Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und gemäß § 288 Abs. 2 Z. 3 StPO in der Sache selbst erkannt:
August P*** wird von der Anklage, am 27.September 1979 in Lübeck dem Hermann P*** dadurch, daß er mit einem Taschenmesser mehrmals in dessen Brustkorb und Bauch stach, wodurch Hermann P*** multiple Messerstichverletzungen des rechtsseitigen Thorax und des Bauchraums erlitt, absichtlich eine schwere Körperverletzung, verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit (§ 84 Abs. 1 StGB), zugefügt und hiedurch das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB begangen zu haben, gemäß § 259 Z. 3 StPO freigesprochen. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Der am 29.Dezember 1942 geborene gelernte Anstreicher und Maler, zuletzt Schankgehilfe und Einkäufer August P*** wurde des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 und Abs. 2 erster Fall StGB schuldig erkannt. Darnach hat er am 27.September 1979 in Lübeck dem Hermann P*** mit einem Taschenmesser durch Versetzen mehrerer Stiche in den Brustkorb und in den Bauch eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) absichtlich zugefügt, was eine schwere Dauerfolge, nämlich immerwährende Berufsunfähigkeit des Geschädigten (§ 85 Z. 3 StGB), nach sich zog.
Den wesentlichen Urteilsannahmen zufolge hielten sich Hermann P***, der Angeklagte und eine Prostituierte als einzige Gäste in einem Lokal des Lübecker Vergnügungsviertels auf. P***, der alkoholisiert und übernächtig war, wurde von der ebenfalls bereits angetrunkenen Prostituierten belästigt und wehrte sie ab, indem er sie anfaßte und schüttelte. Der an der Theke sitzende Angeklagte P*** ergriff für die Prostituierte Partei und rief P*** "irgendeinen Kommentar" nicht feststellbaren Inhalts zu, der jedenfalls als "Einmischung in irgendeiner Form" in das Geschehen aufzufassen war (S. 212, 223/II). Dies nahm P*** zum Anlaß, auf den Angeklagten zuzugehen und zu einem Schlag gegen ihn auszuholen (S. 224/II). Der Angeklagte zog "blitzschnell" sein Messer und versetzte P*** einen Stich in die Bauchgegend, den dieser jedoch nur wie einen Schlag empfand. In der nun folgenden Schlägerei zwischen den beiden Männern konnte der an Körperkraft überlegene P*** den Angeklagten P***, der sich durch größere Wendigkeit den gezielten Schlägen seines Gegners zu entziehen vermochte, dennoch in eine Ecke drängen, ehe er durch ihm während dieses Vorgangs vom Angeklagten zugefügte (weitere) Stichverletzungen kampfunfähig wurde und der Angeklagte die Flucht ergriff (S. 212, 213, 225/II). Insgesamt wies P*** fünf Stichwunden auf, wovon zwei lebensgefährlich waren und letztlich die dauernde Berufsunfähigkeit des P*** als Krankenträger bewirkten: Ein Stich hatte die Brusthöhle eröffnet, ein anderer war in die linke Mittelbauchgegend eingedrungen. Die übrigen Stiche trafen die linke Brustkorbvorderwand und die linke Leistengegend (ohne in Körperhöhlen einzudringen) sowie den linken Oberarm. Da der Angeklagte die Messerstiche gegen Körpergegenden führte, in denen schwere Verletzungen gewöhnlich zu erwarten sind, er zudem auch schon einmal einem anderen Menschen absichtlich eine schwere Körperverletzung zugefügt hatte, gelangte der Schöffensenat zur Überzeugung, daß es dem Angeklagten darauf angekommen war, Hermann P*** schwer zu verletzen, weshalb die Tat als Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 und (im Hinblick auf die zumindest fahrlässige Herbeiführung der schweren Dauerfolge) Abs. 2 erster Fall StGB zu beurteilen sei. Eine Notwehrsituation hatte nach der Meinung des Gerichts für den Angeklagten nicht bestanden, weil er sich der Konfrontation mit P*** jederzeit hätte entziehen können; davon abgesehen habe er durch die Verwendung eines Messers zur Abwehr des infolge Trunkenheit offenkundig schwerfälligen Gegners das gerechtfertigte Maß der Verteidigung überschritten, ohne daß dies (ledliglich) aus Bestürzung, Furcht oder Schrecken geschehen sei.
Diesen Schuldspruch bekämpft August P*** mit einer auf § 281 Abs. 1 Z. 5, 9 lit. b und 10 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde. Der Rechtsrüge (Z. 9 lit. b), mit welcher der Beschwerdeführer den Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 3 StGB) in Anspruch nimmt, kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
Rechtliche Beurteilung
Auszugehen ist davon, daß der Angeklagte (der Behauptung eines Feststellungsmangels zuwider ohnehin getroffenen) Urteilsfeststellungen zufolge einem gegenwärtigen oder doch unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff des P*** auf seine körperliche Unversehrtheit ausgesetzt gewesen war (S. 224, 226/II), dem er mit der zur Abwehr nötigen Verteidigung begegnen durfte (§ 3 Abs. 1, erster Satz, StGB). Zu einem Ausweichen gegenüber dem Angreifer ist der Angegriffene nicht generell verpflichtet (EvBl. 1986/42; LSK. 1985/57 = EvBl. 1986/15; Kienapfel AT Z. 11 RN 18). Sogenannte Unfugabwehr, die nach § 3 Abs. 1, zweiter Satz, StGB unstatthaft gewesen wäre, scheidet nach den Feststellungen des Schöffengerichts im vorliegenden Fall ebenso aus wie sonstige Einschränkungen bei der Ausübung des Notwehrrechts, die etwa bei Angriffen Unmündiger, Unreifer oder Geisteskranker (siehe abermals LSK. 1985/57 = EvBl. 1986/15) - nicht aber gegenüber Angriffen Betrunkener (so bereits LSK. 1982/20 und EvBl. 1986/42) - oder unter Umständen bei schuldhaft provozierten Angriffen (sogenannten Absichtsprovokationen) Platz greifen können (LSK. 1983/19, JBl. 1982 S. 101 u.a.). Vermochte doch das Erstgericht keine konkreten Feststellungen zu treffen, welche es ermöglichen würden, die verbale "Einmischung" des Angeklagten P*** in den Vorfall zwischen P*** und der Prostituierten als schuldhafte Provokation des daraufhin von P*** gegen den Angeklagten unternommenen Angriffs zu beurteilen (siehe S. 212, 223/II).
Notwendig im Sinn des § 3 Abs. 1 StGB ist eine Verteidigungshandlung, wenn sie aus der Situation des Angegriffenen gesehen unter Beachtung objektiver Kriterien zur verläßlichen, dh wirksamen Abwehr des Angriffs erforderlich ist (EvBl. 1983/134; LSK. 1983/18; JBl. 1981 S. 444). Dieses Maß der Abwehr bestimmt sich jenseits der Geringfügigkeitsschwelle des § 3 Abs. 1, zweiter Satz, StGB nicht unbedingt nach dem Verhältnis zwischen dem aus dem rechtswidrigen Angriff drohenden und dem aus seiner Abwehr zu erwartenden Schaden. Vielmehr kommt der körperlichen Unterlegenheit des Angegriffenen und der gewalttätigen Veranlagung des Angreifers entscheidende Bedeutung zu (LSK. 1979/306). Das Risiko der ihrer Art nach sachgerechten Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs hat grundsätzlich der Angreifer zu tragen (so schon SSt. 43/50). In Anbetracht der festgestellten körperlichen Überlegenheit des offensichtlich angriffslustigen Hermann P*** kann im Gebrauch eines Messers als Verteidigungsmittel nicht schon an sich eine Überschreitung des Maßes der notwendigen Verteidigung erblickt werden (siehe EvBl. 1983 Nr. 134 und 13 Os 112/82). Daran vermag auch die ebenfalls festgestellte größere Gewandtheit des Angeklagten im Vergleich mit dem eher schwerfällig agierenden P*** nichts zu ändern; gelang es doch nach den Urteilsfeststellungen dem Angreifer ungeachtet dessen und trotz der ihm zugefügten Stichverletzungen, die ihn - weil keine größeren Gefäße getroffen wurden - nicht sogleich aktionsunfähig machten, den Angeklagten in eine Ecke des Lokals zu drängen und ihn solcherart in eine Situation zu bringen, in welcher der eben erwähnte Vorteil für den Verteidiger praktisch unwirksam wurde (S. 213, 225/II). Gerade dieser Verlauf des Tatgeschehens zeigt aber auch, daß es lebensfremd wäre, dem Angeklagten im gegebenen Fall nur einen graduell abgestuften Einsatz des an sich zulässigen Abwehrmittels, etwa ein vorerst nur drohendes Zücken des Messers oder die Zufügung bloß mindergefährlicher Stichverletzungen, als zulässige Abwehrhandlung zuzubilligen, weil unzureichende Abwehrhandlungen nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, die Angriffslust enthemmter Personen nur noch zu steigern und die für den Angegriffenen bestehende Gefahrenlage sogar zu verschärfen (so bereits SSt. 43/50, LSK. 1981/66 = JBl. 1981 S. 444, EvBl. 1983/134, 1986/42). Der Nichtigkeitsbeschwerde war daher aus dem Grund des § 281 Abs. 1 Z. 9 lit. b StPO Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und sofort gemäß §§ 288 Abs. 2 Z. 3, 259 Z. 3 StPO ein Freispruch zu fällen, ohne daß auf den weiters geltend gemachten Nichtigkeitsgrund eingegangen werden mußte.
Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die Urteilsaufhebung zu verweisen.
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