OGH 16Ok3/24p

OGH16Ok3/24p8.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Parzmayr und Dr. Annerl als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, 1030 Wien, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerin P*, vertreten durch Cerha Hempel Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Verhängung einer Geldbuße nach § 29 KartG, über den Antrag der Einschreiterin M*, vertreten durch Brand Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Gewährung von Akteneinsicht, über den Rekurs der Einschreiterin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 12. März 2024, GZ 26 Kt 3/23w‑21, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0160OK00003.24P.0508.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Das Verfahren über den Rekurs wird bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über den von der Einschreiterin zu AZ G 26–27/2024 eingebrachten Parteiantrag auf Normenkontrolle, mit dem unter anderem die Aufhebung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 als verfassungswidrig angestrebt wird, unterbrochen.

Nach Vorliegen des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.

 

Begründung:

[1] Mit Beschluss vom 9. Mai 2023 verhängte das Erstgericht wegen näher bezeichneter Zuwiderhandlungen gegen § 1 KartG und Art 101 Abs 1 AEUV im Zeitraum von Juli 2022 bis Oktober 2017 gemäß § 29 Abs 1 lit a und d KartG eine Geldbuße über die Antragsgegnerin.

[2] Die Einschreiterin beantragte mit Antrag vom 8. November 2023 die Gewährung von Akteneinsicht in den Antrag und weitere Schriftsätze der Antragstellerin und in die von ihr vorgelegten Urkunden, in Schriftsätze der Antragsgegnerin und in die von ihr vorgelegten Urkunden, in Schriftsätze und vorgelegte Urkunden des Bundeskartellanwalts sowie in Beschlüsse und Verfügungen des Kartellgerichts, insbesondere den in Rechtskraft erwachsenen Beschluss über die Verhängung der Geldbuße, hilfsweise in näher bezeichnete Kombinationen und Teile der im Hauptbegehren enthaltenen Aktenteile, jeweils ausgenommen Vergleichsausführungen, Kronzeugenerklärungen sowie von der Einschreiterin stammende oder an diese gerichtete Dokumente.

[3] Dieser Antrag wurde vom Erstgericht mit Beschluss vom 2. Februar 2024 abgewiesen.

[4] Mit als „Zweiter Antrag auf Akteneinsicht“ bezeichnetem Schriftsatz vom 19. Februar 2024 beantragte die Einschreiterin – neben der Erklärung, gegen den Beschluss vom 2. Februar 2024 keinen Rekurs zu erheben – neuerlich die Gewährung von Akteneinsicht nur in jene Aktenstücke bzw -teile des Akts des Kartellgerichts, in denen die Einschreiterin als Geschädigte entweder namentlich genannt ist oder abstrakt umschrieben wird und die Sachverhalte bzw ‑elemente beinhalten, die sie als Geschädigte betreffen, jeweils ausgenommen Vergleichsausführungen, Kronzeugenerklärungen sowie von der Einschreiterin stammende oder an diese gerichtete Dokumente.

[5] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den „zweiten“ Antrag der Einschreiterin (den Antrag vom 19. Februar 2024) zurück. Grundsätzlich seien auch im Verfahren außer Streitsachen und im Kartellverfahren ergangene Beschlüsse der materiellen Rechtskraft zugänglich. Dieser Grundsatz sei auf den bereits rechtskräftig ergangenen Beschluss über die Abweisung der Akteneinsicht anwendbar, zumal es sich dabei um eine anfechtbare und nicht bloß verfahrensleitende Entscheidung handle. Die Rechtskraftwirkung setze die Identität der Parteien, des geltend gemachten Begehrens und des rechtserzeugenden Sachverhalts voraus. Am Vorliegen der Parteienidentität könne hier kein Zweifel bestehen. Auch die Identität des Begehrens sei anzunehmen, weil der erste Akteneinsichtsantrag im Ergebnis den gesamten Akteninhalt umfasst habe. Das nunmehrige Akteneinsichtsbegehren stelle ein Minus zu diesem Antrag dar, weil es sich dabei im Ergebnis um die Wiederholung des bereits erhobenen Begehrens im nun gegenständlichen Umfang handle. Eine relevante Sachverhaltsänderung werde im gegenständlichen Antrag nicht dargetan, weil die (im Einzelnen dargelegten) Ausführungen der Einschreiterin im Wesentlichen bereits im ersten Einsichtsantrag vorgetragen worden seien.

