OGH 13Os56/17k

OGH13Os56/17k6.9.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. September 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wetter als Schriftführer in der Auslieferungssache des Vincenzo C*****, AZ 311 HR 134/16p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Genannten auf Erneuerung des Verfahrens und den damit verbundenen Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0130OS00056.17K.0906.000

 

Spruch:

Die Anträge werden zurückgewiesen.

 

Gründe:

Aufgrund einer Ausschreibung zur Personenfahndung und eines Europäischen Haftbefehls des Tribunale di Napoli vom 7. Oktober 2011 leitete die Staatsanwaltschaft Wien gegen den italienischen Staatsangehörigen Vincenzo C***** ein Auslieferungsverfahren ein. Den Auslieferungsunterlagen zufolge sei Vincenzo C***** der Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel des Suchtgifthandels von 2002 bis 2011 in Neapel und des Handelns mit Suchtgiften in einer Größenordnung von weit mehr als hundert Kilogramm in Neapel und andernorts zwischen 2001 und 2006 verdächtig.

Mit nicht in Rechtskraft erwachsenem Abwesenheitsurteil des Tribunale di Napoli vom 7. März 2016, das den Auslieferungsunterlagen angeschlossen war, wurde Vincenzo C*****, der sich im Verfahren durchgehend durch Wahlverteidiger vertreten ließ, zu einer Freiheitsstrafe von 24 Jahren verurteilt (ON 107). Über die von den Wahlverteidigern erhobene Berufung des Genannten wurde noch nicht entschieden.

Mit Beschluss vom 30. Jänner 2017, GZ 311 HR 134/16p‑107, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die seitens des Justizministeriums der Republik Italien mit Ersuchen vom Juli 2016 begehrte Auslieferung des italienischen Staatsangehörigen Vincenzo C***** zur Strafverfolgung wegen der dem Ersuchen samt Unterlagen zugrunde liegenden Straftaten, die nach österreichischem Recht als Vergehen der kriminellen Vereinigung nach § 278 Abs 1 StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG zu qualifizieren seien, für zulässig.

Der dagegen erhobenen Beschwerde des Vincenzo C***** (ON 119) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 2. Mai 2017, AZ 22 Bs 57/17v, nicht Folge.

Gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts richtet sich der fristgerechte, eine Verletzung von Art 3, 6 und 8 MRK reklamierende Antrag des Vincenzo C***** auf Erneuerung des Verfahrens. Dieser ist offenbar unbegründet.

 

Rechtliche Beurteilung

1. Zu Art 3 MRK:

Haftbedingungen können Art 3 MRK verletzen, wenn sie erhebliches psychisches oder physisches Leid verursachen, die Menschenwürde beeinträchtigen oder Gefühle von Demütigung und Erniedrigung erwecken (

RIS‑Justiz RS0123229 [T4]; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 20 Rz 62). Der erforderliche Nachweis für eine konkrete Gefährdung (vgl RIS-Justiz RS0123229) des Vincenzo C*****, im Fall der Auslieferung einer derartigen konventionswidrigen Behandlung ausgesetzt zu sein, wurde vom Oberlandesgericht als nicht erbracht angesehen.

Durch den Verweis auf das zur Überbelegung von Gefängnissen in Italien ergangene Piloturteil des Europäischen Gerichtshofs (EGMR 8. 1. 2013, 43517/09, Torregiani u.a. gegen Italien) zeigt der Erneuerungswerber keine Fehlbeurteilung des Beschwerdegerichts auf. Weshalb vom Fortbestehen der darin festgestellten systemischen Probleme auszugehen sei, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die von Italien gegen die Überbelegung von Gefängnissen ergriffenen gesetzlichen Maßnahmen bereits als effektiv anerkannt und weitere derartige Beschwerden wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig erklärt hat (EGMR 16. 9. 2014, 49169/09 Stella ua gegen Italien und 47180/10, Rexhepi u.a. gegen Italien; EGMR 10. 3. 2015, 14097/12 ua, Varga gegen Ungarn), lässt der Antrag nämlich offen.

