OGH 14Os43/13z

OGH14Os43/13z1.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Oktober 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Bandarra als Schriftführer in der Strafsache gegen Julius M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, GZ 334 HR 436/08g‑3957, und des Oberlandesgerichts Wien vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und den Antrag des Beschuldigten Julius M***** auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Brenner, und des Verteidigers Dr. Eichenseder zu Recht erkannt:

 

Spruch:

(I) Es verletzen

1) der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a, § 107 Abs 3 zweiter Satz StPO;

2) der Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, GZ 334 HR 436/08g‑3957, in seinem Punkt 5 ‑ mit Ausnahme des die ON 2099 und 2100 betreffenden Teiles ‑ § 51 Abs 1 und Abs 2 erster und zweiter Satz StPO.

Es werden ‑ jeweils mit Ausnahme des ON 2099 und 2100 betreffenden Teiles ‑ der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a, zur Gänze, jener des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, GZ 334 HR 436/08g‑3957, in dessen Punkt 5 aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien im Umfang der Aufhebung des letztgenannten Beschlusses eine neue Entscheidung aufgetragen.

(II) Mit seinem Erneuerungsantrag und der Beschwerde wird der Beschuldigte insoweit auf diese Entscheidung verwiesen.

(III) Im Übrigen wird dieser Antrag zurückgewiesen.

Text

Gründe:

In dem von der Staatsanwaltschaft Wien seit August 2007 zu AZ 608 St 1/08w gegen Julius M***** sowie verschiedene Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der in J***** domizilierten M*****, der M***** Ltd, der Julius M***** AG und anderer Unternehmen wegen der Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und der Untreue nach §§ 153 Abs 1, Abs 2 zweiter Fall, 12 StGB sowie der Vergehen nach „§ 48b BörseG, nach § 255 AktG und der Verletzung der Prospektpflicht nach § 15 KMG“ geführten Ermittlungsverfahren nahm die Anklagebehörde ‑ soweit noch aufrecht und hier relevant ‑ folgende Aktenteile von der Akteneinsicht aus:

- ON 331 S 1 bis 133 samt Beilagen: Protokoll über die Vernehmung des DI Wolfgang L***** durch die Jersey Financial Services Commission vom 19. Jänner 2009;

- ON 350: Schreiben der Rechtsvertreter des DI Wolfgang L***** an die Finanzmarktaufsichtsbehörde (im Folgenden kurz: FMA) vom 7. November 2007;

- ON 352: an DI Wolfgang L***** gerichtete Aufforderung der FMA zur Rechtfertigung vom 25. September 2007;

- ON 355: Eingabe des DI Wolfgang L***** an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien;

- ON 356 „Stellen 193-411, 417-447 und 451‑495“ (Nummerierung laut Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, AZ 334 HR 436/08g, und Vermerken der Einzelrichterin): Protokolle über Aussagen des Zeugen Rupert-Heinrich S***** durch die FMA vom 13. Mai 2008 und vom 4. Juni 2008 samt Beilagen;

- ON 387: Bericht des Landespolizeikommandos Wien vom 22. April 2009 über die Auswertung der beiden im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Julius M***** sichergestellten Laptops;

- ON 524: „Dossier TH und Vater ‑ Teil 1“ (ersichtlich betreffend Thomas und Günther H*****);

- ON 878, ON 879 S 5‑19, 35, 37, 69‑73, 94‑95, ON 903, ON 904 S 3‑13, 17‑31, 35‑39, 43‑53, 57 und 69, ON 937, ON 977: Protokolle über die Vernehmungen des Zeugen Rupert-Heinrich S***** vom 11. Jänner 2010 und vom 22. Jänner 2010 durch das Landesgericht für Strafsachen Wien, vom 5. März 2008 durch die FMA sowie vom 10. Februar 2010 und vom 23. Februar 2010 durch die Staatsanwaltschaft samt Beilagen;

- ON 909: Schreiben des DI Wolfgang L***** an die Jersey Financial Service Commission vom 21. Dezember 2009 samt Beilage;

- ON 928: Amtshilfeersuchen der Staatsanwaltschaft Wien an die Steuerfahndung IT-Abteilung vom 29. Jänner 2010;

- ON 946: Schreiben des DI Wolfgang L***** an die Jersey Financial Service Commission vom 21. Dezember 2009 samt Beilagen;

- ON 3038 S 9‑11: Zwischenbericht des LPK Niederösterreich vom 21. Dezember 2011 über die Datenverarbeitung/Datenaufbereitung im gegenständlichen Ermittlungsverfahren.

