OGH 12Os74/18a

OGH12Os74/18a23.8.2018

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. August 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Wieser als Schriftführerin in der Strafsache gegen Afizullah S***** wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 13. März 2018, GZ 23 Hv 64/17w‑47, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0120OS00074.18A.0823.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Afizullah S***** gemäß § 259 Z 3 StPO von der Anklage freigesprochen, er habe sich im Zeitraum von 2003 bis April 2011 in Afghanistan/Provinz Kapisa als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung mit dem Wissen beteiligt, dass er dadurch diese oder deren strafbaren Handlungen fördert (§ 278 Abs 3 StGB), indem er für die Organisation der afghanischen Taleban („Islamisches Emirat Afghanistans“, vormals „Islamische Bewegung der Taleban“) als Fahrer tätig war, Personen und Waffen transportierte, selbst bewaffnet war und zuletzt an Kampfhandlungen teilnahm, wobei er auch Schusswaffen einsetzte.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von der Staatsanwaltschaft aus § 281 Abs 1 Z 5 und Z 9 lit b StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde ist nicht berechtigt.

Das Erstgericht traf unter anderem folgende Konstatierungen (US 2 bis 6):

Der Angeklagte, der in Afghanistan eine eigene Landwirtschaft betrieb, wurde 2003 von Mitgliedern der Taleban aufgefordert, ihnen beizutreten und für sie zu arbeiten, widrigenfalls würden sie ihn umbringen. Da er befürchtete, von den Taleban‑Kämpfern getötet zu werden, erklärte der Angeklagte sich dazu bereit und arbeitete bis zu seiner Flucht im April 2011 für die Taleban als Fahrer und transportierte sowohl Waffen als auch Taleban‑Mitglieder an verschiedene Orte in Afghanistan, wobei er bei diesen Fahrten teilweise auch selbst bewaffnet war. Es gab für den Angeklagten keine Möglichkeit, „sich nicht bei den Taleban zu beteiligen und gleichzeitig von diesen in Ruhe gelassen zu werden“. Während dieser Zeit ging der Angeklagte seiner ursprünglichen Tätigkeit als Bauer nach und wohnte zu Hause. Er war in keinem Lager der Taleban stationiert.

Wenn Fahrtendienste anstanden, wurde er telefonisch von den Taleban kontaktiert und führte dann die entsprechenden Aufträge aus. Im Durchschnitt führte er etwa alle drei Monate Fahrtendienste durch.

Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt 2009/2010 nahm der Angeklagte einmal an einer Kampfhandlung im Distrikt Tagab teil, wobei die Taleban gegen die amerikanischen Soldaten und die Regierungsgruppen vorgingen. Bei dieser Kampfhandlung feuerten beide Seiten mit Schusswaffen. Auch der Angeklagte benutzte im Rahmen dieses Gefechts seine Kalashnikov und seine PK und feuerte damit auf die gegnerischen Truppen. Ob durch die Schüsse des Angeklagten Menschen starben, konnte nicht festgestellt werden.

2006 reiste der Angeklagte für drei Monate in den Iran und besuchte dort seine Tante. Eine Flucht kam trotz der wirtschaftlich stabilen Lage des Angeklagten mangels ausreichender finanzieller Möglichkeit nicht in Betracht. Zudem hatte er Bedenken, seine Frau und seine Kinder alleine zu lassen.

2011 teilte der Cousin des Angeklagten diesem mit, dass er Afghanistan umgehend verlassen müsste, weil er verdächtigt wäre für die Regierung zu spionieren, und die Taleban ihn umbringen würden. Der Angeklagte nahm diese Aussage ernst und entschied sich zur Flucht.

Der Angeklagte identifizierte sich nie innerlich mit den Taleban und beteiligte sich nicht freiwillig an deren Aktivitäten. Vielmehr tat er dies nur, um die ihm unmittelbar drohende Gefahr abzuwenden, im Fall seiner Weigerung oder Flucht umgebracht zu werden. Dieser Gefahr war er während des gesamten Zeitraums, in dem er für die Taleban tätig war, konkret ausgesetzt.

Die Mängelrüge (Z 5) wendet sich gegen die Konstatierung, wonach der Angeklagte jederzeit damit rechnen musste, im Fall seiner Weigerung, die Organisation der Afghanischen Taleban zu unterstützen, umgebracht zu werden, und wonach diese Gefahr während des gesamten Tatzeitraums unmittelbar und konkret bestanden habe.

