OGH 15Os33/20x

OGH15Os33/20x5.6.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Juni 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Walter, LL.M, LL.M., BA als Schriftführerin in den Strafsachen gegen J***** J***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 15 U 38/19x des Bezirksgerichts Feldkirch, und wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 15 U 55/19x des Bezirksgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen Vorgänge in beiden Verfahren sowie gegen das Urteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 22. Oktober 2019, GZ 15 U 55/19x‑9, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin MMag. Jenichl, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00033.20X.0605.000

 

Spruch:

 

1./ Im Verfahren AZ 15 U 38/19x des Bezirksgerichts Feldkirch verletzt der Vortrag des die Angaben eines Zeugen beinhaltenden Abschlussberichts der Polizeiinspektion Götzis vom 5. April 2019 in der Hauptverhandlung § 252 Abs 2a StPO iVm § 447 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 25. Juni 2019, GZ 15 U 38/19x‑6, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

2./ Im Verfahren AZ 15 U 55/19x des Bezirksgerichts Feldkirch verletzt die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten § 427 Abs 1 StPO.

3./ Das Urteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 22. Oktober 2019, GZ 15 U 55/19x‑9, verletzt § 4 Abs 3 StPO und § 267 (iVm § 447) StPO.

Dieses Urteil wird im Schuldspruch und demzufolge auch im Strafausspruch ersatzlos aufgehoben.

 

Gründe:

I./1./ Mit Strafantrag vom 9. April 2019, AZ 88 BAZ 308/19f, eingebracht beim Bezirksgericht Feldkirch zu AZ 15 U 38/19x, legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch J***** J***** zur Last, er habe am 1. April 2019 in K***** versucht, Verfügungsberechtigten „des Geschäftes H*****“ eine fremde bewegliche Sache, nämlich eine Flasche Jägermeister im Wert von 6,99 Euro, mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern (ON 3).

In der am 25. Juni 2019 in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung wurde zum Beweisverfahren festgehalten, dass die „Verfahrensbeteiligten […] einem Vortrag des erheblichen Inhalts der Aktenstücke im Sinne des § 252 Abs 2a StPO ausdrücklich zu[stimmen]“, und in der Folge der erhebliche Inhalt des – das Protokoll sowie eine zusammenfassende Wiedergabe der Vernehmung des Zeugen M***** G***** beinhaltenden (ON 2 S 5 und 19 ff) – Abschlussberichts der Polizeiinspektion Götzis vom 5. April 2019 samt Beilagen vorgetragen (ON 5 S 2).

Mit dem am selben Tag ergangenen, unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen (vgl ON 8 S 3, ON 9) Urteil des Bezirksgerichts Feldkirch, GZ 15 U 38/19x‑6, wurde J***** – gestützt auf den erwähnten Abschlussbericht (ON 6 S 2) – wegen des mit Strafantrag vom 9. April 2019 angeklagten Sachverhalts des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen (im Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 150 Tagen) verurteilt.

2./ Im Verfahren AZ 15 U 55/19x des Bezirksgerichts Feldkirch wurde J***** J***** mit Strafantrag der Staatsanwaltschaft Feldkirch vom 4. Juni 2019, (ebenfalls zu AZ 88 BAZ 308/19f), zur Last gelegt, er habe am 3. Mai 2019 in F***** versucht, Verfügungsberechtigten „des Geschäftes L*****“ fremde bewegliche Sachen, nämlich eine Flasche Schnaps sowie drei Dosen Bier im Gesamtwert von 10,96 Euro, mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern (ON 3).

Eine Verbindung gemäß § 37 Abs 3 StPO mit dem zu AZ 15 U 38/19x des Bezirksgerichts Feldkirch anhängigen Verfahren erfolgte nicht (vgl dort ON 6 S 3 sowie ON 1 S 1 in AZ 15 U 55/19x).

Nach Ausschreibung der Hauptverhandlung (samt Verfügung der Zustellung des Strafantrags [ON 5 S 1]) wurde dem Angeklagten – offenbar irrtümlich wegen eines Eingabefehlers in der Verfahrensautomation Justiz – nicht der dem Verfahren AZ 15 U 55/19x zugrundeliegende Strafantrag vom 4. Juni 2019, sondern jener des Verfahrens AZ 15 U 38/19x vom 9. April 2019 zugestellt (siehe ON 6 S 5; ON 10).

Mit Abwesenheitsurteil vom 20. Oktober 2019 GZ 15 U 55/19x‑9, erkannte das Bezirksgericht Feldkirch J***** nicht der (mit Strafantrag vom 4. Juni 2019) angeklagten, sondern derselben Tat schuldig, die – wenngleich dort im Deliktsstadium des Versuchs – bereits Gegenstand des (Strafantrags vom 9. April 2019 und) Urteils des Bezirksgerichts Feldkirch vom 25. Juni 2019, AZ 15 U 38/19x‑6, gewesen war, und verhängte über ihn wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Auch dieses Urteil erwuchs unbekämpft in Rechtskraft (Beiblatt zu ON 9).

