OGH 12Os24/92

OGH12Os24/9217.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. September 1992 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Müller als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak, Dr. Rzeszut, Dr. Markel und Dr. Schindler als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Held als Schriftführer in der Strafsache gegen Gerhard O* wegen des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und 2 StGB über die von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 11. Mai 1984, GZ 9 b E Vr 4679/83‑44, sowie des Oberlandesgerichtes Wien vom 17. Dezember 1984, AZ 27 Bs 558/84, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Ersten Generalanwaltes Dr. Strasser, der Privatanklagevertreterin Dr. Radlspöck, des Verurteilten und des Verteidigers DDr. Krainz zu Recht erkannt:

 

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1992:0120OS00024.9200008.0917.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Die Verhandlung und Entscheidung über die Berufung des Angeklagten Gerhard O* wegen Nichtigkeit und des Ausspruches über die Schuld gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 11. Mai 1984, GZ 9 b E Vr 4679/83‑44, durch jene Richter des Oberlandesgerichtes Wien, die im vorangegangenen Verfahren an der Entscheidung über die Beschwerde gegen die von der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien beschlossene Einstellung des Verfahrens beteiligt waren, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 71 Abs 1, 489 Abs 3 StPO in Verbindung mit Art 6 Abs 1 MRK.

Im übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Der Antrag nach § 39 Abs 2 MedienG wird abgewiesen.

 

 

Gründe:

 

Mit dem Urteil des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 11. Mai 1984, GZ 9 b E Vr 4679/83‑44, wurde der als Verlagsleiter tätig gewesene Gerhard O* auf Grund einer vom damaligen Generalsekretär der F* Walter G* erhobenen Privatanklage des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und 2 StGB schuldig erkannt und hiefür nach § 111 Abs 2 StGB zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 80 S, für den Fall der Uneinbringlichkeit zu 25 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe, und gemäß § 389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. Auf Antrag des Privatanklägers wurde gemäß § 33 Abs 1 MedienG auf Einziehung des periodischen Medienwerkes „F*“ vom 20. April 1983 und gemäß § 34 MedienG auf Veröffentlichung des Urteilskopfes und der Punkte I bis IV des Spruches in der ersten oder zweiten „F*“‑Ausgabe nach Urteilsrechtskraft in der in § 13 MedienG vorgeschriebenen Weise unter der Sanktion des § 20 MedienG erkannt. Gemäß § 35 Abs 1 MedienG wurde weiters die Mithaftung des Medieninhabers für die Geldstrafe, die Verfahrenskosten und die Kosten der Urteilsveröffentlichung zur ungeteilten Hand mit dem Angeklagten ausgesprochen und nach § 6 MedienG der Antragsgegner, Verein der Redakteure und Angestellten des „F*", schuldig erkannt, Walter G* eine Entschädigung für die erlittene Kränkung in der Höhe von 5.000 S binnen vierzehn Tagen nach Urteilsrechtskraft zu bezahlen.

Dem Schuldspruch lag zugrunde, daß Gerhard O* im April 1983 durch die Verfassung und Veröffentlichung von Texten in der Ausgabe des periodischen Medienwerkes „F*“ vom 20. April 1983 den Privatankläger in einem Druckwerk einer verächtlichen Gesinnung, nämlich nationalsozialistischer Denkungsart und unehrenhafter Verhaltensweisen, nämlich strafbarer Handlungen, beschuldigt hatte, die geeignet waren, ihn in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen oder herabzusetzen.

Bei den Textstellen handelte es sich um die Ankündigung auf der Titelseite „Strafanzeige gegen F*‑Generalsekretär“ und um die Wiedergabe dieser Strafanzeige auf der Seite 9 des Medienwerks in folgender, im relevanten Auszug hier wörtlich wiedergegebenen Fassung:

„strafanzeige gegen Walter G* ........... wegen Verdachtes

1. des Vergehens der Verhetzung gem. § 283 StGB,

2. des Vergehens der Aufforderung zu mit Strafen bedrohten Handlungen und Gutheißung mit Strafe bedrohter Handlungen gemäß § 282 StGB, sowie

3. des Verbrechens der Betätigung im Sinne der §§ 3, 3 d des Verfassungsgesetzes vom 8. Mai 1945, StGBl.Nr. 13 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz) .........

