European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0120OS00076.24D.0905.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Strafverfahrens verfügt, das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Klosterneuburg vom 12. Jänner 2024, GZ 9 U 46/22z‑37, aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.
Gründe:
[1] Im Verfahren AZ 9 U 46/22z des Bezirksgerichts Klosterneuburg legte die Staatsanwaltschaft * M* mit Strafantrag vom 18. August 2022 (ON 3) ein dem Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB subsumiertes Verhalten zur Last.
[2] Zur Hauptverhandlung am 12. Jänner 2024 erschien der – gemäß § 164 StPO zum Anklagevorwurf vernommene (ON 2.6 S 3 f) und ordnungsgemäß geladene (eigenhändig unterfertigter Zustellschein bei ON 1 [nicht einjournalisierte] S 13), anwaltlich nicht vertretene – Angeklagte unentschuldigt nicht. Nachdem der Bezirksrichter die persönliche Übernahme der Ladung mit 26. September 2023 festgestellt hatte, führte er gemäß § 427 Abs 1 StPO die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch (ON 35 S 8).
[3] Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag wurde dieser des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
[4] Der Bezirksrichter veranlasste am 8. März 2024 die Zustellung des Abwesenheitsurteils (samt Rechtsmittelbelehrung und Protokollausfertigung) an den Angeklagten an dessen aktenkundigem Wohnsitz (ON 1 [nicht einjournalisierte] S 15); die Sendung wurde jedoch von der Post am 14. März 2024 mit dem Vermerk „verzogen!“ retourniert (ON 38 S 2). Die daraufhin am 19. März 2024 vom Bezirksgericht Klosterneuburg durchgeführte Abfrage des Zentralen Melderegisters ergab, dass sich der (am 8. Jänner 2024 festgenommene) Angeklagte seit 10. Jänner 2024 in der Justizanstalt Wien‑Josefstadt befand (ON 39 und 40). Nach entsprechender Verfügung durch das Bezirksgericht (ON 1 [nicht einjournalisierte] S 15) wurde dem Angeklagten das Abwesenheitsurteil (samt Rechtsmittelbelehrung und Protokollausfertigung) sodann am 27. März 2024 in der Justizanstalt Wien‑Josefstadt eigenhändig zugestellt (Zustellkarte in der VJ).
[5] Der Angeklagte gab zwar gegenüber Beamten der Justizanstalt Wien-Josefstadt an, Einspruch gegen das Abwesenheitsurteil erheben zu wollen (vgl die Amtsvermerke ON 1 [nicht einjournalisierte] S 16 bis 18 sowie die E‑Mails ON 42 und 43), er ergriff in der Folge jedoch gegen das Abwesenheitsurteil kein Rechtsmittel. Das auch von der Staatsanwaltschaft Korneuburg unbekämpft gebliebene Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Klosterneuburg erwuchs daher in Rechtskraft.
[6] Bei Prüfung des Aktes ergeben sich – wie die Generalprokuratur in ihrem nach § 362 Abs 1 Z 2 StPO analog gestellten Antrag zutreffend aufzeigt – erhebliche Bedenken (§ 362 Abs 1 Z 2 StPO) gegen die Richtigkeit der der Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils am 12. Jänner 2024 in Abwesenheit des Angeklagten zugrunde gelegten Tatsachenannahmen:
Rechtliche Beurteilung
[7] Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt worden ist.
[8] Ist für das Gericht bereits im Zeitpunkt der Durchführung der Hauptverhandlung ersichtlich, dass der Angeklagte durch ein unabwendbares Hindernis vom Erscheinen abgehalten worden ist, so ist die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils in Abwesenheit unzulässig (RIS‑Justiz RS0101569; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 14). Die Anhaltung des Angeklagten in Haft stellt ein derartiges unabwendbares Hindernis dar (RIS‑Justiz RS0101569 [T5]; zuletzt 15 Os 13/24m).
[9] Ausgehend von der Aktenlage im Zeitpunkt der Hauptverhandlung und Urteilsfällung am 12. Jänner 2024 ist die tatsächliche Annahme des Bezirksgerichts Klosterneuburg, dass der Angeklagte nicht durch ein unabwendbares Hindernis vom Erscheinen in der Hauptverhandlung abgehalten worden ist (und demnach sämtliche Voraussetzungen für das Abwesenheitsverfahren gemäß § 427 StPO vorlagen), rechtlich nicht zu beanstanden.
[10] Allerdings bestehen gegen die Richtigkeit dieser Tatsachenannahmen im Hinblick auf die am 19. März 2024 eingeholte Auskunft aus dem Zentralen Melderegister (ON 39), den Ausdruck aus der Integrierten Vollzugsverwaltung (IVV; ON 40) und das E‑Mail des Bezirksrichters vom 9. April 2024 (ON 42), wonach sich der Angeklagte seit 10. Jänner 2024 und somit auch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung in der Justizanstalt Wien‑Josefstadt zu einem anderen Verfahren in Untersuchungshaft befand, erhebliche Bedenken im Sinn des § 362 Abs 1 Z 2 StPO.
[11] Es ist daher eine rechtskräftige Entscheidung eines Strafgerichts (vgl RIS‑Justiz RS0131086 [T1]) auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Die so entstandene Benachteiligung des Angeklagten kann auf anderem Weg nicht behoben werden. Dies war durch Verfügung der außerordentlichen Wiederaufnahme in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO auf die im Spruch ersichtliche Weise zu sanieren (RIS‑Justiz RS0117416 [T4], RS0117312 [T3]).
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