2. Zu Art 6 MRK:

Dessen Verfahrensgarantien können für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nur dann Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat ein faires Verfahren offenkundig verweigert würde („flagrant denial of a fair trial“; RIS-Justiz RS0123200; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 19 Rz 14; Meyer-Ladewig, EMRK4 Art 6 Rz 166). Für eine drohende Verletzung von Art 6 MRK im Strafverfahren des ersuchenden Staats sind substanziierte Gründe vorzubringen.

Abwesenheitsverfahren sind mit dem durch Art 6 Abs 1 MRK gewährten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar, wenn – eindeutige – konkrete Anhaltspunkte für die Absicht des Beschuldigten, sich dem Strafverfahren durch Flucht zu entziehen, vorliegen (vgl Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 16).

Das Beschwerdegericht ging bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Auslieferung davon aus, dass Vincenzo C***** seit der versuchten Festnahme am 18. April 2013 Kenntnis von dem gegen ihn geführten Strafverfahren hatte und zwei italienische Anwälte bevollmächtigte, ihn in diesem zu vertreten, nach Rücksprache mit seinen Verteidigern, die in der Folge ausschließlich mit seiner Familie Kontakt pflegten, beschlossen hatte, sich dem italienischen Strafverfahren „mangels ausreichender Beweise“ nicht zu stellen, und aus Angst vor einer Verhaftung seine Wohn- und Meldeadresse nicht mehr aufgesucht habe. Da er in Österreich auch keine aufrechte Meldung mehr aufwies, sei C***** für die italienische Polizei unauffindbar gewesen (BS 7 f). Bei der Festnahme sei die betroffene Person mit (mutmaßlich) gefälschten Ausweisen betreten worden (BS 7 f). Das Beschwerdegericht wies auch darauf hin, dass C***** in dem gegen ihn geführten Strafverfahren durchgängig von Wahlverteidigern vertreten gewesen sei, die gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung erhoben (BS 8). Vom dargestellten Sachverhalt ausgehend wurde die nach Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls und Fahndungsmaßnahmen erfolgte Durchführung des Strafverfahrens in Abwesenheit der betroffenen Person, die auch an ihrer Meldeadresse in Österreich nicht verhaftet werden konnte, nicht als konventionswidrig erachtet (BS 7 f).

Soweit der Erneuerungswerber dem widerspricht, einen Verzicht auf die Teilnahme an der Hauptverhandlung ebenso bestreitet wie die Annahme, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entzogen habe, seine Argumentation aber nicht anhand der Tatsachenbasis der bekämpften Entscheidung, sondern der Behauptung entwickelt, vom Europäischen Haftbefehl und Strafverfahren nicht in Kenntnis gewesen zu sein, von einer aufrechten Meldeadresse in Österreich ausgeht und kritisiert, dass die italienischen Behörden „aktiven Nachforschungspflichten“ nicht nachgekommen seien, wird er den Anforderungen an einen Antrag gemäß § 363a StPO nicht gerecht (RIS-Justiz RS0125393 [T1]).

Mit dem Vorbringen, die aus den Angaben der betroffenen Person abgeleitete Feststellung, wonach C***** nach dem Versuch seiner Festnahme seine Wohn- und Meldeadresse nicht mehr aufgesucht habe, sei „eindeutig aktenwidrig“, weil dieser an der Adresse lediglich nicht mehr gewohnt haben will, zeigt der Antrag den behaupteten Begründungsfehler (§ 281 Abs 1 Z 5 fünfter Fall StPO) nicht auf.

Im Hinblick darauf, dass das im ersuchenden Staat durchgeführte Abwesenheitsverfahren – nach den erfolglos bekämpften Konstatierungen des Beschwerdegerichts – den von Art 6 MRK geforderten Verfahrensgarantien entsprach, erübrigt sich ein Eingehen auf die weiteren, das Berufungsverfahren betreffenden Einwände.

