Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das erstgerichtliche Urteil wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 2.620,64 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin sind S 238,24 an Umsatzsteuer enthalten) sowie die mit S 1.510,08 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin sind S 137,28 an Umsatzsteuer enthalten) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin begehrt die Feststellung des aufrechten Bestandes ihres Dienstverhältnisses mit der Behauptung, sie sei ungerechtfertigt gekündigt worden. Auf ihr Dienstverhältnis seien die Bestimmungen des niederösterreichischen Landesvertragsbedienstetengesetzes anzuwenden, sodaß sie nur bei Vorliegen eines der im § 61 leg. cit. genannten Gründe rechtswirksam gekündigt werden könne. Die ihr im Kündigungsschreiben vorgeworfene vorschriftswidrige Benützung der ihr von der beklagten Partei eingeräumten Dienstwohnung liege deshalb nicht vor, weil sie nur ihre Tochter einige Male habe darin übernachten lassen. Ebensowenig habe sie Heiminsassen die diesen vom Heimarzt verschriebenen Medikamente vorenthalten; sie habe lediglich einmal eine neue Oberschwester unter Hinweis auf den Zustand der Patientin höflich gebeten, von der Verabreichung des Medikamentes Buronil 100 abzusehen. Sie habe es als ihre Pflicht angesehen, eine Kollegin und Vorgesetzte auf einen ihrer Auffassung nach schweren Medikationsfehler hinzuweisen. Im übrigen sei sie mit der Arzneimittelausgabe nicht befaßt gewesen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Klägerin sei nach der geltenden Vorschrift für Dienstwohnungen die Beherbergung betriebsfremder Personen in Einzelräumen verboten gewesen. Sie habe nicht ihre Tochter, sondern ihre Freundin trotz Abmahnung nächtigen lassen. Die Klägerin habe wiederholt trotz Ermahnungen eigenmächtig Medikamente abgesetzt oder ohne Anweisung ausgegeben.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:
Die Klägerin war seit 1. August 1978 im Altersheim der beklagten Partei in Himberg als Stationsgehilfin beschäftigt. Auf dieses Dienstverhältnis fanden die Bestimmungen des niederösterreichischen Landesvertragsbedienstetengesetzes Anwendung. Der Klägerin wurde eine aus einem Einzelraum bestehende Dienstwohnung in diesem Heim zugewiesen. Als die Klägerin im Turnusdienst eingeteilt war, hatte sie auch Medikamente zu verabreichen. Dem Verwalter des Heimes wurde von Schwestern mitgeteilt, daß die Klägerin ohne Rücksprache mit dem Arzt oder der Stationsschwester Heiminsassen Medikamente nicht verabreichte. Obwohl der Verwalter von diesen Beschwerden der Klägerin Mitteilung machte, wurden immer wieder derartige Klagen erhoben. Zum Teil gab die Klägerin die Richtigkeit der Vorwürfe mit dem Bemerken zu, sie sei in Polen Diplomkrankenschwester gewesen, zum Teil bestritt sie die Vorwürfe. Im Herbst 1982 wurde die Klägerin vom Hauptdienst abgezogen. Trotzdem wurden von der Stationsschwester H*** und der Schwester H*** weiterhin gleichartige Vorwürfe gegen die Klägerin erhoben. Im Herbst 1983 gab es deshalb sogar eine Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und dem Heimarzt Dr. Hans W***. Dieser fragte die Klägerin, ob sie die verordneten Medikamente verabreiche, weil ihm bekannt geworden sei, daß sie es damit nicht genau nehme. Die Klägerin antwortete sinngemäß, alle Medikamente seien ein "Klumpert", und entfernte sich. Auch die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. Christine N***, welche die Heiminsassen ebenfalls betreute, erfuhr, daß die Klägerin verordnete Medikamente nicht verabreiche.
Am 25. November 1983 wurde die seit diesem Tag im Heim beschäftigte Schwester Rosa H*** von einer anderen Schwester ersucht, der Patientin R*** eine Tablette Buronil 100
unmittelbar in den Mund zu verabreichen; sie solle dies aber in Abwesenheit der Klägerin tun, weil diese nicht wolle, daß am Abend Buronil 100 verabreicht werde. Diese Medikation war von Dr. Christine N*** am 22. November 1983 angeordnet worden. Am 23. November 1983 hatte die Ärztin das Medikament abgesetzt und durch Dominal Forte 80 ersetzt, weil die Patientin aggressiv geworden war. Das letztgenannte Medikament kann auch mit Buronil 100 kombiniert werden. Die Schwestern kennen die Anwendbarkeit dieser Medikamente und können (richtig: dürfen) im Bedarfsfall auch zu Dominal Forte 80 das Buronil 100 verabreichen. Sie dürfen im Bedarfsfall variieren und ändern, nicht aber ein verordnetes Medikament zur Gänze absetzen. Die Ärztin erlaubt den Schwestern für den Bedarfsfall eine Steigerung der Medikation, wobei sie die oberste Grenze angibt. Wenn die Oberschwester der Meinung ist, daß eine Änderung erforderlich sei, ruft sie die Ärztin an. Als die Schwester Rosa H*** der Patientin R*** die Tablette Buronil 100 geben wollte, erklärte sich diese zur Einnahme bereit, verlangte aber ein Glas Wasser. Als die Schwester eben im Begriff war, ein Glas mit Wasser anzufüllen, erschien die Klägerin im Zimmer und schlug der Schwester (oder der Patientin) die Tablette aus der Hand. Sie sagte dazu, das tauge nichts und sei ohnedies nicht gut. Sie forderte die Schwester H*** auf, die auf den Boden gefallene Tablette nicht zu suchen. Das Austeilen von Medikamenten gehört zu den Obliegenheiten des Hauptdienstes, nicht des (von der Klägerin verrichteten) Beidienstes. Rosa H***
teilte diesen Vorfall der Schwester, die sie um die Verabreichung des Medikamentes ersucht hatte, sowie dem Verwalter und der Ärztin mit.
Die Klägerin sagte zu Franz K***, dessen Mutter im Heim untergebracht war, die seiner Mutter verabreichten Medikamente seien schlecht.
Die Klägerin ließ wiederholt die Tochter ihres geschiedenen Ehemannes trotz Abmahnung in ihrem Einzelzimmer nächtigen. Sie wurde am 13. Dezember 1983 über die Vorfälle im Heim einvernommen. Am 9. Jänner 1984 wurde die Kündigung der Klägerin zum 30. April 1984 mit der Begründung ausgesprochen, sie habe ihre Dienstpflichten dadurch gröblich verletzt, daß sie heimfremde Personen in ihrer Dienstwohnung habe nächtigen lassen, daß sie regelmäßig und bewußt Heiminsassen ärztlich verordnete Medikamente vorenthalten habe und einen vermutlich zur Dienstkleidung gehörigen Arbeitsmantel verborgt habe.
Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, die Klägerin habe durch die Unterlassung der Verabreichung von Medikamenten, ferner durch die Äußerung gegenüber Franz K***, die seiner Mutter verabreichten Medikamente seien für sie schlecht, sowie durch die Beherbergung einer heimfremden Person in der Dienstwohnung ihre Dienstpflichten gröblich verletzt. Die Kündigung sei daher gemäß dem § 61 Abs 2 lit a des niederösterreichischen Landesvertragsbedienstetengesetzes gerechtfertigt.
Im Berufungsverfahren brachte die Klägerin neu vor, die Kündigung sei verspätet ausgesprochen worden.
Das Berufungsgericht änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es dem Klagebegehren stattgab; es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes S 2.000,-- übersteige. Das Berufungsgericht führte das Verfahren gemäß dem § 25 Abs 1 Z 3 ArbGG neu durch und traf die gleichen Feststellungen wie das Erstgericht, jedoch mit Ausnahme der Feststellung, auch nach dem Herbst 1982 habe es im Zuammenhang mit Medikamentenvorfällen über die Klägerin Beschwerden seitens der Stationsschwester H*** und der Schwester H*** gegeben; ferner mit Ausnahme der die Patientin K*** und die Gespräche der Klägerin mit Franz K*** betreffenden Feststellungen. Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsauffassung, ein Verstoß gegen das Beherbergungsverbot heimfremder Personen liege nicht vor, weil die Klägerin ihre Stieftochter nicht "beherbergt", sondern nur gelegentlich habe nächtigen lassen. Da die Klägerin im letzten Jahr vor dem 25. November 1983 Medikamente nicht vorenthalten habe, liege nur ein einziger Fall, nämlich der vom 25. November 1983 vor, der jedoch nur als Ordnungswidrigkeit zu qualifizieren sei. Die Klägerin habe Frau Rosa H*** nicht als Schwester erkannt. Eine gröbliche Verletzung der Dienstpflichten liege daher nicht vor. Gegen diese Entscheidung richtet sich die aus den Gründen der Aktenwidrigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision der beklagten Partei mit einem auf die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils abzielenden Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Die Anfechtungsgründe der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
Mit Rücksicht auf den Neuverhandlungsgrundsatz des § 25 Abs 1 Z 3 ArbGG ist das Berufungsgericht berechtigt, auf Grund bloßer Verlesung der vor dem Erstgericht aufgenommenen Protokolle eigene Feststellungen zu treffen, wenn nicht eine der Parteien gegen die Verlesung Einsprache erhoben hat. Eine solche Einsprache ist hier nicht erfolgt (vgl. dazu jetzt allgemein auch den § 281 a ZPO). Der in der Rechtsrüge vertretenen Auffassung, es liege nicht bloß eine Ordnungswidrigkeit der Klägerin vor, ist zuzustimmen. Wenn auch das Berufungsgericht die nach dem Herbst 1982 von der Stationsschwester H*** und der Schwester H*** gegen die Klägerin erhobenen Beschwerden sowie die Äußerungen der Klägerin gegenüber Franz K*** und die Vorfälle mit der Patientin K***
(abweichend vom Erstgericht) nicht als erwiesen annahm, so hat es doch gleich dem Erstgericht die Auseinandersetzung der Klägerin mit Dr. Hans W*** vom Herbst 1983 sowie die wenn auch indirekten Wahrnehmungen der Ärztin Dr. Christine N*** über die Unterlassung der Verabreichung von Medikamenten durch die Klägerin festgestellt. Daraus folgt, daß zwischen den bis zum Herbst 1982 begangenen Dienstpflichtverletzungen durch Unterlassung der Verabreichung verordneter Medikamente und dem Vorfall vom 25. November 1983 weitere gleichartige Dienstpflichtverletzungen vorliegen, sodaß der letztgenannte Vorfall nur die letzte einer während eines längeren Zeitraumes begangenen größeren Anzahl gleichartiger Dienstpflichtverletzungen ist. Die Klägerin verhinderte nach den Feststellungen und in Übereinstimmung mit ihrem Prozeßvorbringen die Verabreichung des Buronil 100 deshalb, weil sie dieses Medikament aus grundsätzlichen Erwägungen nicht für gut befand, nicht aber, wie das Berufungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung im Widerspruch zum Prozeßvorbringen der Klägerin ausführte, weil sie die Schwester Rosa H*** nicht als Schwester erkannt hatte. In ihrer im Heim erfolgten Vernehmung vom 13. Dezember 1983 gab sie dazu an, es würden zu starke Beruhigungsmittel verschrieben und verabreicht; daran schloß sie eine Kritik an der Ärztin Dr. Christine N***. Sie verhinderte die Medikamentenabgabe auch nicht etwa aus dem ihr - damals gar nicht bekannten - Grund der Absetzung durch die Ärztin. Davon abgesehen steht fest, daß die Schwestern berechtigt waren, im Bedarfsfall zu dem Medikament Dominal Forte 80 auch das Buronil 100 zu verabreichen und überhaupt im Bedarfsfall die Medikation zu ändern. Wenn daher die Klägerin aus einem bestimmten konkreten Grund Bedenken gegen die Verabreichung des Buronil 100 an die Patientin R*** gehabt hätte, wäre es ihre Pflicht gewesen, diese Bedenken der Stationsschwester mitzuteilen, nicht aber auf die festgestellte Weise die Medikamentenabgabe zu verhindern.
Unter Bedachtnahme auf das Gesamtverhalten der Klägerin liegt daher eine gröbliche Verletzung ihrer Dienstpflichten vor, welche eine Kündigung aus dem Grunde des § 61 Abs 2 lit a des niederösterreichischen Landesvertragsbedienstetengesetzes rechtfertigte. Die Kündigung ist auch nicht etwa verspätet ausgesprochen worden, weil die Klägerin nach dem Vorfall vom 25. November 1983 bereits am 13. Dezember 1983 vernommen und am 9. Jänner 1984 gekündigt wurde. Bei juristischen Personen, insbesondere daher auch bei einer Gebietskörperschaft, ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die für den Ausspruch einer Kündigung notwendige Willensbildung mehr Zeit erfordert als bei physischen Personen (Arb. 10.140 mwH).
Auf die weitere Frage, ob die Nächtigung der Stieftochter der Klägerin ebenfalls eine gröbliche Dienstpflichtverletzung oder nur eine mit den Dienstpflichten nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehende Verletzung des Vertrages über die Einräumung der Dienstwohnung ist, muß daher nicht mehr eingegangen werden. Die Kostenentscheidung ist in den §§ 41 und 50 ZPO begründet.
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