[6] Dagegen richtet sich der – nur von der Antragsgegnerin beantwortete – Rekurs der Einschreiterin, mit dem sie die Abänderung und Antragsstattgebung beantragt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

[7] Das Rekursverfahren wird unterbrochen.

[8] 1. Wie bereits das Erstgericht zutreffend hervorhob und im Rekurs auch nicht in Zweifel gezogen wird, sind die im Kartellverfahren ergangenen Beschlüsse – wie überhaupt die im Außerstreitverfahren ergangenen Beschlüsse (RS0007171; RS0107666) – der materiellen Rechtskraft zugänglich (16 Ok 3/22g Rz 114). Sie entfalten daher Einmaligkeits‑ und Bindungswirkung (RS0007171 [T13]).

[9] 2. Die materielle Rechtskraft äußert sich als zur Zurückweisung des später gestellten Antrags führende Einmaligkeitswirkung allerdings nur dann, wenn und insoweit die Begehren deckungsgleich (ident) sind (RS0007171 [T11]).

[10] 2.1. Die Einschreiterin führt im Rekurs aus, dass die beiden Anträge einen „völlig anderen Inhalt“ gehabt hätten, stellt die beiden Begehren einander tabellarisch gegenüber und wendet sich damit offenbar gegen die Beurteilung des Erstgerichts, dass die Begehren ident seien.

[11] 2.2. Eine unrichtige rechtliche Beurteilung zeigt die Einschreiterin damit nicht auf. Im rechtskräftig abgewiesenen Antrag beschrieb die Einschreiterin die Aktenstücke, auf die sich die Akteneinsicht beziehen sollte, formal nach dem jeweiligen Einbringer (Parteien) bzw Urheber (Gericht), führte dabei aber letztlich sämtliche im vorliegenden Verfahren in Betracht kommenden Verfahrensbeteiligten an. Dieser Antrag – und damit auch die abweisende Entscheidung – umfasste daher – wie das Erstgericht zutreffend betonte – im Ergebnis den gesamten Akteninhalt (mit den von der Einschreiterin auch im nunmehrigen Antrag definierten inhaltsgleichen Ausnahmen). Im neuerlichen Antrag wird der Gegenstand der Akteneinsicht demgegenüber zwar inhaltlich umschrieben, indem auf eine namentliche Nennung oder inhaltliche Betroffenheit der Einschreiterin abgestellt wird (mit inhaltsgleichen Ausnahmen zum vorhergehenden Antrag).

[12] Diese andere Umschreibung des Gegenstands der gewünschten Akteneinsicht vermag nichts daran zu ändern, dass Gegenstand des neuerlichen Antrags auf Akteneinsicht ausschließlich solche Aktenstücke sind, hinsichtlich derer eine Akteneinsicht bereits rechtskräftig abgelehnt wurde.

[13] 3. Die (Einmaligkeitswirkung der) Rechtskraft einer wegen unvollständiger Tatsachenbehauptungen abweislichen Entscheidung steht einer neuerlichen Geltendmachung desselben Begehrens nach der Rechtsprechung überdies dann nicht entgegen, wenn das Begehren nunmehr durch Vortrag vollständiger Tatsachenbehauptungen schlüssig ist (vgl RS0041402). Auf diese Rechtsprechung zielt die Einschreiterin im Rekurs erkennbar ab, wenn sie meint, ihr Vorbringen nach den Vorgaben des Erstgerichts schlüssig gestellt zu haben.

[14] 3.1. Das Erstgericht begründete die Zurückweisung des neuerlichen Antrags damit, dass die im nunmehrigen Akteneinsichtsantrag enthaltenen Behauptungen im Wesentlichen bereits im rechtskräftig abgewiesenen Antrag vorgetragen worden seien. Im Rahmen dieser Beurteilung stellte es einander die jeweiligen Ausführungen der Einschreiterin in den Anträgen gegenüber und ging auch konkret darauf ein.