Der Vorschlag von W.G.‑M., die Familienbeihilfen für österreichische Frauen um 50 % zu erhöhen, um dadurch zu verhindern, daß österreichische Frauen aus finanziellen Gründen Kinder abtreiben, und gleichzeitig die Familienbeihilfen für Gastarbeitermütter auf die Hälfte der jetzigen Höhe zu kürzen, stellt eine zynische Maßnahme zur Vertreibung Angehöriger fremder Nationen aus der Republik Österreich dar, ja sogar zur Abtreibung solcher in der Republik Österreich; ganz in Einklang mit und entsprechend dem Gedankengut und den Zielen der NSDAP, daß 'der Staat in erster Linie für die Erwerbs‑ und Lebensmöglichkeiten der Staatsbürger zu sorgen' habe, zielen die Vorschläge von W.G.‑M. unter anderem darauf ab, durch Verschlechterung der Lebensbedingungen für Gastarbeiter diejenigen der Staatsbürger (der österreichischen Mütter) gleichzeitig zu verbessern und unter einem jede weitere Einwanderung von Nicht‑Österreichern zu verhindern (siehe oben die Thesen 7 und 8/NSDAP).

Daraus erhellt, daß sich Walter G* im Sinne der Ziele der NSDAP betätigt hat, zumindest aber ihre Maßnahmen gegen Angehörige fremder Nationen anspreist, indem er sie für Österreich vorschlägt.

Für die Richtigkeit der Behauptungen berufen sich die Anzeiger auf (die) Zeugenschaft ihrer Person, die Sprechermanuskripte des ORF für die Schlußnachrichten in FS 1 und FS 2 vom 29. 3. 1983 und das Parteiprogramm der NSDAP vom 24.2.1920.“

Das einleitend genannte Urteil bekämpfte Gerhard O* mit Berufung wegen Nichtigkeit und wegen des Ausspruchs über die Schuld, welcher Berufung das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 17. Dezember 1984, AZ 27 Bs 558/84, nicht Folge gab (ON 55 der Akten). Dabei entschied das Berufungsgericht in jener Senatszusammensetzung, in der es im selben Strafverfahren schon früher, nämlich mit Beschluß vom 31. Mai 1983, AZ 27 Bs 221/83, der Beschwerde des Privatanklägers G* gegen den Beschluß der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 22. April 1983, GZ 9 b E Vr 4679/83‑4, auf Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 485 Abs 1 Z 4, 486 Abs 3 StPO Folge gegeben, den angefochtenen Beschluß aufgehoben und die Durchführung des gesetzlichen Verfahrens aufgetragen hatte (ON 7).

Das Verfahren einschließlich der Urteile erster und zweiter Instanz war zufolge Beschwerde des Verurteilten Gerhard O* Gegenstand der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 23. Mai 1991, Nr. 6/1990/197/257 (= EuGRZ 1991, 216 f = ÖJZ 1991 MRK‑ENr. 15). Darnach erachtete der Europäische Gerichtshof eine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK mangels Unparteilichkeit des Oberlandesgerichtes Wien im „zweiten Rechtsgang“ und des Art 10 MRK (Freiheit der Meinungsäußerung) durch die Urteile der beiden nationalen Instanzen für gegeben und erkannte dem Beschwerdeführer eine Entschädigung für materielle Schäden sowie für Kosten und Auslagen zu.

Rechtliche Beurteilung

In ihrer zur Wahrung des Gesetzes gegen die bezeichneten Urteile des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichtes Wien erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde macht die Generalprokuratur „auch im Lichte der angeführten Entscheidung des EGMR sowie dessen darin mehrmals zitierten (Vor‑)Entscheidung vom 8. Juli 1968, Nr. 12/1984/84/131 im Fall Lingens (vgl Medien und Recht 4/86, 11 ff)“ in mehrfacher Hinsicht Gesetzesverletzungen geltend, ist damit im Ergebnis aber nur teilweise im Recht.

Zunächst trifft es gemäß § 489 Abs 3 StPO zu, daß von der Verhandlung und Entscheidung über eine Berufung (ua) auch Mitglieder des Gerichtshofes zweiter Instanz ausgeschlossen sind, die im vorangegangenen Verfahren an der Entscheidung über die Beschwerde gegen die von der Ratskammer beschlossene Einstellung (§ 486 StPO) beteiligt waren. Gegen diese strafprozessuale Regelung richterlicher Ausgeschlossenheit im Berufungsverfahren verstieß das Oberlandesgericht Wien, indem es zu AZ 27 Bs 558/84 über die Berufung des Angeklagten in derselben Senatszusammensetzung entschied wie zuvor zu AZ 27 Bs 221/83 über die Beschwerde des Privatanklägers gegen den Beschluß der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien auf Verfahrenseinstellung nach §§ 485 Abs 1 Z 4, 486 Abs 3 StPO. Da sich die gemäß § 489 Abs 3 StPO ausgeschlossenen Richter des Oberlandesgerichtes Wien nicht im Sinne des § 71 Abs 1 StPO jeder Tätigkeit im Berufungsverfahren enthielten und ein unmißverständliches Einverständnis mit der gesetzwidrigen Zusammensetzung des Berufungsgerichtes im Sinne eines wirksamen Verzichtes auf ein dem Art 6 Abs 1 MRK konformes unparteiisches, auf dem Gesetz beruhendes Gericht nicht vorlag, verletzte das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 17. Dezember 1984, AZ 27 Bs 558/84, das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 71 Abs 1, 489 Abs 3 StPO in Verbindung mit Art 6 Abs 1 MRK.

Die Beurteilung der dadurch aufgeworfenen Problematik einer Maßnahme nach § 292 letzter Satz StPO (Frage der konkreten Wirkung) steht bei der hier gegebenen, singulären Fallkonstellation in untrennbarem Zusammenhang mit jenen materiellrechtlichen Erwägungen, aus denen der (vom Verurteilten im Jahre 1985 erfolglos angeregten) von der Generalprokuratur (nunmehr) zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde im übrigen keine Berechtigung zukommt. Insoweit führt die Generalprokuratur wörtlich aus:

„Der entscheidungswesentliche Vorwurf des Angeklagten gegen den Privatankläger in der inkriminierten Veröffentlichung liegt ‑ wie sich auch aus der Entscheidung des EGMR ergibt ‑ im Werturteil, die Vorschläge des Privatanklägers, 'die Familienbeihilfen für österreichische Frauen um 50 % zu erhöhen, um dadurch zu verhindern, daß österreichische Frauen aus finanziellen Gründen Kinder abtreiben, und gleichzeitig die Familienbeihilfen für Gastarbeitermütter auf die Hälfte der jetzigen Höhe zu kürzen', stelle eine 'zynische Maßnahme zur Vertreibung fremder Nationen aus der Republik Österreich' dar und zielten 'ganz in Einklang mit und entsprechend dem Gedankengut und den Zielen der NSDAP, daß der Staat für den Erwerb und die Lebensmöglichkeiten der Staatsbürger in erster Linie zu sorgen habe', ua darauf ab, 'durch Verschlechterung der Lebensbedingungen für Gastarbeiter diejenigen der Staatsbürger (der österreichischen Mütter) gleichzeitig zu verbessern und unter einem jede weitere Einwanderung von Nicht‑Österreichern zu verhindern.'

Nach den Feststellungen des Ersturteils wollte der Angeklagte mit diesem Vorwurf sowohl die Staatspolizei als auch die Öffentlichkeit auf die seiner Ansicht nach nationalsozialistische Denkungsart des Privatanklägers aufmerksam machen, die sich aus dem Vergleich mit den Thesen 7 und 8 des Parteiprogramms der NSDAP von 1920, in denen die Ausweisung von Nicht‑Staatsbürgern bei Unmöglichkeit der Ernährung der Gesamtbevölkerung, die Verhinderung jeder weiteren Einwanderung Nicht‑Deutscher und die zwangsweise Ausweisung aller seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewanderten Nicht‑Deutschen gefordert worden war, ergäbe.

