Spruch:
Die Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des nicht rechtswirksam vorgeladenen Angeklagten verletzt das Gesetz in den Bestimmungen des § 471 Abs 1 iVm § 489 Abs 1 StPO sowie des Art 6 Abs 3 MRK.
Die Rechtsmittelentscheidungen des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 2. Mai 2002, AZ 7 Bs 151/02, werden aufgehoben. Dem Oberlandesgericht Innsbruck wird die neuerliche Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel des Angeklagten gegen die Entscheidungen des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. November 2001, GZ 39 E Vr 628/01-32, aufgetragen.
Text
Gründe:
Markus L***** wurde mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. November 2001, GZ 39 E Vr 628/01-32, der Vergehen des versuchten Widerstands gegen die Staatsanwaltschaft nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten sowie zur Zahlung von Schmerzengeld an einen Privatbeteiligten verurteilt. Zugleich erging ein Beschluss auf Widerruf einer bedingten Strafnachsicht und einer bedingten Entlassung (§ 494a Abs 1 Z 4 StPO).
Die Staatsanwaltschaft bekämpfte das Urteil mit Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe. Der Angeklagte erhob Berufung wegen Nichtigkeit sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld, die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche und Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss.
Das Oberlandesgericht Innsbruck ordnete zur öffentlichen Verhandlung über diese Rechtsmittel einen Gerichtstag für den 2. Mai 2002, 8.45 Uhr, an. Der Rückscheinbrief mit der Ladung des Angeklagten wurde am 25. April 2002 beim Postamt 6014 hinterlegt.
In Abwesenheit des Angeklagten fand am 2. Mai 2002 die Berufungsverhandlung statt, bei welcher der Verteidiger mitteilte, dass er den Angeklagten nicht habe erreichen können, und die Rechtsmittel des Angeklagten sowie die Gegenausführung zur Berufung der Staatsanwaltschaft vortrug. Eine Prozesserklärung des Verteidigers betreffend einen allfälligen Verzicht des Angeklagten auf Teilnahme an der Berufungsverhandlung wurde (nach dem darüber aufgenommenen Protokoll) vom Verteidiger nicht abgegeben. Mit Urteil und Beschluss vom 2. Mai 2002, AZ 7 Bs 151/02, gab das Oberlandesgericht Innsbruck den Rechtsmitteln des Angeklagten nicht Folge, erhöhte jedoch in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft die Freiheitsstrafe auf sechs Monate. Erst nachträglich wurde bekannt, dass sich der Angeklagte zur Zeit der Hinterlegung des Rückscheinbriefes mit seiner Ladung zum Gerichtstag wegen einer stationären Drogentherapie in Vorarlberg aufgehalten und daher erst nach dem 2. Mai 2002 von der Vorladung Kenntnis erlangt hatte (ON 55, 61, 63, 66).
Rechtliche Beurteilung
Die Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß §§ 489 Abs 1, 471 Abs 1 StPO ist der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung rechtzeitig vorzuladen (vgl Art 6 Abs 3 lit b MRK). Gemäß § 80 Abs 1 StPO sind für die nicht zu eigenen Handen vorzunehmende (§ 79 Abs 3 StPO) Vorladung des Angeklagten zur Berufungsverhandlung die Vorschriften des Zustellgesetzes (und im gegebenen Zusammenhang nicht bedeutsame Bestimmungen der Zivilprozessordnung) anzuwenden. Gemäß § 17 Abs 3 vierter Satz ZustellG gelten hinterlegte Sendungen nicht als zugestellt, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - ergibt, dass der Empfänger wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte.
Die Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des nicht rechtswirksam vorgeladenen Angeklagten verletzte den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, auch wenn für den Berufungssenat nach der damaligen Aktenlage die Unwirksamkeit der Zustellung nicht erkennbar war (12 Os 44/88, 13 Os 36/00).
Diese Verfahrenslage erfordert die Aufhebung der Rechtsmittelentscheidung und den Auftrag an das Oberlandesgericht Innsbruck, die Berufungsverhandlung neu durchzuführen (§ 292 letzter Satz StPO).
Soweit der Generalprokurator - ohne allerdings den Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 12. November 2002, AZ 7 Bs 151/02, zu bekämpfen - darüber hinaus meint, der Gerichtshof zweiter Instanz hätte, nachträglich auf den Zustellmangel aufmerksam geworden, seine Berufungsentscheidung in analoger Anwendung der Vorschriften des XX. Hauptstückes beseitigen sollen, ist ihm zu erwidern, dass dazu nur der Oberste Gerichtshof, und zwar in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO, befugt wäre (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16 f).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)