[15] 3.2. Die gesetzmäßige Ausführung des von der Einschreiterin geltend gemachten Rechtsmittelgrundes der unrichtigen rechtlichen Beurteilung fordert – wie für das Revisionsrekursverfahren (§ 68 Abs 3 Z 4 AußStrG) ausdrücklich angeordnet – die Darlegung, aus welchen Gründen die rechtliche Beurteilung der Sache unrichtig erscheint (16 Ok 1/15f ErwGr 2.1.). Insbesondere genügt es – auch im Rekursverfahren in Kartellrechtssachen – nicht, die rechtliche Beurteilung mit bloßen „Leerformeln“ oder pauschal – daher der Sache nach begründungslos – zu bekämpfen (vgl RS0043605; RS0043654 [T6]).

[16] 3.3. Die Rechtsmittelausführungen der Einschreiterin zur behaupteten Schlüssigstellung des neuerlichen Antrags genügen den genannten Anforderungen nicht. Sie beschränken sich auf die bloße und nicht näher begründete Behauptung, den neuerlichen Antrag auf Akteneinsicht nach den Vorgaben des Erstgerichts schlüssig gestellt zu haben. Mangels gesetzmäßiger Ausführung der Rechtsrüge hat insofern eine Überprüfung der im angefochtenen Beschluss vertretenen Rechtsansicht zu unterbleiben.

[17] 4. Ausgehend davon wäre der Rekurs nicht berechtigt. Die materielle Rechtskraft hält aber auch nachträglichen Änderungen der Rechtslage nicht stand (RS0107666 [T3]; RS0007171 [T21]).

[18] 4.1. Der Oberste Gerichtshof wurde mit Schreiben des Verfassungsgerichtshofs vom 1. März 2024 davon verständigt, dass (in einem anderen Kartellverfahren von einer dort Akteneinsicht begehrenden Person) ein auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B‑VG gestützter Parteiantrag auf Normenkontrolle gestellt wurde, der unter anderem auf eine Aufhebung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 (BGBl I Nr 61/2005 idF BGBl I Nr 176/2021) als verfassungswidrig abzielt. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist beim Verfassungsgerichtshof zu AZ G 26–27/2024 anhängig. Die angefochtene Bestimmung ist auch für das vorliegende Verfahren über die Gewährung der Akteneinsicht präjudiziell.

[19] 4.2. Bei einem eine Gesetzesbestimmung aufhebenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hängt die Auswirkung auf anhängige Verfahren von dessen Ausspruch ab (RS0031419 [T13]). Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirkung einer allfälligen Aufhebung der angefochtenen Bestimmung über den Anlassfall hinaus erstreckt würde (Art 140 Abs 7 B‑VG). Dies würde zu einer in jeder Lage des Verfahrens zu beachtenden Änderung der Rechtslage führen (RS0031419 [T7, T22]). In diesem Fall würde – wie eingangs hervorgehoben – auch die materielle Rechtskraft der Entscheidung über die Akteneinsicht einer meritorischen Entscheidung über den neuerlichen Antrag nicht entgegenstehen.

[20] 4.3. Gemäß § 190 Abs 1 ZPO kann ein Rechtsstreit unterbrochen werden, wenn die Entscheidung ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits ist oder welches in einem anhängigen Verwaltungsverfahren festzustellen ist. Das hier anzuwendende (§ 38 KartG) AußStrG enthält in § 25 Abs 2 Z 1 eine vergleichbare Unterbrechungsmöglichkeit. Für den Fall eines vor dem Verfassungsgerichtshof anhängigen präjudiziellen Verfahrens ist eine solche Unterbrechung weder in der ZPO noch im AußStrG vorgesehen. Diese planwidrige Gesetzeslücke ist hier durch eine analoge Anwendung des § 25 Abs 2 Z 1 AußStrG zu schließen, weil der Zweck der Bestimmung – widersprechende Entscheidungen im Sinne der Einheit der Rechtsordnung zu verhindern – auch im vorliegenden Fall zutrifft (16 Ok 2/24s; 16 Ok 1/24v).

[21] 4.4. Das Rekursverfahren wird daher bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die zu AZ G 26–27/2024 erfolgte Anfechtung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 unterbrochen.

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