Indem der Erneuerungswerber auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend Fallkonstellationen verweist, in denen nicht gesichert war, dass der in der Hauptverhandlung durch einen Pflichtverteidiger vertretene, rechtskräftig in Abwesenheit verurteilte Beschuldigte in Kenntnis von dem gegen ihn geführten Strafverfahren war (EGMR 12. 10. 1992, T gegen Italien = ÖJZ 1993/13), oder sich auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bezieht, der zugrunde lag, dass sich die in Abwesenheit rechtskräftig verurteilte Person zum Zeitpunkt der Durchführung der Hauptverhandlung in einem anderen Staat in Haft befand (15 Os 117/07f), erklärt er nicht, warum in Bezug auf ihn die gleichen Schlussfolgerungen zu ziehen wären.

Auf den zusätzlichen, die Entscheidungsfindung durch eine Richterin betreffenden Hinweis, die am Beweisverfahren nicht teilgenommen habe, ist schon deswegen nicht näher einzugehen, weil der nachweispflichtige Erneuerungswerber diesbezüglich nicht einmal behauptet, dass ihm der ersuchende Staat, bei dem es sich um einen Vertragsstaat der MRK handelt, ein faires Verfahren verweigern würde.

3. Zu Art 8 MRK:

Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Art 8 MRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist oder kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann (RIS‑Justiz RS0123230). Unter bestimmten Umständen kann der Schutz des Familienlebens einer Auslieferung entgegenstehen, wenn die betroffene Person im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch die Auslieferung beeinträchtigt würden.

Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist im hier maßgeblichen Zusammenhang einer Auslieferung zur Strafverfolgung zu berücksichtigen, dass den Interessen der betroffenen Person – anders als etwa in Fällen der Ausweisung und Abschiebung zur Durchsetzung der Einwanderungspolitik – insbesondere das Interesse des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten gegenüber steht, wobei der EGMR dem Strafverfolgungsinteresse bei Suchtgiftdelinquenz besonderes Gewicht beimisst (RIS‑Justiz RS0123230 [T4]).

Daran orientiert sich das auf den in Österreich begründeten Wohnsitz und die engen familiären Beziehungen des Antragstellers Bezug nehmende Vorbringen nicht.

Das Oberlandesgericht hat im Rahmen seiner Prüfung darauf hingewiesen, dass dem Beschwerdevorbringen nicht zu entnehmen sei, weshalb die mit C***** seit 2008 in Österreich aufhältige Ehegattin und der gemeinsame Sohn den Antragsteller in Italien nicht zumindest besuchen oder zu ihm reisen könnten (BS 13).

Mit dem Einwand, es könne seinen Familienmitgliedern nicht zugemutet werden, ihm nach Italien zu folgen, weil deren Lebensmittelpunkt in Österreich sei, wird keine Fehlbeurteilung des Beschwerdegerichts aufgezeigt.

Weshalb Bestimmungen des EU-JZG oder NAG bei der nach Art 8 Abs 2 MRK vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen gewesen wären, obwohl bereits § 139 Abs 4 EU-JZG die Anwendung des EU-JZG auf ausschließlich nach dem 7. August 2002 begangene Taten beschränkt, erklärt die betroffene Person nicht, sodass sich das Vorbringen schon deshalb einer inhaltlichen Erwiderung entzieht.

Der Erneuerungsantrag war daher – im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

 

Zum Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung:

Mit Blick auf die Kompetenzen des § 362 Abs 5 StPO nimmt der Oberste Gerichtshof zwar die Befugnis in Anspruch, den Vollzug mit Erneuerungsantrag bekämpfter Entscheidungen zu hemmen, ein Antragsrecht betroffener Personen ist daraus jedoch nicht abzuleiten (RIS‑Justiz RS0125705). Der dennoch darauf bezogene Antrag des Erneuerungswerbers war daher als unzulässig zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte