinsam; ihr sonstiger Inhalt, der hiedurch bedingte Prozeßstoff und auch die rechtliche Wirkungen der begehrten Entscheidungen sind jedoch verschieden. Es kann schon deshalb allein von einer Identität der Streitsache nicht die Rede sei. Wenn es auch richtig ist, daß eine Ehe, die durch ein gerichtliches Urteil rechtskräftig aufgelöst worden ist, nicht neuerlich geschieden und die Verschuldenfrage nicht neuerlich aufgerollt werden kann, so hindert dies nicht, daß bis zur Rechtskraft ein Verfahren auf Grund einer Klage des anderen Ehegatten, das nur im Hinblick auf den Zeitpunkt seiner Einleitung nicht mit dem anderen Verfahren verbunden werden konnte, durchgeführt wird. Wird die Ehe auf Grund der Vorklage aufgelöst, dann steht der Fortsetzung des Verfahrens über die spätere Klage des anderen Teiles nicht die Rechtskraft der entschiedenen Streitsache, sondern die Tatsache entgegen, daß die Ehe infolge ihrer Auflösung nicht mehr vorhanden ist. Mit dieser Möglichkeit, die übrigens durch die am 15. Februar 1947 zur GZ. 1 Ob 83/47 ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofes beseitigt worden ist, mußte die Klägerin zur Zeit der Klagseinbringung rechnen. Sie konnte aber anderseits auch eine für sie günstige Entscheidung über die Rechtsmittel des Beklagten erwarten und war daher, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, ihres Scheidungsrechts allenfalls durch Fristablauf verlustig zu werden, genötigt, die Klage einzubringen. Zweckmäßig wäre es allerdings gewesen, wenn sich das Prozeßgericht darauf beschränkt hätte, die Klage dem Beklagten zuzustellen und den Antrag der Klägerin auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung zu erledigen, und im übrigen bis zur rechtskräftigen Beendigung des noch anhängigen Scheidungsverfahrens zugewartet hätte.
Da das Rekursgericht mit Recht eine Streitanhängigkeit ausgeschlossen hat, ist dem Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen.
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