OGH 13Os47/06w

OGH13Os47/06w14.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Juni 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll, Mag. Hetlinger und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart der Richterin Dr. Kropiunig als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ljubisa P***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Verfügungen des Bezirksgerichtes Hernals im Verfahren AZ 39 U 597/03p erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Weiß, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten Ljubisa P***** zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren des Bezirksgerichtes Hernals, AZ 39 U 597/03p, gegen Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, verletzten das Gesetz

1. der Beschluss vom 7. September 2005 auf Einbeziehung des Aktes AZ 16 U 512/05h des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien im § 56 Abs 1 StPO;

2. die ohne gehörige Ladung des Beschuldigten erfolgte Vornahme der Hauptverhandlung auch wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB und die Fällung des Abwesenheitsurteils vom 24. Oktober 2005 mit einem Schuldspruch wegen dieses Vergehens im § 459 iVm § 454 StPO;

3. der Beschluss vom 22. Dezember 2005, GZ 39 U 597/03p-32, mit dem das mündlich verkündete Urteil vom 24. Oktober 2005 dahingehend berichtigt wurde, dass die Verurteilung nicht auch wegen § 88 Abs 1 StGB erfolgte, sowie die Abweichung der schriftlichen Ausfertigung des Urteils vom 24. Oktober 2005 vom mündlich verkündeten Urteil durch Auslassung des Schuldspruches nach § 88 Abs 1 StGB und des Ausspruches über die Anwendung des § 28 StGB in dem aus §§ 458 und 270 (iVm § 447) StPO ableitbaren Grundsatz der Bindung des (Bezirks-)Gerichtes an das mündlich verkündete Urteil;

4. der unvollständige Vermerk im Hauptverhandlungsprotokoll über den Inhalt des am 24. Oktober 2005 verkündeten Urteils im § 271 Abs 1 Z 7 (iVm § 447) StPO.

Gemäß § 292 letzter Satz StPO wird das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichtes Hernals vom 24. Oktober 2005 aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Antrag vom 3. Februar 2005 begehrte die Staatsanwaltschaft Wien beim Bezirksgericht Hernals zu AZ 39 U 597/03p (ehemals AZ 13 U 15/00f) die Bestrafung des Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB (ON 12). Die Vorladung zu der für den 24. Oktober 2005 anberaumten Hauptverhandlung, in der auf diesen Bestrafungsantrag (dessen Zustellung bereits am 9. Februar 2005 verfügt worden war; vgl S 3a) hingewiesen und in der die vorgeworfene Tat bezeichnet worden war, wurde Ljubisa P***** (nach zwei erfolglosen Zustellversuchen) am 20. Juli 2005 durch Hinterlegung zugestellt (ON 19). Mit Beschluss vom 7. September 2005 verfügte das Bezirksgericht Hernals gemäß § 56 StPO die Einbeziehung des Aktes AZ 16 U 512/05h des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien (S 3b verso), obgleich der von der Staatsanwaltschaft Wien im einbezogenen Verfahren am 25. August 2005 erhobene Antrag auf Bestrafung wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB (ON 3 in AZ 16 U 512/05h) sich nicht auf den Beschuldigten, sondern auf einen (lediglich namensgleichen) Ljubisa P*****, geboren am 6. November 1970, bezog. Zugleich mit der Einbeziehung verfügte das Bezirksgericht Hernals auch die Zustellung des Bestrafungsantrages wegen § 88 Abs 1 StGB an Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, unterließ aber einen Hinweis darauf, dass sich die Hauptverhandlung am 24. Oktober 2005 auch auf diese, den Genannten nicht betreffende Tat erstrecken werde.

