Spruch:
In der Strafsache AZ 11 U 497/06t des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien verletzt der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Beschwerdegericht vom 20. November 2007, AZ 135 Bl 101/07i (ON 26), § 90a Abs 1 und Abs 2 Z 2 StPO aF.
Gemäß § 292 letzter Satz StPO werden dieser Beschluss sowie das darauf beruhende Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 6. Februar 2008, GZ 11 U 497/06t-30, (letzteres ersatzlos) aufgehoben und in der Sache selbst dahin erkannt, dass der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 29. Juni 2007 (ON 21) nicht Folge gegeben wird.
Text
Gründe:
Im Verfahren AZ 11 U 497/06t des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien beantragte der Bezirksanwalt die Bestrafung der Katerina B***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, weil diese am 28. August 2006 in Wien als Radfahrerin die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit außer Acht gelassen, deshalb die die Fahrbahn auf einem Schutzweg überquerende Fußgängerin Maria W***** niedergestoßen und der Genannten dabei eine leichte Körperverletzung, nämlich eine Rissquetschwunde an der linken Augenbraue und auf der rechten Stirnseite, zugefügt habe (ON 3). In der hierüber am 20. November 2006 durchgeführten Hauptverhandlung - in der der beigezogene verkehrstechnische Sachverständige eine Bremsausgangsgeschwindigkeit der Radfahrerin von 17 km/h als plausibel bezeichnete - ersuchte die geständige Beschuldigte um Durchführung einer Diversion und erklärte sich mit der Zahlung einer Geldbuße einverstanden. Die Hauptverhandlung wurde daraufhin „zur Durchführung einer Diversion" auf unbestimmte Zeit vertagt (S 79). Der Bezirksanwalt trat einem diversionellen Vorgehen entgegen, weil (seiner Ansicht nach) von einem „schweren Verschulden" der Radfahrerin auszugehen sei (S 3 des Antrags- und Verfügungsbogens). Mit Schreiben vom 27. Dezember 2006 teilte das Bezirksgericht Innere Stadt Wien der Beschuldigten gemäß § 90c Abs 4 StPO aF mit, dass die Fortführung des Strafverfahrens unterbleiben würde, wenn sie einen Geldbetrag in der Höhe von 500 Euro bezahle (ON 11). Nach Zahlung des Geldbetrages durch die Beschuldigte wurde das Verfahren mit Beschluss vom 29. Juni 2007 gemäß § 90c Abs 5 iVm § 90b StPO aF eingestellt. Zur Begründung führte die Bezirksrichterin aus, dass das Strafverfahren infolge Bezahlung der angebotenen Geldbuße diversionell erledigt werden könne und verwies im Übrigen auf das Anbot vom 27. Dezember 2006 (ON 21).
Das Landesgericht für Strafsachen Wien gab der dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde (ON 22, 23) mit Beschluss vom 20. November 2007, AZ 135 Bl 101/07i (ON 26), Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Strafverfahrens auf. In der Begründung führte das Beschwerdegericht aus, dass sich der Unfall auf einem großzügig angelegten Schutzweg ereignet habe, der durch beidseitig angebrachte Bodenerhebungen hervorsteche und für die stadteinwärtsfahrende Beschuldigte gut einsehbar gewesen sei. Unmittelbar vor diesem Schutzweg habe die Beschuldigte einen weiteren Radfahrer überholt, weshalb sie - offensichtlich durch den Überholvorgang abgelenkt - die am Schutzweg befindliche Fußgängerin Maria W***** erst verspätet wahrgenommen habe und nicht mehr rechtzeitig anhalten habe können. Die Beschuldigte habe daher nicht nur die Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO missachtet, die der Fußgängerin ein gefahrloses Überqueren des Schutzweges sichere, sondern auch gegen das Überholverbot des § 16 Abs 1 lit d StVO verstoßen, sodass von einem die Diversion ausschließenden „schweren Verschulden" auszugehen sei. Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien setzte daraufhin das Strafverfahren auftragsgemäß fort. Die Beschuldigte Katerina B***** wurde mit Urteil vom 6. Februar 2008 des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft (ON 30).
Rechtliche Beurteilung
Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. November 2007, AZ 135 Bl 101/07i (ON 26), steht - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Ein Vorgehen nach dem IXa. Hauptstück der StPO aF (nunmehr 11. Hauptstück) setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 90a Abs 1 StPO aF) ua eine als nicht schwer anzusehende Schuld des Verdächtigen voraus (§ 90a Abs 2 Z 2 StPO aF, nunmehr § 198 Abs 2 Z 2 StPO).
Bei der Bewertung des Grades der Schuld als „schwer" ist von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Demnach muss sowohl das Handlungs- als auch das Gesinnungsunrecht insgesamt eine Unwerthöhe erreichen, die im Wege einer überprüfenden Gesamtwertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist. Dabei kommt auch der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehalts eine Indizwirkung für die Schuldabwägung zu (Schroll, WK-StPO § 90a [aF] Rz 13 f, 16, 21 f und 27 ff; 13 Os 7/03 mwN).
Wie der Oberste Gerichtshof bereits in seiner in dieser Strafsache zuvor ergangenen Entscheidung vom 30. Mai 2007, AZ 15 Os 42/07a, zum Ausdruck gebracht hat, muss bei der Prüfung der Frage, ob die Schuld als schwer einzustufen ist, berücksichtigt werden, dass das Diversionshindernis der „schweren Schuld" vom Strafbefreiungshindernis des „schweren Verschuldens" im Sinn des § 88 Abs 2 StGB strikt zu unterscheiden ist. Während das „schwere Verschulden" ganz spezifisch auf gravierende Verletzungen gerade des § 88 Abs 1 StGB abstellt, ist die „schwere Schuld" auf den Gesamtbereich der für eine Diversion prinzipiell offenen Delikte zu beziehen. Bei Delikten mit geringeren Strafobergrenzen ist angesichts des vom Gesetzgebers solcherart zum Ausdruck gebrachten geringeren sozialen Störwertes daher die Schwelle für die Bejahung des Vorliegens einer nicht als schwer anzusehenden Schuld im Sinn des § 90a Abs 2 Z 2 StPO aF niedriger anzusetzen als bei einem mit einer höheren Strafe bedrohten Vergehen oder Verbrechen. Beim Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB (mit einer Strafobergrenze von drei Monaten Freiheitsstrafe) kommt demnach eine diversionelle Erledigung aufgrund Erreichens des in Rede stehenden Schuldgrades überhaupt nur in Ausnahmefällen nicht in Betracht. Die vom Beschwerdegericht fallbezogen vertretene Rechtsansicht ist verfehlt. Wenngleich § 9 Abs 2 StVO gegenüber Verkehrsteilnehmern auf einem Schutzweg erhöhte Sorgfaltsanforderungen vorschreibt und § 16 Abs 1 lit d StVO ein Überholen auf oder unmittelbar vor einem Schutzweg verbietet, kann in dem vom Beschwerdegericht erwogenen Sorgfaltsdefizit der Beschuldigten Katerina B***** ein außergewöhnlich gravierender Sorgfaltsverstoß oder ein krasser Aufmerksamkeitsfehler im konkreten Fall nicht gesehen werden. Auch von einem erheblichen sozialen Störwert der Tat allein wegen dieser Umstände kann diesfalls keine Rede sein (vgl Schroll, Diversion bei Verkehrsunfällen, Der Sachverständige 3/2003, 139 [142 f]; Burgstaller in WK² § 88 [2006] Rz 51).
Im Hinblick auf die Schuldeinsicht und die bisherige Unbescholtenheit der Genannten bestehen im Übrigen auch keine spezialpräventiven Diversionshindernisse.
Schließlich stehen einem diversionellen Vorgehen auch generalpräventive Erfordernisse nicht entgegen. Denn § 90a Abs 1 StPO aF schließt eine Diversion nur dann aus, wenn den generalpräventiven Bedürfnissen auch unter Berücksichtigung der Diversionsmaßnahme nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Gerade aber die für einen Verdächtigen spürbare Reaktion - wie hier die Zahlung einer nicht unerheblichen Geldbuße - vermittelt auch in solchen Fällen der Öffentlichkeit ein ausreichendes Signal der Rechtsbewährung (Schroll, WK-StPO § 90a [aF] Rz 41).
Infolge Vorliegens sämtlicher Diversionsvoraussetzungen hat daher das Bezirksgericht das Verfahren gegen Katerina B***** zutreffend eingestellt.
Weil sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil der Genannte ausgewirkt hat, waren der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. November 2007 sowie das darauf beruhende Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien (letzteres ersatzlos) aufzuheben, und es war in der Sache selbst zu erkennen, dass der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wien gegen den Diversionsbeschluss nicht Folge gegeben wird. Einer förmlichen Aufhebung der auf dem (kassierten) Urteilsspruch basierenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS-Justiz RS0100444).
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