Soweit die diesbezüglichen Verfügungen begründet wurden (zu ON 909, 928 und 946 findet sich bloß in der Aktenübersicht der Vermerk „von AE ausg.“; vgl zur faktischen Verweigerung der Akteneinsicht: Fabrizy, StPO11 § 51 Rz 12), führte die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass durch die Gewährung von Akteneinsicht der Zweck der Ermittlungen gefährdet wäre, weil der ständige Kontakt der Beschuldigten am Arbeitsplatz Absprachen befürchten ließe und „sinnvolle Vorhalte nicht mehr gemacht werden“ könnten; weiters enthielten einige Ermittlungsergebnisse persönliche Daten der Beschuldigten und andere Umstände, die Rückschlüsse auf die höchstpersönlichen Lebensumstände von Julius M***** zulassen würden (ON 1 S 67, 107 f, 181, 195, 201, 225, 421).

Die durch Unkenntlichmachen einzelner Passagen „zensurierten“ Protokolle über die Vernehmung des Zeugen S***** vom 13. Mai 2008 (S 193 ff in ON 356) und 4. Juni 2008 (S 321 ff in ON 356) jeweils vor der FMA, sowie vom 11. Jänner 2010 (ON 878) und 22. Jänner 2010 (ON 903) jeweils vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien, wurden als der Akteneinsicht unterliegende ON 2155 zu einem nicht ersichtlichen Zeitpunkt zum Akt genommen.

Mit Beschlüssen vom 16. Juni 2010, AZ 22 Bs 46/10s (ON 1127), und vom 23. Juni 2010, AZ 22 Bs 84/10d (ON 1128), gab das Oberlandesgericht Wien Beschwerden der Staatsanwaltschaft Wien gegen die von der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschlüssen vom 21. Jänner 2010 und vom 25. Februar 2010 (in Stattgebung von Einsprüchen wegen Rechtsverletzung des Beschuldigten Julius M*****) gewährte Akteneinsicht in die Vernehmungsprotokolle des Rupert-Heinrich S***** vom 13. Mai 2008 (S 193 ff in ON 356), vom 4. Juni 2008 (S 321 ff in ON 356), vom 11. Jänner 2010 (ON 878) und vom 22. Jänner 2010 (ON 903) Folge.

Mit Schriftsatz vom 12. März 2012 beantragte Julius M***** (mit der Behauptung zwischenzeitigen Wegfalls der allenfalls vorgelegenen Gefahr von Vereitelungs- und Verdunkelungshandlungen sowie einer diesbezüglich jedenfalls bestehenden Überprüfungspflicht) ein weiteres Mal Einsicht in alle bisher (formell sowie faktisch) von der Akteneinsicht ausgenommenen Aktenstücke. Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft Wien dem Antrag nicht entsprechen sollte, wurde unter einem „gemäß § 106 Abs 5 StPO eine Entscheidung des Gerichts verlangt“ (ON 3255).

Mit Verfügung vom 26. März 2012 übermittelte die Anklagebehörde den Akt mit ablehnender Stellungnahme zum Einspruch wegen Rechtsverletzung an das Landesgericht für Strafsachen Wien (ON 1 S 487 ff). Zusammengefasst verwies sie darin ‑ wie schon in der Begründung der entsprechenden Verfügungen ‑ auf die Gefahr von Absprachen der Beschuldigten an deren gemeinsamen Arbeitsplatz, die sinnvolle Vorhalte bei ‑ wegen Wechsels der ermittelnden Polizeibehörde und des Sachverständigen notwendigen ‑ späteren Vernehmungen verhindern würden, äußerte weiters den „Verdacht“ der Fälschung und Rückdatierung von Unterlagen und begründete die Befürchtung der Einflussnahme auf Zeugen durch Ausübung wirtschaftlichen Drucks mit dem Hinweis auf diverse Zivilklagen, Sachverhaltsdarstellungen, Anzeigen und Fortführungsanträge, welche die M***** AG oder Julius M***** gegen Geschädigte, den Zeugen Rupert-Heinrich S*****, den Sachverständigen Mag. H*****, den vormals für das Verfahren zuständigen Staatsanwalt, Ermittlungsbeamte, Sachverständige und Opfer eingebracht hätten.

Mit Beschluss vom 6. Dezember 2012, GZ 334 HR 436/08g- 3957, gab die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien ‑ soweit hier von Relevanz ‑ in dessen Punkt 5 dem Einspruch des Beschuldigten Julius M***** wegen Rechtsverletzung durch Verweigerung der Akteneinsicht in die oben angeführten Aktenstücke sowie zudem in die ON 2099 und 2100 (insoweit mit der Begründung, dass die Einsicht in diese Unterlagen ‑ wenn auch im Zeitpunkt der Beschlussfassung noch nicht rechtskräftig ‑ seitens des Gerichts bereits bewilligt war) nicht statt.

Die Behandlung der ausschließlich dagegen erhobenen Beschwerde des Julius M***** lehnte das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a, unter Berufung auf § 107 Abs 3 zweiter Satz StPO mit der Begründung ab, dass die Entscheidung von einer Tatfrage abhänge, ohne dass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung tangiert wäre.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen beide Beschlüsse, jener der

Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, GZ 334 HR 436/08g‑3957

, in seinem Punkt 5 (mit Ausnahme des die ON 2099 und 2100 betreffenden Teiles), mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Zum Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a:

Nach § 107 Abs 3 zweiter Satz StPO kann das Oberlandesgericht die Behandlung einer gegen die gerichtliche Entscheidung über einen Einspruch wegen Rechtsverletzung gerichteten Beschwerde nur dann ablehnen, wenn die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Gericht von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts oder des Obersten Gerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet worden ist.

Gundsätzliche Bedeutung von Grundrechtsfragen, hinsichtlich derer ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen, auf zusätzliche Argumente gestützten Rechtsprechung besteht (vgl Grabenwarter in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungrecht Art 131 Rz 67; Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts10 Rz 1003/2; Nordmeyer, WK‑StPO § 194 Rz 15), kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden (vgl auch Bertel in Bertel/Venier StPO § 107 Rz 5). Dass der Gesetzgeber den ‑ insoweit als letzte Instanz im Rechtsmittelverfahren (vgl aber §§ 23, 363a StPO; RIS‑Justiz RS0124738) entscheidenden ‑ Oberlandesgerichten nicht die Möglichkeit eröffnen wollte, die Behandlung von Beschwerden wegen ‑ wie hier ‑ behaupteter wiederholter und weitreichender Verletzungen verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechte abzulehnen (vgl zur Intention des Justizausschusses JAB 406 BlgNR 22. GP 16), erhellt auch aus der (sprachlichen) Annäherung der Bestimmung an Art 131 Abs 3 B‑VG (vgl auch den ausdrücklichen Hinweis auf diesbezügliche Analogie in JAB 406 BlgNR 22. GP 16). Danach kann nämlich der Verwaltungsgerichtshof zwar die Behandlung von ‑ die Verletzung eines subjektiven Rechtes behauptenden ‑ Beschwerden gegen einen Bescheid (eines unabhängigen Verwaltungssenats, des unabhängigen Finanzsenats oder einer Behörde gemäß Art 20 Abs 2 Z 2 oder 3 B‑VG) unter den selben Voraussetzungen ablehnen, die (sinngemäß) auch § 107 Abs 3 zweiter Satz StPO normiert. Soweit der Beschwerdeführer aber insoweit in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt zu sein behauptet, ist die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs ausgeschlossen; die Entscheidung über die Beschwerde fällt in solchen Fällen vielmehr in die Kompetenz des Verfassungsgerichtshofs (Art 144 Abs 1 B‑VG [Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit], Art 13 Z 1 B‑VG). Die Möglichkeit einer Ablehnung der Behandlung von Beschwerden durch diesen regelt wiederum Art 144 Abs 2 B‑VG. Jenes Ablehnungsrecht unterscheidet sich vom hier in Rede stehenden wesensmäßig, weil der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs eine (zumindest summarische) inhaltliche Prüfung der Beschwerde auf ihre Begründetheit vorangeht, demnach eine meritorische Erledigung darstellt (Kneihs/Rohregger in Korinek/Holoubek, B‑VG Art 144 Rz 129 mit Hinweis auf „die ähnliche Konstruktion des § 285d Abs 1 Z 2 StPO“). Solcherart ist die (eingeschränkte) inhaltliche Behandlung der Behauptung einer Verletzung in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht durch einen der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in jedem Fall sichergestellt (zum Ganzen: Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts10 Rz 946 ff; 1202 f, 1216 ff).

Lehnt demnach das Oberlandesgericht ‑ wie vorliegend ‑ die Behandlung einer Beschwerde gegen das Unterbleiben von Anerkennung und möglichem Ausgleich einer Grundrechtsbeeinträchtigung (hier: des Rechtes auf ein faires Verfahren nach Art 6 [Abs 1 iVm Abs 3 lit a und b] MRK durch Verweigerung der Einsicht in konkret benannte Aktenteile [vgl dazu auch Grabenwarter/Pabel EMRK5 § 24 Rz 64, 102; 13 Os 176/08v]) ab, verletzt es das Gesetz, indem es seinen in diesem Fall auf Null reduzierten Ermessensspielraum überschreitet (vgl dazu auch 14 Os 60/09v, 63/09k, 64/09g [EvBl 2009/130]).

Zum Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Dezember 2012, AZ 334 HR 436/08g:

Das ‑ nach dem Vorgesagten verfassungsrechtlich geschützte (vgl auch Achammer, WK‑StPO §§ 51 bis 53 Rz 1) ‑ Recht des Beschuldigten, in sämtliche der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs‑ (und des Haupt‑)verfahrens Einsicht zu nehmen (§ 51 Abs 1 StPO), darf ‑ insoweit mit Art 6 Abs 3 MRK vereinbar (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 72) ‑ nur in den in § 51 Abs 2 StPO normierten Ausnahmefällen beschränkt werden:

Soweit eine ernste Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit (§ 162 StPO) besteht, ist es danach zulässig, personenbezogene Daten und andere Umstände (auch Textzusammenhänge), die Rückschlüsse auf die Identität oder die höchstpersönlichen Lebensumstände gefährdeter Personen zulassen, von der Akteneinsicht (generell und für das gesamte Verfahren) auszunehmen und statt dessen Kopien auszufolgen, in denen diese Umstände unkenntlich gemacht wurden (§ 51 Abs 2 erster Satz StPO; vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 72; Fabrizy, StPO11 § 51 Rz 8).

Im Übrigen darf Akteneinsicht nur bis zur Beendigung des Ermittlungsverfahrens und nur insoweit verweigert oder beschränkt werden, als besondere Umstände befürchten lassen, dass durch eine sofortige Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken der Zweck der Ermittlungen gefährdet wäre (§ 51 Abs 2 zweiter Satz StPO), wenn also damit die Gefahr der Verdunkelung oder sonstigen Beweismittelbeeinträchtigung verbunden wäre (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 72).

Mit der mehrere Aktenteile betreffenden pauschalen Bezugnahme auf in den diesbezüglichen Ermittlungsergebnissen enthaltene ‑ nicht näher konkretisierte ‑ Hinweise auf höchstpersönliche Lebensumstände oder Daten des Zeugen DI Wolfgang L***** (zu ON 350, 352 und 355) oder sonstiger Dritter (zu ON 387, 524 und S 35 in ON 879) hat die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien eine ernste Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit der betroffenen Personen im Sinn des § 162 StPO (vgl dazu Kirchbacher, WK‑StPO § 162 Rz 1 f mwN) nicht angenommen und damit den Ausnahmetatbestand des § 51 Abs 2 erster Fall StPO gar nicht angesprochen (vgl im Übrigen die oben zitierte Einschränkung in § 51 Abs 2 erster Satz StPO).

Die in diesem Zusammenhang zu ON 387 und ON 524 erfolgte Berufung auf § 74 Abs 2 StPO im Verein mit ‑ nach Ansicht des Erstgerichts ‑ fehlender Relevanz der darin enthaltenen Ermittlungsergebnisse für das Verfahren erweist sich schon aufgrund der abschließenden Regelung der Voraussetzungen für die Verweigerung von Akteneinsicht durch § 51 Abs 2 StPO verfehlt (vgl dazu Reindl-Krauskopf, WK‑StPO § 74 Rz 53, 60; vgl auch § 54 StPO und im Zusammenhang dazu Kier, Beschuldigten‑ und Verteidigungsrechte im neuen Ermittlungsverfahren, ÖJZ 2008, 182 f).

In Betreff von IT-Auswertungsergebnissen hinsichtlich des eigenen Kalenders und Kontaktverzeichnisses von Julius M***** (ON 387) ist zudem überhaupt nicht nachvollziehbar, inwieweit einer Einsichtnahme des Genannten in von ihm selbst angelegte (und ihm daher ‑ auch nach Ansicht des Erstgerichts [BS 15] ‑ ohnehin bekannte) Daten schutzwürdige Interessen betroffener Personen an der Geheimhaltung dieser Daten ihm gegenüber entgegenstehen könnten.

Soweit die Beschränkung der Akteneinsicht auf § 51 Abs 2 zweiter Fall StPO gestützt wird, lassen sich der angefochtenen Entscheidung ‑ diesen Ausspruch tragende ‑ bestimmte Umstände für die Befürchtung einer Gefährdung des Zwecks der Ermittlungen durch die sofortige Information des Beschuldigten nicht entnehmen, deren deutliche Bezeichnung indes für eine solche Annahme erforderlich wäre. Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Einsicht ‑ mit Ausnahme der ON 3038 ‑ durchwegs in Aktenstücke verweigert wurde, die zwischen dem 19. Mai 2009 (ON 331) und 18. Februar 2010 (ON 946), sohin zwei bis drei Jahre vor der ablehnenden Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Wien zu Bestandteilen des Ermittlungsaktes wurden (vgl dazu auch RIS‑Justiz RS0121203; EGMR 25. Juli 2000, Mattoccia gegen Italien, Nr 23969/94).

Die ON 331 (S 1 bis 133), 350, 352, 355, 909, 928 und 946 betreffenden, nicht näher substantiierten Ausführungen, wonach „möglicherweise noch Erhebungen geführt werden“ müssten oder „weitere Ermittlungsschritte erforderlich“ seien und „Absprachen zwischen den Beschuldigten erfolgen könnten“, um deren „derzeit“ nicht geständige Verantwortung miteinander abzustimmen, reicht nämlich zur Begründung der in § 51 Abs 2 zweiter Satz StPO angesprochenen Befürchtung ebenso wenig aus wie Spekulationen zu „allenfalls“ noch erforderlichen „weiteren Ermittlungen, wie zB Zeugen‑ oder Beschuldigteneinvernahmen“ zu den (im Zeitpunkt der Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft seit rund drei Monaten im Akt erliegenden) Seiten 9 bis 11 der ON 3038 und diesbezüglichen Absprachen unter den Beschuldigten (vgl zum Ganzen auch Achammer, WK‑StPO §§ 51 bis 53 Rz 13 und 18; Bertel in Bertel/Venier, StPO § 51 Rz 4 f).

Die aus der Aussage des Zeugen S***** vom 10. Februar 2010, wonach die M***** AG die Geschäftsbeziehung zu ihm „aus wichtigem Grund“ beendet, ihm diesen jedoch nicht genannt habe (ON 937 S 7), gezogene Schlussfolgerung des Erstgerichts, es könne der Versuch der Beeinflussung des genannten Zeugen durch die Ausübung von wirtschaftlichem Druck „nicht ausgeschlossen werden“ (BS 15 letzter Absatz), spricht erneut keine Gefahr im Sinne des § 162 StPO an, weshalb auch die Gewährung von Akteneinsicht in die entsprechenden „zensurierten“ Vernehmungsprotokolle (ON 2155) § 51 Abs 1 StPO nicht gerecht wird. Unter dem Aspekt des § 51 Abs 2 zweiter Fall StPO bleibt im Dunklen, weshalb bei Kenntnis des Einspruchswerbers von den bereits getätigten umfangreichen Aussagen (ON 356 S 193 bis 411, 417 bis 447 und 451 bis 495) des Zeugen der Erfolg weiterer (nicht näher bezeichneter) Ermittlungen aufgrund zu befürchtender Ausübung wirtschaftlichen Drucks gefährdet wäre, obwohl dieser ohnehin nicht mehr bei der M***** AG beschäftigt ist und (nach der Verdachtslage) durch die den Beschuldigten vorgeworfenen Taten auch nicht geschädigt wurde.

Bindung an die Ansicht des Rechtsmittelgerichts besteht für das Erstgericht nach § 89 Abs 2a StPO, der sinngemäß auf § 293 Abs 2 StPO verweist, nur für kassatorische Entscheidungen und für den Fall unveränderten Sachverhalts (Fabrizy, StPO11 § 293 Rz 2; vgl zum Ganzen auch Ratz, Bemerkenswertes aus der Judikatur des OGH in Strafsachen seit 2009 und ein Ausblick zur kassatorischen Beschwerdeentscheidung und zur Fristsetzung gegenüber dem OGH; AnwBl 2011, 111 f). Der ‑ auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juni 2010, AZ 22 Bs 46/10s (ON 1127), und vom 23. Juni 2010, AZ 22 Bs 84/10d (ON 1128) Bezug nehmende ‑ entsprechende Begründungsansatz zu ON 878, 903 sowie ON 356 S 193 bis 217 und 321 bis 343 ist bei ‑ hier vorliegender ‑ erstmaliger Prüfung (auf anderer Sachverhaltsgrundlage) der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Einsicht in die genannten Aktenbestandteile durch die Staatsanwaltschaft zum 26. März 2012 demnach verfehlt.

Dass das Landesgericht für Strafsachen Wien sohin die Verletzung eines subjektiven Rechts durch die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Verweigerung der Akteneinsicht verneint, vielmehr deren Rechtmäßigkeit bestätigt hat, ohne dabei die besonderen Umstände anzuführen, die die Annahme ernster Gefahr im Sinn des § 162 StPO oder eine Gefährdung des Zwecks der Ermittlungen im Sinn des § 51 Abs 2 zweiter Fall StPO nach seiner Überzeugung gerechtfertigt hätten (Fabrizy StPO11 § 106 Rz 3; JAB 406 BlgNR 22. GP 16), macht die darin liegende Ermessensentscheidung willkürlich (vgl auch JAB 406 BlgNR 22. GP 16; E. Fuchs [nunmehr Marek], Rechtschutz im Ermittlungsverfahren, ÖJZ 2007, 898), womit der angefochtene Beschluss im im Spruch ersichtlichen Umfang § 51 Abs 1 und Abs 2 erster und zweiter Satz StPO verletzt.

Während sich die zu I/1 aufgezeigte Gesetzesverletzung in Betreff der ON 2099 und 2100, hinsichtlich derer dem Beschwerdeführer bereits zum Zeitpunkt der Beschlussfassung der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien Akteneinsicht gewährt und die Verletzung eines subjektiven Rechts durch deren Verweigerung bejaht worden war (vgl den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. November 2012, ON 3898), nicht zum Nachteil des Beschuldigten auswirkte, weshalb es mit ihrer

Feststellung sein

Bewenden hat (§ 292 vorletzter Satz StPO), sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), die

Feststellung der dargestellten fehlerhaften Gesetzesanwendungen im Übrigen zufolge deren nachteiliger Wirkung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.

Mit Blick auf den Erfolg der von der Generalprokuratur

aus Anlass des ‑ ausschließlich auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 6. Februar 2013, AZ 22 Bs 10/13a, bezogenen -Erneuerungsantrags erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes kann der Erneuerungswerber in diesem Umfang ebenso wie mit seiner Beschwerde auf deren Erledigung

verwiesen werden, weil sich die Nichtigkeitsbeschwerde in Ansehung der reklamierten Grundrechtsverletzungen insoweit mit dem Erneuerungsantrag deckt und die nach § 292 letzter Satz

StPO verfügte konkrete Wirkung einen angemessenen Ausgleich für die Grundrechtsverletzungen darstellt.

Im darüber hinausgehenden Umfang war der Erneuerungsantrag zurückzuweisen, weil eine Grundrechtsverletzung durch Verweigerung der Einsicht in ON 2099 und 2100 aus den eben genannten Gründen nicht aufgezeigt wird.

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