Die Hauptverhandlung vom 24. Oktober 2004 wurde in Abwesenheit des - lediglich in Ansehung des Anklagevorwurfs wegen § 198 Abs 1 StGB gehörig vorgeladenen - Beschuldigten Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, vorgenommen. Dem Hauptverhandlungsprotokoll zufolge trug die Anklagevertreterin „die Anklage" vor (S 187) und hielt nach Schluss des Beweisverfahrens, in dessen Verlauf unter anderem auch der einbezogene Akt des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien, AZ 16 U 512/05h, verlesen wurde, „den Strafantrag" aufrecht (S 189). Mit (seitens der Staatsanwaltschaft nicht bekämpftem) Abwesenheitsurteil vom 24. Oktober 2005 erkannte das Bezirksgericht Hernals den Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, „wegen §§ 198 Abs 1, 88 Abs 1 StGB" schuldig und verhängte über ihn nach § 198 Abs 1 StGB unter Anwendung des § 28 (Abs 1) StGB eine gemäß § 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Welche Straftaten dem mündlich verkündeten „Schuldspruch wegen §§ 198 Abs 1, 88 Abs 1 StGB" zu Grunde lagen, wurde im Hauptverhandlungsprotokoll nicht dargestellt (S 189). Überdies wurde nicht festgehalten, dass es sich bei diesen strafbaren Handlungen um Vergehen handelt. Mit einem gemeinsam mit der schriftlichen Urteilsausfertigung der Geschäftsabteilung übergebenen Beschluss vom 22. Dezember 2005 berichtigte das Bezirksgericht Hernals (welches ersichtlich erst nach Urteilsfällung die auf die Namensgleichheit zurückzuführende Personenverwechslung bemerkt hatte) das mündlich verkündete Abwesenheitsurteil vom 24. Oktober 2005 dahingehend, dass in der Strafsache gegen Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, „die Verurteilung richtigerweise nicht auch wegen § 88 Abs 1 StGB, sondern nur wegen § 198 Abs 1 StGB und nicht unter Anwendung des § 28 StGB erfolgte" (ON 32). Die vom Bezirksgericht Hernals über das Abwesenheitsurteil verfasste Urteilsausfertigung enthält (im Sinne des „Berichtigungsbeschlusses") demgemäß nur den Schuldspruch wegen des Vergehens nach § 198 Abs 1 StGB, unterlässt jedoch (auch in den Entscheidungsgründen) jeglichen Hinweis auf den weiteren Schuldspruch nach § 88 Abs 1 StGB sowie darauf, dass auch letzterer dem Strafausspruch zugrunde gelegt worden ist (ON 31).

Mit Beschluss vom 29. Dezember 2005 (S 3c) verfügte das Bezirksgericht Hernals sodann unter Hinweis auf die fehlende subjektive Konnexität die Ausscheidung und Rückabtretung des Aktes 16 U 512/05h an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien (Punkt 1.) sowie die Abfertigung des Urteils an den Beschuldigten Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972 (Punkt 2.), unterließ jedoch (anders als gegenüber der Staatsanwaltschaft; vgl Punkt 3. dieses Beschlusses) die Bekanntmachung des „Berichtigungsbeschlusses" ON 32 gegenüber diesem Beschuldigten.

Das „berichtigte" Abwesenheitsurteil wurde Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, am 4. Jänner 2006 durch Hinterlegung zugestellt. Ein Einspruch oder eine Berufung gegen dieses Urteil wurde vom Beschuldigten nicht erhoben (Vermerk der Generalprokuratur vom 20. April 2006).

Rechtliche Beurteilung

Im Verfahren AZ 39 U 597/03p des Bezirksgerichtes Hernals wurde das Gesetz - wie von der Generalprokuratur zutreffend aufgezeigt - in mehrfacher Hinsicht verletzt:

Beschuldigter dieses Verfahrens ist Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, dem die Verletzung der Unterhaltspflicht zum Nachteil des mj. Patrick B***** im Zeitraum vom 1. Oktober 1998 bis zum 12. Jänner 2005 zur Last gelegt wird. Das einbezogene Verfahren des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien, AZ 16 U 512/05h, richtet sich jedoch gegen Ljubisa P*****, geboren am 6. November 1970, dem das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB in Bezug auf einen Verkehrsunfall vom 22. Jänner 2005 zum Nachteil der Gertrude Pf***** vorgeworfen wird.

Zwischen beiden Verfahren besteht weder subjektive oder objektive Konnexität noch ein sonstiger enger sachlicher Zusammenhang, sodass die Voraussetzungen des § 56 StPO für die mit Beschluss vom 7. September 2005 verfügte gemeinsame Führung beider Verfahren nicht vorlagen.

Eine Verhandlung vor dem Bezirksgericht in Abwesenheit des Beschuldigten ist gemäß § 459 StPO nur bei gehöriger Vorladung zulässig. Gehörig ist eine Vorladung aber nur, wenn sie auch der Vorschrift des § 454 StPO entspricht, derzufolge dem Beschuldigten hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Straftat die Gelegenheit eingeräumt sein muss, sich die zu seiner Verteidigung dienenden Beweismittel zu verschaffen (11 Os 66/95; Rainer, WK-StPO § 459 Rz 2). Dies setzt die Kenntnis des Beschuldigten voraus, welche Straftat Gegenstand der Hauptverhandlung sein wird, weil ihm sonst die Möglichkeit vorenthalten wird, ausreichend über sein Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung zu disponieren und das Risiko allfälliger Abwesenheitsfolgen zu kalkulieren.