Entgegen dem Beschwerdevorbringen (Z 5 zweiter Fall) haben die Tatrichter den Besuch einer Tante im Iran sowie den Umstand, dass der Angeklagte vor seiner Flucht sein Grundstück in Afghanistan verkaufen und schließlich auch den Nachzug seiner Familie nach Europa organisieren konnte, sehr wohl berücksichtigt (US 5 f). Die Verantwortung des Angeklagten hat das Schöffengericht ausführlich erörtert (US 7 ff). Dessen Aussage, dass sein Cousin, der ihm schließlich zur Flucht verhalf, ihn ursprünglich zur Beteiligung an der Organisation der Taleban gedrängt hatte (ON 46 S 6), war dabei nicht gesondert erörterungsbedürftig, weil sie den entscheidenden Feststellungen nicht entgegensteht.

Das Schöffengericht gründete seine Konstatierungen auf die Verantwortung des Angeklagten, welche unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen Thomas R***** über die Situation in Afghanistan betreffend Zwangsrekrutierungen für überzeugend erachtet wurde, sowie auf die Aussage der Zeugin Mina S***** über die Tötung konkreter, ihr bekannter Personen durch die Taleban nach einer Weigerung, diese zu unterstützen (US 7 ff).

Dass diese Beweiswürdigung des Erstgerichts der Rechtsmittelwerberin nicht überzeugend erscheint und aus Beweismitteln auch andere Schlüsse gezogen hätten werden können, macht das Urteil nicht offenbar unzureichend begründet (Z 5 vierter Fall; RIS‑Justiz RS0099455).

Die Rechtsrüge (Z 9 lit b) bestreitet das Vorliegen einer Notstandssituation und vermeint, ein bedeutender Nachteil für den Angeklagten wäre weder gegenwärtig noch unmittelbar drohend gewesen. Die Anklagebehörde legt aber nicht dar, weshalb nach den vorliegenden Konstatierungen, wonach der Angeklagte „zu jeder Zeit damit rechnen“ musste, „insbesondere bei jeder konkreten Anfrage, einen Dienst für die Taleban auszuführen, dass er bei einer Weigerung … dies mit dem Tod bezahlen würde“ (US 11), nicht eine latente Dauergefahr vorlag, die sich jederzeit aktualisieren konnte (Moos in SbgK § 10 StGB Rz 71). Dass der Angeklagte einer realen Lebensgefahr in dem Sinn ausgesetzt war, dass die Taleban den Angeklagten im Fall einer Befehlsverweigerung töten würden, hat das Schöffengericht entgegen dem Vorbringen der Rechtsrüge sehr wohl festgestellt (RIS‑Justiz RS0099810).

Indem die Staatsanwaltschaft ausführt, es fehlten „konkrete Anhaltspunkte“, dass die Taleban am Angeklagten „bei Befehlsverweigerung unverzüglich ein Exempel statuiert“ hätten, erklärt sie nicht, weshalb es für die Schuld des Angeklagten auf das Vorhaben der Taleban ankommen sollte, und nicht bloß darauf, ob die inkriminierten Taten aus der Sicht des Angeklagten zur Rettung seines Lebens aus einer – wenn auch bloß vermeintlichen – unmittelbar drohenden Todesgefahr erforderlich erschienen (RIS‑Justiz RS0088947).

Soweit die Rechtsrüge argumentiert, dem Angeklagten wäre als zumutbare Alternative die Option offen gestanden, bei den geschilderten Kampfhandlungen die Ausführung eines verbrecherischen Befehls vorzutäuschen, vorliegend also Schüsse abzugeben, die mit Sicherheit niemanden gefährdet hätten, orientiert sie sich nicht am festgestellten Sachverhalt. Soweit ausgeführt wird, es wäre ungeklärt geblieben, ob dies dem Angeklagten im konkreten Fall tatsächlich möglich war, verabsäumt sie es, einen Feststellungsmangel geltend zu machen (RIS‑Justiz RS0116735). Die Ausführungen, der Angeklagte dürfe nicht den einfachsten und bequemsten Weg gehen, sondern müsse sich mit allen Kräften bemüht haben, der Gefahr auf andere Weise zu entgehen, werden dem nicht gerecht, weil auf keine konkreten Verfahrensergebnisse Bezug genommen wird.

Indem die Staatsanwaltschaft vorbringt, es liege keine „rechtfertigende Notstandssituation“ vor, weil das geschützte Rechtsgut, also das Leben des Angeklagten, nicht eindeutig höherwertig wäre als die verletzten Rechtsgüter des öffentlichen Friedens und der körperlichen Unversehrtheit der von den Aktivitäten der Taleban betroffenen Personen, geht sie daran vorbei, dass das Erstgericht die Strafbarkeit des Angeklagten wegen entschuldigenden Notstands verneint hat.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

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