 

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, stehen Vorgänge in den Verfahren AZ 15 U 38/19x und 15 U 55/19x des Bezirksgerichts Feldkirch, aber auch das Urteil des Bezirksgerichts Feldkirch vom 22. Oktober 2019, GZ 15 U 55/19x‑9, mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, dürfen nach der (gemäß § 447 StPO auch im bezirksgerichtlichen Verfahren geltenden) Bestimmung des § 252 Abs 1 StPO in der Hauptverhandlung – neben hier nicht relevanten weiteren Ausnahmen vom Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO) – nur verlesen werden, wenn Ankläger und Angeklagter einverstanden sind (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO). Ebenso ist der die Vorlesung ersetzende Vortrag des erheblichen Inhalts der Aktenstücke durch den Vorsitzenden gemäß § 252 Abs 2a StPO nur bei Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zulässig.

Ein solches Einverständnis konnte in der zu AZ 15 U 38/19x des Bezirksgerichts Feldkirch am 25. Juni 2019 durchgeführten Hauptverhandlung – entgegen der Protokollierung (ON 5 S 2) – infolge Abwesenheit des Angeklagten nicht vorliegen und ist auch aus dessen Nichterscheinen zur Hauptverhandlung nicht abzuleiten (vgl RIS‑Justiz RS0117012; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103, 134). Der Vortrag des die Angaben des Zeugen M***** G***** beinhaltenden Abschlussberichts der Polizeiinspektion Götzis vom 5. April 2019 widersprach daher § 252 Abs 2a iVm § 447 StPO.

2./ Gemäß § 427 Abs 1 StPO setzt die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten unter anderem voraus, dass ihm die Ladung zu dieser persönlich zugestellt wurde. Eine solche „gehörige Ladung“ hat neben der Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung den Angeklagten über den Gegenstand der Verhandlung in Kenntnis zu setzen (RIS‑Justiz RS0099130, RS0111828; vgl insbesondere 14 Os 130/14w). Nur in Bezug auf diesen – in der Regel durch Zustellung des Strafantrags (vgl § 451 Abs 1 letzter Halbsatz StPO) – mitgeteilten Anklagevorwurf ist die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens zulässig, weil der Angeklagte nur insoweit mit dieser Konsequenz rechnen musste (Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 11 f).

Im Verfahren AZ 15 U 55/19x übermittelte das Bezirksgericht Feldkirch dem Angeklagten (irrtümlich) den (mit Urteil desselben Gerichts vom 25. Juni 2019, GZ 15 U 38/19x‑6, bereits erledigten) Strafantrag vom 9. April 2019, nicht aber jenen vom 4. Juni 2019 (ON 3, ON 10). Die Durchführung der Hauptverhandlung betreffend den mit Strafantrag vom 4. Juni 2019 erhobenen, dem Angeklagten jedoch nicht zur Kenntnis gebrachten Vorwurf in dessen Abwesenheit (vgl ON 8 S 2) verletzt daher § 427 Abs 1 StPO.

3./ § 267 StPO (iVm § 447 StPO) normiert eine Bindung des Gerichts an den durch die Anklage determinierten Prozessgegenstand (Lewisch, WK‑StPO § 267 Rz 1). Ein Schuldspruch kommt nur in Bezug auf einen Sachverhalt in Betracht, auf den die Anklage ursprünglich gerichtet oder während der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde. Die Entscheidung des Gerichts hat die Anklage zu erledigen, darf sie jedoch nicht überschreiten (§ 4 Abs 3 StPO).

Der vom Schuldspruch zu GZ 15 U 55/19x‑9 des Bezirksgerichts Feldkirch umfasste Lebenssachverhalt war nicht Gegenstand des diesem Verfahren zugrunde liegenden schriftlichen Strafantrags vom 4. Juni 2019. Damit war dieser (mit dem Strafantrag zu AZ 15 U 38/19x korrelierende) Sachverhalt nie Prozessgegenstand des Verfahrens AZ 5 U 55/19x. Das Bezirksgericht hat in letzterem Verfahren demnach entgegen §§ 4 Abs 3, 267 (iVm § 447) StPO die Anklage überschritten.

Dass der mit Strafantrag vom 9. April 2019 angeklagte Sachverhalt bereits Gegenstand des (rechtskräftigen) Urteils des Bezirksgerichts Feldkirch vom 25. Juni 2019, GZ 15 U 38/19x‑6, war (weshalb einer neuerlichen Verfahrensführung das in Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK und in § 17 Abs 1 StPO normierte Verbot der Doppelbestrafung entgegensteht; vgl RIS‑Justiz RS0124619), ist aus den Akten AZ 15 U 55/19x allerdings nicht ersichtlich (ON 7) und dem Erstgericht insoweit nicht als (weiterer) Rechtsfehler iSd § 23 Abs 1 StPO vorwerfbar (vgl RIS‑Justiz RS0125225, RS0126648; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 17).

 

Da sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen großteils zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt haben, war deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), wie aus dem Spruch ersichtlich.

Im Verfahren AZ 15 U 38/19x war die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Feldkirch zu verweisen.

Zu AZ 15 U 55/19x war der Schuldspruch ersatzlos aufzuheben, weil die Nichterledigung der dem Verfahren (tatsächlich) zugrunde liegenden Anklage (nämlich des Strafantrags vom 4. Juni 2019) als – infolge unterbliebener Bekämpfung des Urteils durch die Staatsanwaltschaft rechtskräftiger – Freispruch anzusehen ist ( Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 526; RIS‑Justiz RS0099646). Hinsichtlich dieses implizit zum Ausdruck gebrachten (zum Vorteil des Verurteilten ergangenen) Freispruchs kommt eine konkrete Wirkung nicht in Betracht (§ 292 vorletzter und letzter Satz StPO).

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