European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00082.22Y.0824.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die im Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 30. September 2021, AZ 21 Bs 378/20x (ON 1620 des Ermittlungsakts), geäußerte Rechtsansicht, wonach die in § 74 Abs 2 StPO normierte Verpflichtung zur Vertraulichkeit in Bezug auf personenbezogene Daten durch die Staatsanwaltschaft dadurch einzuhalten ist, dass sie bei der Gewährung von Akteneinsicht (an Beschuldigte) im Einzelfall unter Berücksichtigung der beim jeweiligen Antragsteller bestehenden Verdachtslage sowie der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu prüfen hat, ob und in welchem Umfang sie (allenfalls durch vorzunehmende Schwärzungen) dem Antragsteller zur ausreichenden Wahrung seines rechtlichen Gehörs und der wirksamen Ausübung seiner Verteidigung und der Waffengleichheit Einsicht gewähren darf, verletzt § 51 Abs 1 und 2 StPO.
Gründe:
[1] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption führt zu AZ 62 St 1/19x gegen DDr. * T* und andere Beschuldigte sowie mehrere belangte Verbände ein Ermittlungsverfahren wegen des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 12 zweiter Fall, 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3 StGB und weiteren strafbaren Handlungen subsumierter Taten.
[2] Am 23. Juli 2020 hob die Staatsanwaltschaft eine (unter anderem) den Anlassbericht der Kriminalpolizei vom 18. Mai 2020 (ON 870; als Beilage./50 beinhaltend eine Aufstellung der Vermögensverhältnisse des Beschuldigten DDr. T* aus dem Jahr 2014) betreffende, am 3. Juni 2020 angeordnete (ON 1 S 409) Beschränkung der Akteneinsicht „gemäß § 51 Abs 2 StPO“ „wegen Wegfall der Voraussetzungen“ auf (ON 1 S 435).
[3] Mit Beschluss vom 30. Oktober 2020, GZ 333 HR 151/19d-1042, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien einen dieses Vorgehen als Verletzung im „durch § 74 Abs 2 StPO gewährleisteten Recht auf Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Datenminimierung bei der Verarbeitung personenbezogener Daten“ relevierenden Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO) des Beschuldigten DDr. T* (ON 952) ab.
[4] Der gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde des Einspruchswerbers (ON 1054), die insbesondere eine Differenzierung zwischen den Verfahrensbeteiligten vermisste und die Bereitstellung von nur für die Verteidigung eines bestimmten Beschuldigten relevanten Informationen forderte, gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 30. September 2021, AZ 21 Bs 378/20x, nicht Folge (ON 1620).
[5] Das Rechtsmittelgericht ging davon aus, dass die in Rede stehende Vermögensaufstellung – nicht nur für das gegen den Beschuldigten DDr. T* sondern auch gegen zahlreiche weitere Mitbeschuldigte geführte Strafverfahren – erhebliche Informationen beinhaltet (ON 1620 S 9) und das Recht der Beschuldigten auf Akteneinsicht nur unter den strengen Voraussetzungen des § 51 Abs 2 StPO beschränkt werden darf (ON 1620 S 15).
[6] Zusätzlich führte es jedoch aus, dass die in § 74 Abs 2 StPO normierte Verpflichtung zur Vertraulichkeit in Bezug auf die hier betroffenen personenbezogenen Daten durch die Staatsanwaltschaft dadurch einzuhalten sei, „dass sie bei der Gewährung von Akteneinsicht im Einzelfall unter Berücksichtigung der beim jeweiligen Antragsteller bestehenden Verdachtslage sowie der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu prüfen hat, ob und in welchem Umfang sie (allenfalls durch vorzunehmende Schwärzungen) dem Antragsteller zur ausreichenden Wahrung seines rechtlichen Gehörs und der wirksamen Ausübung seiner Verteidigung und der Waffengleichheit Einsicht gewähren darf“ (ON 1620 S 16).
Rechtliche Beurteilung
[7] Die zuletzt wiedergegebene Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Wien steht – wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[8] Das verfassungsgesetzlich gewährleistete (vgl Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit a und b MRK) Recht von Beschuldigten, in sämtliche der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegende Ergebnisse des (hier:) Ermittlungsverfahrens Einsicht zu nehmen (§ 51 Abs 1 StPO), darf nur in den in § 51 Abs 2 StPO normierten und restriktiv auszulegenden Ausnahmefällen – also bei Bestehen einer ernsten Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit einer gefährdeten Person iSd § 162 StPO oder (vor Beendigung des Ermittlungsverfahrens) bei der auf besondere Umstände gegründeten Befürchtung einer Gefährdung des Zwecks der Ermittlungen durch die sofortige Information eines Beschuldigten – beschränkt werden (vgl dazu 14 Os 43/13z [14 Os 115/13p, 14 Os 116/13k]; RIS‑Justiz RS0129024; Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 5, 11, 22 f; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 6.21; McAllister/Wess in LiK-StPO § 51 Rz 14; EBRV 25 BlgNR 22. GP 70, 72).
[9] Im Verhältnis zu Mitbeschuldigten (vgl § 26 Abs 1 StPO) sieht die Strafprozessordnung (zum „generalisierend“ wirkenden Vorrang der Bestimmungen der StPO gegenüber dem DSG vgl 11 Os 76/19i; G. Kudrna/A. Stücklberger, Datenschutz im Strafverfahren, JSt 2020, 301 [305]) in Bezug auf die Frage des Umfangs der Akteneinsicht – anders als bei Opfern, Privatbeteiligten oder Privatanklägern (§ 49 Abs 2 StPO) – eine Interessenabwägung nicht vor (siehe aber das Verbot der Veröffentlichung nach § 54 StPO; siehe dazu Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 54 Rz 6 ff; Soyer/Stuefer, WK-StPO § 54 Rz 9 f).
[10] Da § 51 Abs 2 StPO – nach Maßgabe der in § 74 Abs 2 StPO normierten allgemeinen Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten (vgl dazu Kristoferitsch/Bugelnig, WK-StPO § 74 Rz 3, 69 f) – die zulässigen Beschränkungen der Akteneinsicht bei Beschuldigten somit abschließend regelt (lex specialis), entspricht eine unter Berufung auf § 74 Abs 2 StPO darüber hinausgehende Einschränkung derselben nicht dem Gesetz.
[11] Die Gesetzesverletzung im angesprochenen Rechtsmittelverfahren gereichte dem Beschuldigten DDr. T* nicht zum Nachteil. Der Ausspruch war nicht mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).
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