Unbeschadet der Frage, ob ‑ wie hier ‑ bei einem auf feststehende Tatsachen gegründeten Werturteil ein Wahrheitsbeweis überhaupt zulässig sei (auch nach Kienapfel verstößt seine Durchführung gegen Art 10 MRK: BT I3 RN 9 a zu § 112 StGB), verwirklicht im vorliegenden Falle der gegen den Privatankläger erhobene Vorwurf durch die in einem Printmedium im vollen Wortlaut veröffentlichte Strafanzeige schon auf der objektiven Tatseite nicht den Tatbestand des Vergehens nach § 111 Abs 1 und 2 StGB. Denn der Angeklagte hat in seiner veröffentlichten Strafanzeige eingehend begründet, worin seiner Auffassung nach durch die unbestrittenen Äußerungen des Privatanklägers ein Verstoß gegen strafgesetzliche Bestimmungen zu erblicken wäre. Damit hat der Angeklagte nach Lage des Falles eine durchaus zulässige rechtliche Schlußfolgerung aus der in einem elektronischen Medium wiedergegebenen Forderung des Privatanklägers gezogen, die zwar ‑ auch nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Wien (die Anzeige gegen den Privatankläger wurde zu 15 St 24 084/83 gemäß § 90 StPO zurückgelegt ‑ s. S 65, 145, 179, 184 dA) ‑ keine gerichtlich strafbare Handlung darstellt, wohl aber, im Zusammenhang betrachtet und bei Berücksichtigung der Gesamtwirkung ihres Inhaltes durchaus zu Recht als ausländerfeindlich aufgefaßt werden konnte. Vor dieser hier nicht von der Hand zu weisenden Ähnlichkeit der erwähnten Thesen des NS Parteiprogramms mit den gegenständlichen Äußerungen eines österreichischen Spitzenpolitikers wollte der Angeklagte öffentlich warnen.

Das in der Strafanzeige zum Ausdruck gebrachte, aus unbestrittenen Tatsachen abgeleitete Werturteil des Angeklagten stellt daher aus allen den dargelegten Gründen keinen Wertungsexzeß, sondern unter den gegebenen Umständen einen zulässigen, die Grenzen strafloser, wenn auch hier pointierter harter, Kritik noch nicht überschreitenden angemessenen 'Gegenschlag' (Kienapfel aaO RN 34 zu § 114 StGB) gegen ‑ durchaus kritisierbare ‑ politische Äußerungen und einer daraus abzuleitenden Gesinnung eines Spitzenpolitikers dar, der durch Art 10 MRK gedeckt und auch nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 111 StGB ist (siehe dazu auch OLG Wien vom 12. Dezember 1991, 27 Bs 405/91).

Dazu kommt, daß nach herrschender Auffassung (vgl. außer der eingangs angeführten Entscheidung des EGMR im Falle Lingens auch die oberstgerichtliche Judikatur, wie EvBl 1987/126) die Schranken zulässiger Kritik bei Politikern und Medien weiter gezogen sind als bei Privatpersonen. Auch Politiker, die in ihrer öffentlichen Funktion auftreten, haben Anspruch auf den Schutz ihres guten Rufes im Sinne des Art 10 Abs 2 MRK. Dieser Schutz geht jedoch nicht so weit wie der von Privatpersonen, insbesondere wenn sie im Rahmen einer politischen Diskussion von allgemeinem Interesse Positionen vertreten, die geeignet sind, Kritik auf sich zu ziehen. In einem solchen Falle ist das Interesse des betreffenden Politikers am Schutz seines guten Rufes mit dem allgemeinen Interesse an einer freien politischen ‑ öffentlichen ‑ Diskussion abzuwägen, die der Angeklagte mit der Veröffentlichung der Strafanzeige ausdrücklich bezweckte. Bei überwiegendem öffentlichen Interesse, wie im gegenständlichen Falle, schlägt daher das Pendel zum Nachteil des kritisierten Politikers aus (so auch EvBl 1987/126).

Im übrigen wäre das Verhalten des Angeklagten auch gemäß § 114 StGB gerechtfertigt gewesen, weil entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichtes Wien die wörtliche Wiedergabe einer gemäß § 86 StPO zulässigerweise (nicht wider besseres Wissen) erstatteten Strafanzeige (übrigens von mehreren, auch akademisch gebildeten Personen unterfertigt, deren Strafverfahren rechtskräftig eingestellt worden war: siehe ON 22 und 25 in den Akten 15 U 1205/84 des Strafbezirksgerichtes Wien) in einem Printmedium zu dieser (Strafanzeige) kein aliud in qualitativer Hinsicht, sondern bloß eine zulässige Vervielfältigungsmöglichkeit einer zulässigen Anzeige in Form eines adäquaten Reaktionsmittels auf einen ohnehin viel wirksameren Verbreitungsvorgang des Privatanklägers in einem elektronischen Medium darstellt.

Form und Inhalt der inkriminierten Veröffentlichung der gegenständlichen Strafanzeige verwirklichen daher unter den gegebenen Umständen nicht den Tatbestand des Vergehens nach § 111 StGB.“

Diese (an den fallbezogenen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte orientierten) Beschwerdeausführungen tragen dem Spannungsverhältnis zwischen dem im Verfassungsrang garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung (Art 13 StGG; Art 10 Abs 1 MRK) und dessen Schranken zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer (Art 13 Abs 1 StGG; Art 10 Abs 2 MRK) als der hier maßgebenden Kernproblematik vor allem aus der Sicht des vorliegend aktuellen Sachbezuges nicht in allen wesentlichen Komponenten hinreichend Rechnung.

Nicht anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält auch der Oberste Gerichtshof daran fest, daß die Freiheit der Meinungsäußerung eine der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Gesellschaft darstellt und ‑ vorbehaltlich des Art 10 Abs 2 MRK ‑ im Interesse einer von Pluralismus und Toleranz geleiteten Fortentwicklung auch für solche Bekundungen gilt, die beunruhigen, verletzen oder sogar schockieren (siehe SZ 62/162 = JBl 1990, 382; 12 Os 29/92). Außer Frage steht ferner, daß diesem Grundrecht in bezug auf die Presse als unverzichtbarer Informations‑ und Kommunikationsträgerin gerade im Rahmen einer freien politischen Diskussion, bei der Politiker regelmäßig schon funktionsbedingt in höherem Maße als Privatpersonen für härtere Kritik offen sein müssen, gesteigerte Bedeutung zukommt. Mag auch darnach die Grenze zulässiger Kritik bei Politikern (insbesondere auch durch Medien) grundsätzlich weiter gesteckt sein als bei Privatpersonen, so gilt ‑ nach seit Jahren gefestigter oberstgerichtlicher Judikatur (ua SSt 51/47; EvBl 1987/126) - auch für sie, daß ein Eingriff in Rechte anderer zur Wahrung fremder Interessen nur in einem solchen Maß zulässig ist, das zur Erreichung des erlaubten Zieles unerläßlich ist. Darnach können diesen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mißachtende Rechtsgutverletzungen sich nicht mehr auf den in Rede stehenden Grundrechtsschutz berufen. Gerade aus dieser Sicht erweist sich jedoch eine Diskordanz zu den die Fallbeurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestimmenden Erwägungen hier als unvermeidbar:

Nach Art 10 Abs 2 MRK ist zunächst davon auszugehen, daß darnach (ua) die Ausübung der „Freiheit der Meinung“ Pflichten und Verantwortung („duties and responsibilities“) mit sich bringt. Inwieweit zu deren Beachtung in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse (ua) des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer gesetzliche Schranken der freien Meinungsäußerung unentbehrlich sind, richtet sich nach der Beurteilung ihrer Notwendigkeit im Einzelfall (sog. „necessity test“ - Ermacora, Grundriß der Menschenrechte in Österreich Rz 681). Dabei sind jeweils und auf jedem Sachgebiet auch die (aktuelle) Lage eines Staates und die Erfordernisse seiner Erhaltung nach außen mitzuberücksichtigen (aaO Rz 682).

Basisthema der in der inkriminierten Veröffentlichung kommentierten politischen Erklärung ist die Frage der rechtlichen Differenzierung zwischen Inländern und Ausländern. Dieser ‑ auch in anderen Mitgliedstaaten des Europarates zu „beachtlichen Diskussionen“ Anlaß gebenden (so EGMR Nr. 6/1990/197/257) - Problematik kommt in Österreich seit geraumer Zeit eine besonders nachhaltige Bedeutung zu, die sich aus der geographischen Lage, der politischen Stabilität und der (dadurch bedingten) langjährigen Tradition dieses Landes als wirtschaftlich und sozial attraktives Zuwanderungsziel vor allem für im Vergleich zu Bürgern westlicher Demokratien benachteiligte Angehörige osteuropäischer Staaten ergibt. Zählt doch in allen Staaten mit vergleichsweise hohen Zuwanderungsquoten die Auseinandersetzung mit Interessenkollisionen zwischen In‑ und Ausländern zum politischen Alltag. Daß dabei aus Sachzwängen unterschiedlichster Art rechtliche Differenzierungen zwischen Inländern und Angehörigen fremder Staaten unvermeidbar sind, ergibt sich sogar aus der MRK selbst (zB Art 16) wie auch etwa aus fundamentalen Regelungen des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft, dessen in Art 7 I verankertes Verbot jedweder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beispielsweise nach Maßgabe der Art 48 (Inhalt der Freizügigkeit), 52 (Recht auf freie Niederlassung) und 59 (Recht auf freie Dienstleistung) hinsichtlich des freien Personenverkehrs Unterschiede in der Behandlung von Angehörigen der Mitgliedstaaten und solchen von Drittstaaten erlaubt (dazu ua Bleckmann - Das Recht der Europäischen Gemeinschaft5 RN 1211, 1250). Davon ausgehend fehlt es aber vorweg an jedweder objektiven Grundlage dafür, eine tagespolitische Meinungsäußerung schon deshalb als ausländerfeindlich zu qualifizieren, weil sie im Rahmen eines notorisch weltweit kontroversiell erörterten Themenbezuges auf eine inländische Anliegen bevorzugende Hintanordnung ausländischer Interessen hinausläuft. Aber selbst wenn sich ein in der politischen Diskussion geäußerter Standpunkt wegen zusätzlicher Kriterien im Sinne einer nicht auf plausiblen Sachzwängen beruhenden willkürlichen Schlechterstellung von Angehörigen fremder Staaten als so gesehen ausländerfeindlich darstellte, ist damit allein noch nicht unter allen Umständen ein strafgesetzwidriges Verhalten indiziert. Der hier aktuelle Vorschlag eines Politikers, der finanziell motivierten Abtreibung durch österreichische Frauen durch Anhebung der Familienbeihilfen um 50 Prozent entgegenzuwirken, die inländischen Familienbeihilfen für „Gastarbeitermütter“ jedoch zu halbieren, hat zwar auch unter dem Gesichtspunkt der angestrebten Senkung sozialer Anreize für weitere Zuwanderungen eine in hohem Maße problematische Schlechterstellung von Ausländern, vorweg aber keines jener spezifischen Kriterien zum Gegenstand, die mit der dazu veröffentlichten Strafanzeige wegen des Verbrechens nach den §§ 3, 3 d VerbotsG und der Vergehen der Verhetzung nach § 283 StGB und der Aufforderung zu mit Strafe bedrohten Handlungen und Gutheißung mit Strafe bedrohter Handlungen nach § 282 StGB behauptet wurden. Nicht anders als etwa (ua) die in ihrer von neonazistischem Gesinnungsunwert freien Ausrichtung nicht in Frage gestellte, gleichfalls mit wirtschaftlichen und sozialen Nachteilen für Ausländer verbundene Beschränkung der öffentlichen Wohnbauförderung auf österreichische Staatsbürger stellt sich auch der Vorschlag einer nach (eigener oder fremder) Staatszugehörigkeit abgestuften Familienbeihilfe weder nach der Wortwahl seiner Artikulierung noch nach seinem teleologischen Substrat als Ausdruck einer rassistisch motivierten Einstellung nationalsozialistischer Prägung dar. Ist ihm doch nach dem Gesagten eine für gesetzlich verpönte neonationalsozialistische Aktivitäten typische Identifizierung mit spezifisch nationalsozialistischen Programmpunkten bzw. für die NSDAP charakteristischen politischen Forderungen ebensowenig zu entnehmen wie Anleihen aus dem einschlägigen Propaganda‑Vokabular des sogenannten Dritten Reiches (dazu VfGH W I‑11/90 = JBl 1991 S 577). Bei der hier gegebenen Sachkonstellation enthüllt vielmehr der in der inkriminierten Veröffentlichung konstruierte gedankliche Brückenschlag zu einer fremdenfeindlichen Diskriminierung und Verhetzung nach nationalsozialistischem Vorbild jene Bereitschaft zu „Zynismus“, die er der in diesem Sinn kritisierten politischen Meinungsäußerung, welche Angriffsflächen sie der Sache nach auch immer bieten mag, vorwirft.

Was in diesem Zusammenhang den ihren guten Ruf betreffenden Schutzbedarf von Personen in politischen Funktionen anlangt, so ist zunächst festzuhalten, daß sich Österreich nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und unter deren Eindruck (ua) durch das Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945, StGBl 13/1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz) in der Fassung BGBl 25/1947, 82/1957, 74/1968, 422/1974 und ‑ erst nach Fällung der angefochtenen Urteile ‑ 148/1992 sowie (völkerrechtlich verbindlich) durch den Staatsvertrag über die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich (BGBl 152/1955) vom nationalsozialistischen und faschistischen Gedankengut in einer qualifizierten Weise distanziert hat, die ‑ ohne daß es zu deren Nachweis des einhelligen parlamentarischen Abstimmungsergebnisses zur Verbotsgesetznovelle 1992 bedurft hätte ‑ von sämtlichen im Parlament vertretenen politischen Fraktionen mitgetragen wird. Davon ausgehend erweist es sich aber auch unter gebührender Bedachtnahme auf die vor dem historischen Hintergrund der Ereignisse unter dem NS‑Regime (auch) in Österreich gebotene Wachsamkeit gegenüber neonazistischen Initiativen jedweder Art als unabdingbar, Funktionären politischer Parteien (in diesem Punkt nicht weniger als Privatpersonen) wirksamen gesetzlichen Schutz vor übler Nachrede in Richtung nationalsozialistischer Wiederbetätigung zu gewährleisten. Dies gilt umso mehr, als hier noch von dem ursprünglichen hohen Strafrahmen des Verbotsgesetzes auszugehen ist, bevor diese durch die Verbotsgesetznovelle 1992, BGBl Nr. 148, durch Herabsetzung der Untergrenzen nicht unbeträchtlich gemildert wurden.

Richtig ist, daß der Anspruch in ihrer öffentlichen Funktion auftretender Politiker auf Schutz ihres gutes Rufes vor allem dann mit den gesellschaftlichen Interessen an einer freien öffentlichen Diskussion kollidiert, wenn in Fragen allgemeiner Bedeutung Standpunkte vertreten werden, die geeignet sind, Kritik auf sich zu ziehen. In solchen Fällen sind die persönlichen Anliegen auf Ehrenschutz gegen das Interesse der Öffentlichkeit an einer freien Diskussion abzuwägen. Eine dementsprechende Abwägung führt hier aber (anders als im difform gelagerten Fall Lingens) schon nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einem mit beiden bekämpften Urteilen übereinstimmenden Ergebnis. Daß der vom Privatankläger in seiner politischen Funktion zur Diskussion gestellte Vorschlag ‑ von naheliegenderen, strafrechtlich neutralen Interpretationsvarianten abgesehen ‑ rein denklogisch ‑ wie nahezu jede andere zwischen In‑ und Ausländern differenzierende politische Maßnahme ‑ auch einen Freiraum offen läßt, der spekulative Umkehrschlüsse bis hin zu nationalsozialistischen Affinitäten ermöglicht, mag eine sachadäquate Kritik zur ‑ wie dargelegt unverzichtbaren ‑ Sensibilisierung der Öffentlichkeit (schon) gegen vermeintliche Denkansätze faschistischer Prägung rechtfertigen. Nach Lage dieses Falles erreichen aber die inkriminierten, durchwegs bloß aus unbestrittenen Tatsachengrundlagen abgeleiteten Schlußfolgerungen in Überschreitung der Grenzen des Zulässigen den Bereich eines als üble Nachrede strafbaren Wertungsexzesses, der in dem Vorwurf einer von nationalsozialistischer Motivation getragenen Gesinnung kulminiert. Dies gilt vor allem für die ‑ in den Rechtsausführungen sowohl der Generalprokuratur als auch des EGMR stillschweigend übergangene, in ihrer Ehrenrührigkeit wohl einschneidendste teleologische ‑ Unterstellung, der Vorschlag des Privatanklägers stelle eine zynische Maßnahme „sogar zur Abtreibung“ Angehöriger fremder Nationen „in der Republik Österreich“ dar. Bei der außergewöhnlichen Aggravierung der „Kritik“ in der gezielt gewählten Form einer Strafanzeige wegen verbrecherischer Verstöße gegen das Verbotsgesetz und anderer strafbarer Handlungen kann, der Auffassung der Generalprokuratur zuwider, auch davon nicht die Rede sein, daß damit in die Rechtssphäre des schwerwiegender Straftaten bezichtigten Politikers nur in dem Maße eingegriffen worden wäre, das zur Erreichung der (erlaubten) öffentlichen Problematisierung seiner Äußerung unerläßlich war. Weil der grundrechtlich abgesicherte Anspruch auf freie Meinungsäußerung Pflichten und Verantwortung mit sich bringt (Art 10 Abs 2 MRK), hat sich eine so gravierende wie die in Rede stehende Bezichtung daran zu orientieren, daß die verfassungsrechtliche und auch völkerrechtlich verbindliche konsequente Distanzierung Österreichs von nationalsozialistischem Gedankengut jeden Politiker, der sich für Tendenzen in dieser Richtung anfällig zeigt, nicht nur für die von ihm vertretene (zumal dem Parlament angehörende) politische Partei, sondern auch für die gesamte Öffentlichkeit untragbar macht. Eine in der dezidierten Form einer Strafanzeige gegen einen Politiker erhobene Anschuldigung neonazistischer Wiederbetätigung trägt dem besonderen Gewicht dieser einschneidenden Konsequenz nur dann in angemessener Weise Rechnung, wenn sie sich auf zur spezifischen Tatbestandsverwirklichung geeignete ‑ hier insbesondere eine nationalsozialistische Gesinnung offenbarende ‑ konkrete Umstände (siehe oben) stützt. Diese Voraussetzung trifft hier auf die Untermauerung der Strafanzeige mit ‑ wie dargelegt ‑ konstruierten Schlußfolgerungen spekulativer Prägung nicht zu. Dies umso weniger, als von der (unbestrittenen) redaktionellen Aufbereitung der inkriminierten Veröffentlichung (Vorankündigung auf der Titelseite des Medienwerkes, optisch wirksame Artikelgliederung) bei der Primärbetrachtung ein von der Anzeigebegründung zunächst unabhängiger Informationseffekt ausgeht, dessen inhaltliche Selbstrelativierung der Vorwürfe strafbaren Verhaltens durch die weiteren Ausführungen des Verfassers erst bei eingehender Lektüre deutlich wird. Ein schwerwiegender ehrenrühriger Angriff der hier insgesamt aktuellen Modalitäten kann daher, entgegen der Beschwerdeauffassung, weder Mangel am Tatbestand der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und 2 StGB noch eine Rechtfertigung nach § 114 Abs 1 StGB aus der Sicht des § 86 StPO für sich in Anspruch nehmen.

Da die behaupteten materiellrechtlichen Gesetzesverletzungen ‑ insbesondere unter Beachtung der (an den Aspekten der nachfolgend zur MRK ergangenen Judikatur des EGMR naturgemäß noch keineswegs orientierbaren) Rechtslage zur (hier maßgebenden) Zeit der Urteilsfällung erster Instanz (11. Mai 1984) ‑ den bekämpften Urteilen somit nicht anhaften, war die Beschwerde in diesem Umfang zu verwerfen.

Dieser Teil der Entscheidung hinwieder nimmt der gesetzwidrigen Senatszusammensetzung, in der das Oberlandesgericht Wien ‑ wie dargelegt ‑ über die Berufung des Gerhard O* verhandelte und entschied, die Eignung, eine mit konkreter Wirkung ausgestattete Maßnahme nach dem letzten Satz des § 292 StPO zu begründen. Da nämlich die dargelegten, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes tragenden Rechtserwägungen zu der mehr als neun Jahre zurückliegenden inkriminierten Veröffentlichung im Fall der Aufhebung des Berufungsurteils und der Anordnung einer Verfahrenserneuerung vor dem Berufungsgericht in gesetzmäßiger Zusammensetzung für dieses (im Ergebnis im Sinne der bekämpften Entscheidungen) bindend wären, kommt ein mit dem Verfahrensausgang verbundener gesetzwidriger Nachteil des Verurteilten aus den dargelegten Gründen hier nicht in Betracht. Der bloßen Anpassung einer zur Zeit ihrer Fällung rechtsrichtigen Entscheidung an eine später geänderte Rechtslage oder an allenfalls modifizierte Wertungsmaßstäbe könnte das Institut der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes keinesfalls dienen. Demnach mußte es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung durch den im konkreten Fall ohne materielle Auswirkungen gebliebenen Verfahrensfehler sein Bewenden haben.

Der auf § 39 Abs 2 MedienG gestützte Antrag schließlich war abzuweisen, weil es hier schon an der für eine Ermächtigung zur beantragten Veröffentlichung grundlegenden Voraussetzung fehlt, daß das Verfahren ohne Einziehungserkenntnis beendet wurde.

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