Spruch:
Im Verfahren 6 U 42/07g des Bezirksgerichts Melk verletzen das Gesetz:
1./ das Protokoll über die Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht St. Pölten vom 5. Mai 2009, AZ 9 Bl 29/08a (ON 28 des U-Aktes) in § 291 StPO iVm § 271 Abs 1 Z 7 StPO;
2./ der Vorgang, dass im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft vor dem Landesgericht St. Pölten am 5. Mai 2009 nach Beweisergänzung weder dem Angeklagten noch seinem Verteidiger die Möglichkeit zu einer letzten Äußerung eingeräumt worden war, in § 473 Abs 4 StPO.
Das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 5. Mai 2009, AZ 9 Bl 29/08a (ON 29 des U-Aktes), wird aufgehoben und dem Landesgericht St. Pölten die neuerliche Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Bezirksgerichts Melk vom 8. Februar 2008, GZ 6 U 42/07g-16, aufgetragen.
Text
G r ü n d e :
Mit Urteil des Bezirksgerichts Melk vom 8. Februar 2008, GZ 6 U 42/07g-16, wurde Reinhard B***** *****im zweiten Rechtsgang von dem wider ihn erhobenen Vorwurf, er habe am 26. Februar 2007 in Melk das beeidete Straßenaufsichtsorgan Erika S*****, sohin eine Beamtin, während einer Amtshandlung, nämlich der Überwachung der Einhaltung eines Halte- bzw Parkverbots, tätlich angegriffen, indem er sie am rechten Oberarm gepackt und versucht habe, sie zu sich zu drehen, abermals freigesprochen, weil der festgestellte Sachverhalt schon in objektiver Hinsicht nicht den Tatbestand des tätlichen Angriffs auf einen Beamten nach § 270 Abs 1 StGB erfülle. Zur subjektiven Tatseite wurden - naturgemäß - keine Feststellungen getroffen.
Dieses Urteil bekämpfte die Staatsanwaltschaft mit fristgerecht angemeldeter und ausgeführter Berufung unter Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der Z 9 lit a des § 281 Abs 1 StPO iVm § 468 Abs 1 Z 4 StPO.
Mit Urteil vom 2. Juni 2008, AZ 9 Bl 29/08a (ON 23 des U-Aktes), gab das Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht der Berufung der Staatsanwaltschaft Folge, hob das angefochtene Urteil auf und gelangte in der Sache selbst erkennend zu einem Schuldspruch des Reinhard B***** wegen des Vergehens des tätlichen Angriffs auf einen Beamten nach § 270 Abs 1 StGB.
Dieses Urteil hob der Oberste Gerichtshof - aufgrund einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes - mit Urteil vom 19. Februar 2009, AZ 12 Os 165/08v (ON 27 des U-Aktes), wegen fehlender Feststellungen zur subjektiven Tatseite auf.
Am 5. Mai 2009 fand vor dem Landesgericht St. Pölten abermals die Berufungsverhandlung statt. Nach der Darstellung des Falls durch den Berichterstatter trug die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor. Der Verteidiger beantragte daraufhin, der Berufung nicht Folge zu geben und verwies auf die schriftliche Gegenausführung (richtig: ON 19). Der Angeklagte schloss sich den Worten seines Verteidigers an.
Sodann wurde der Angeklagte gemäß § 473 Abs 2 StPO ergänzend vernommen. Im Anschluss daran wurden das Hauptverhandlungsprotokoll (ON 15) und das angefochtene Urteil (ON 16) verlesen, worauf sich der Senat, ohne dem Angeklagten oder seinem Verteidiger Gelegenheit zu einer letzten Äußerung einzuräumen, zur Beratung zurückzog. Nach seinem Wiedererscheinen verkündete der Vorsitzende das Urteil samt den wesentlichen Gründen.
Im Protokoll über die Berufungsverhandlung ist der Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben nicht enthalten (ON 28).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, hat das Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht durch diese Vorgangsweise in zweifacher Hinsicht das Gesetz verletzt:
Bis zum Inkrafttreten des sogenannten Strafprozessreformbegleitgesetzes I BGBl I 2007/93 fungierte § 447 StPO als Verweisungsnorm. Danach waren in Verfahren wegen strafbarer Handlungen, die den Bezirksgerichten zur Untersuchung und Bestrafung zugewiesen waren, in allen Punkten, in denen das XXVI. Hauptstück der StPO aF keine besondere Vorschrift enthielt, die Bestimmungen anzuwenden, die für das Verfahren vor den Gerichtshöfen erster Instanz galten. In der Fassung des Bundesgesetzes BGBl I 2007/93 bezieht sich § 447 StPO - nach dem eindeutigen Wortlaut - jedoch nur mehr auf das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht.
Gemäß § 471 StPO gelten im Verfahren über Rechtsmittel gegen Urteile der Bezirksgerichte für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung sowie für die Entscheidung über die Berufung eine Reihe von Bestimmungen über Rechtsmittel gegen Urteile des Landesgerichts als Schöffengericht sinngemäß und zwar soweit, als die folgenden Bestimmungen nicht anderes aussagen. § 291 StPO, der (ua) betreffend die Führung des Protokolls bei den Verhandlungen des Obersten Gerichtshofs auf die in § 271 StPO enthaltenen Vorschriften verweist, ist in dieser Aufzählung nicht enthalten. Da sich im zweiten Abschnitt des 22. Hauptstückes der Strafprozessordnung (Rechtsmittel gegen Urteile des Bezirksgerichts) jedoch keine andere die Protokollführung in der Berufungsverhandlung regelnde Vorschrift findet, ist das Gesetz in diesem Punkt (nunmehr) planwidrig lückenhaft. Diese Lücke ist durch analoge Anwendung des § 291 StPO iVm § 271 StPO auch auf diese Verfahren zu schließen.
Nach § 271 Abs 1 Z 7 StPO hat das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll insbesondere den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten.
Dadurch dass dem Protokoll über die Berufungsverhandlung vor dem Landesgericht St. Pölten am 5. Mai 2009 (ON 28 des U-Aktes) weder zu entnehmen ist, welcher Tat der Angeklagte schuldig befunden worden ist, noch welcher strafbarer Handlung durch die als erwiesen angenommenen Tatsachen, deren der Angeklagte schuldig erkannt wurde, begründet wird, und zwar unter gleichzeitigem Ausspruch, ob es sich um ein Verbrechen oder um ein Vergehen handelt, und zu welcher Strafe der Angeklagte verurteilt worden ist, wird es den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht.
Gemäß § 473 Abs 4 StPO gebührt dem Angeklagten oder seinem Verteidiger am Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung jedenfalls das Recht der letzten Äußerung.
Dieser Bestimmung wurde im gegenständlichen Verfahren vor dem Landesgericht St. Pölten als Berufungsgericht nicht entsprochen, weil nach der Verlesung des Hauptverhandlungsprotokolls und des angefochtenen Urteils weder ihm noch seinem Verteidiger die Möglichkeit geboten worden war, sich abschließend dazu zu äußern.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die zuletzt beschriebene Gesetzesverletzung dem Angeklagten zum Nachteil gereichte, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
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