Zur Hauptverhandlung am 24. Oktober 2005 war der Beschuldigte Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, daher insoweit als diese - durch Verlesung des Aktes AZ 16 U 512/05h - auch den Verkehrsunfall vom 22. Jänner 2005 zum Gegenstand hatte, nicht (im Sinne des § 459 StPO) gehörig geladen, weil ihm diese Ausweitung des Verhandlungsgegenstandes weder bei Zustellung des (ihn gar nicht betreffenden) Bestrafungsantrages vom 25. August 2005 (GZ 16 U 512/05h-3 des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien) noch sonst zur Kenntnis gebracht wurde. Demgemäß hätte - abgesehen von der nicht gegebenen Identität der von den Strafverfahren AZ 39 U 597/03p des Bezirksgerichtes Hernals und AZ 16 U 512/05h des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien betroffenen beiden Beschuldigten - in Bezug auf den genannten Verkehrsunfall in Abwesenheit des Beschuldigten Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, weder die Hauptverhandlung vorgenommen, noch ein Abwesenheitsurteil gefällt werden dürfen. Das (Bezirks-)Gericht ist an das verkündete Urteil gebunden, und zwar auch dann, wenn dieses - wie hier - fehlerhaft ist (vgl Fabrizy, StPO9 § 270 Rz 12 mwN). Diese Bindungswirkung ergibt sich unmissverständlich aus den Bestimmungen der §§ 458 und 270 (iVm § 447) StPO. Denn in beiden Fällen wird von dem Urteil gesprochen, das zunächst zu verkünden und sodann (im Verfahren vor dem Bezirksgericht und im Einzelrichterverfahren vor dem Gerichtshof 1. Instanz unter den Voraussetzungen des § 458 Abs 3 StPO gegebenenfalls gekürzt) auf der Basis des verkündeten Urteils auszufertigen ist, zumal sich auch die idR vor Urteilsausfertigung geforderten Rechtsmittelerklärungen daran orientieren müssen. Berichtigungen bzw Änderungen in der (schriftlichen) Ausfertigung gegenüber dem mündlich verkündeten Urteil sind nur im Rahmen des § 270 Abs 3 StPO, nicht also im entscheidenden Teil (§ 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO) zulässig (vgl die auf das schöffengerichtliche Verfahren bezogenen Ausführungen zu §§ 268 und 270 StPO in SSt 35/26; s auch SSt 47/50). Umgekehrt muss eine in den entscheidenden Teilen abweichende schriftliche Urteilsausfertigung dem mündlich verkündeten Urteil angeglichen werden (vgl SSt 47/50; 15 Os 3/03; 14 Os 72/95).

Die den Schuldspruch wegen § 88 Abs 1 StGB betreffende „Berichtigung" im Beschluss ON 32 sowie die (dem „Berichtigungsbeschluss" ON 32 folgende) Abweichung der schriftlichen Urteilsausfertigung (ON 31) vom mündlich verkündeten Urteil vom 24. Oktober 2005 durch Auslassung des Schuldspruches wegen § 88 Abs 1 StGB und des Ausspruches über die Anwendung des § 28 StGB stehen mit dem dargelegten Grundsatz der Bindungswirkung des mündlich verkündeten Urteils nicht im Einklang.

§ 271 Abs 1 Z 7 StPO sieht vor, dass das bei sonstiger Nichtigkeit aufzunehmende Protokoll auch den Spruch des Urteils mit sämtlichen in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben - und damit auch den Ausspruch, welcher Tat der Angeklagte für schuldig befunden worden ist (Z 1) und ob die strafbare Handlung ein Verbrechen oder ein Vergehen ist (Z 2) - zu enthalten hat. Der Vermerk im Hauptverhandungsprotokoll vom 24. Oktober 2005 zum verkündeten Urteil, dass ein „Schuldspruch wegen §§ 198 Abs 1, 88 Abs 1 StGB" erfolgte (S 189), genügt diesen Anforderungen nicht und verstößt damit gegen § 271 Abs 1 Z 7 (iVm § 447) StPO.

Der - infolge nicht gehöriger Ladung - gesetzwidrige, durch die gleichfalls verfehlte (dem Beschuldigten überdies nicht bekannt gemachte) nachträgliche „Berichtigung" nicht beseitigbare mündlich verkündete Schuldspruch wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB im Abwesenheitsurteil vom 24. Oktober 2005 gereicht dem Beschuldigten Ljubisa P*****, geboren am 6. Jänner 1972, zum Nachteil.

Da nicht auszuschließen ist, dass sich diese gehäuften gesetzwidrigen Vorgänge auch auf die Verurteilung wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB auswirkten (etwa in Bezug auf die Vermögensverhältnisse des Beschuldigten unter Berücksichtigung von Eigentum am Unfallfahrzeug), waren beide Schuldsprüche und damit auch der Strafausspruch aufzuheben (§§ 289, 292 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Hernals zu verweisen.

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