OGH 15Os136/07z

OGH15Os136/07z17.12.2007

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Dezember 2007 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. T. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wiaderek als Schriftführer in der Strafsache gegen Roland W***** und einen anderen Angeklagten wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 20 Hv 65/05b des Landesgerichtes Feldkirch, über die vom Generalprokurator gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 1. Februar 2006, AZ 6 Bs 17/06k (ON 25 der Hv-Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Gegenwart des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Mit dem - auch einen in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch eines anderen Angeklagten enthaltenden - Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 10. Oktober 2005, GZ 20 Hv 65/05b-12, wurde Roland W***** des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Geldstrafe von 60 Tagessätzen á 15 Euro, im Nichteinbringungsfall zu 30 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt. Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat er am 16. Mai 2005 in Röthis Marcel S***** durch Versetzen eines Faustschlages gegen dessen Gesicht, wodurch dieser eine leichte Schwellung im Bereich der rechten Augenbraue erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt. Aus Anlass der von Roland W***** dagegen erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe hob das Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom 1. Februar 2006, AZ 6 Bs 17/06k (ON 25), das Roland W***** betreffende Urteil als nichtig auf und sprach den Genannten von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf gemäß § 259 Z 3 StPO frei. Begründend führte das Rechtsmittelgericht aus, dass dem Ersturteil wegen Nichtanwendung des § 42 StGB der gemäß §§ 477 Abs 1 zweiter Satz iVm 489 Abs 1 zweiter Satz StPO amtswegig wahrzunehmende Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO anhafte. Alle Voraussetzungen der genannten Bestimmung seien nach den Sachverhaltsfeststellungen des Ersturteils zu bejahen. Die Schuld des Angeklagten W***** sei deshalb atypisch gering, weil ihn Marcel S***** provoziert habe, indem er Roland W***** gefragt habe, ob dieser ein Problem habe und später mit beiden Händen gegen Roland W*****s Oberkörper gestoßen habe, sodass dieser zurückgetaumelt sei (S 7 erster Absatz des Berufungsurteils).

In seiner gegen dieses Urteil zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt der Generalprokurator Folgendes aus:

Nach der zwingenden, gemäß § 489 Abs 1 StPO auch im Verfahren über Berufungen gegen die vom Einzelrichter des Gerichtshofes gefällten Urteile durch den Gerichtshof zweiter Instanz anzuwendenden Vorschrift des § 473 Abs 2 StPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt gebunden. Vom Erstgericht unterlassene rechtlich erhebliche Feststellungen darf es nur dann selbst treffen, wenn es alle für die Sachverhaltsbeurteilung in Betracht kommenden Beweise noch einmal aufnimmt; eine bloße Verlesung der Aussagen von Beschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen ist dabei nur unter den Voraussetzungen des § 252 Abs 1 StPO zulässig. Dies gilt auch bei bloßer Ergänzung rechtlich erheblicher Feststellungen (Mayerhofer/Hollaender StPO5 § 473 Rz 3a; Fabrizy StPO9 § 473 Rz 2; EvBl 1998/183; RIS-Justiz RS0101775, RS0101766).

Die erstgerichtlichen Feststellungen vermögen die dem Berufungsurteil zu Grunde gelegte Annahme einer Tatprovokation des Roland W***** durch Marcel Peter S***** nicht zu tragen:

Die den gegenseitigen Verletzungen vorangegangene „Rempelei" war bereits beendet. Die später nachfolgende Auseinandersetzung hinwieder trug sich dergestalt zu, dass zuerst Marcel S***** den Roland W***** anstieß und in der Folge auch Roland W***** seinerseits gegen Marcel S***** einen Stoß führte. Unmittelbar im Anschluss daran versetzte W***** dem Marcel S***** den inkriminierten Faustschlag (S 5 f des Ersturteils). Insgesamt kann nach den erstgerichtlichen Konstatierungen zwar der erste von Roland W***** geführte Stoß als Reaktion auf den „provozierenden" Angriff S*****s verstanden werden, nicht jedoch der nachfolgende - ohne weitere Angriffshandlungen durch S***** verursachte - Faustschlag.

Da in der Berufungsverhandlung am 1. Februar 2006 - nach dem Protokoll ON 24 - keine Beweiswiederholung (auch nicht durch eine der Vorschrift des § 252 StPO genügende Verlesung von Aussageprotokollen) stattfand, war das Berufungsgericht nicht berechtigt, die für die Annahme geringer Schuld iSd § 42 Z 1 StGB erheblich erachtete Provokation durch Marcel S***** als gegeben anzunehmen (13 Os 79/90).

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Gemäß der zufolge § 489 Abs 1 StPO auch im Verfahren über Berufungen gegen die vom Einzelrichter des Gerichtshofes gefällten Urteile durch den Gerichtshof zweiter Instanz anzuwendenden Vorschrift des § 473 Abs 2 StPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die in erster Instanz aufgenommenen Protokolle zu Grunde zu legen. Zeugen und Sachverständigen (sowie der Angeklagte) sind aber nochmals abzuhören, wenn das Rechtsmittelgericht gegen die Richtigkeit der auf ihre Aussagen gegründeten, im Urteil erster Instanz enthaltenen Feststellungen Bedenken hegt oder die Vernehmung neuer Zeugen oder Sachverständiger über dieselben Tatsachen notwendig findet. Das Berufungsgericht ist demnach - wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt - grundsätzlich an den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt gebunden und darf von diesem nur nach Beweiswiederholung oder -ergänzung abgehen. Auch vom Erstgericht unterlassene rechtlich erhebliche Feststellungen darf es nur dann selbst treffen, wenn es alle für die Sachverhaltsbeurteilung in Betracht kommenden Beweise (noch einmal) aufnimmt (RIS-Justiz RS0101775, RS0101766; Fabrizy StPO9 § 473 Rz 2).

Weicht das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung oder -ergänzung von den Konstatierungen des Erstgerichtes ab, wird dadurch § 473 Abs 2 (iVm § 489 Abs 1) StPO verletzt (SSt 49/61, 61/52). Vorliegend hat das Berufungsgericht aber nicht auf der Tatsachenebene vom Ersturteil abweichend oder dieses ergänzend Feststellungen getroffen, sondern auf Basis der - worauf die Generalprokuratur zu Recht hinweist - selektiv wiedergegebenen Konstatierungen des Erstgerichtes eine Gewichtung der Schuld des Angeklagten vorgenommen. Zwar bedarf auch die Annahme einer gegen den Täter wirksam gewordenen Provokation einer - objektiven - Tatsachenbasis iS von konkret festgestellten Worten, Gesten oder anderen Handlungen, auf der sich die Bewertung dieses in Rede stehenden Verhaltens als Provokation vollziehen kann. Gleiches gilt für die - hier nicht aktuelle - Frage, ob sich eine Person durch das Verhalten eines Anderen provoziert fühlte oder selbst provozieren wollte, die ebenfalls zunächst die Feststellungsebene betrifft.

Hingegen ist die Annahme einer - den Gesinnungsunwert mindernden und solcherart die Schuld reduzierenden (vgl 13 Os 79/90; Schroll in WK2 § 42 Rz 22) - Provokation bei Prüfung der Voraussetzungen mangelnder Strafwürdigkeit der Tat Gegenstand der wertenden Beurteilung eines in tatsächlicher Hinsicht für gegeben erachteten Sachverhaltes, vergleichbar dem Vorgang bei der Strafzumessung, an dessen Schuldbegriff sich das Geringfügigkeitskorrektiv der Z 1 des § 42 StGB orientiert (Schroll in WK2 § 42 Rz 9 ff).

Im Rahmen der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen ist es dem Berufungsgericht daher nicht verwehrt, den Schuldgehalt anders zu bewerten als das Erstgericht. Vorliegend wurden dieser Bewertung vom Berufungsgericht ersichtlich die dem Ersturteil entnommenen Konstatierungen zu der von S***** gestellten (provokanten) Frage („ob er ein Problem habe") und dessen initialer Stoß mit beiden Händen gegen den Oberkörper des W***** zugrunde gelegt. Weder enthalten die

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