OGH 12Os159/91-7

OGH12Os159/91-719.3.1992

Der Oberste Gerichtshof hat am 19.März 1992 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Walenta, Dr. Friedrich, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Rzeszut als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Weixelbraun als Schriftführer in der Strafsache gegen Ernö T***** und Friederike M***** wegen des Verbrechens des Quälens und Vernachlässigens eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen nach § 92 Abs. 1, 2 und 3, zweiter Fall, StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen beider Angeklagten gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Landesgericht für Strafsachen Wien vom 24. Juni 1991, GZ 20 t Vr 3886/90-102, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Friederike M***** wird Folge gegeben: demgemäß sowie gemäß §§ 290 Abs. 1, 344 StPO auch hinsichtlich des Angeklagten Ernö T***** werden der Wahrspruch der Geschwornen und das darauf beruhende angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Auf diese Entscheidung werden der Angeklagte Ernö T***** mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde sowie beide Angeklagten mit ihren Berufungen verwiesen.

Text

Gründe:

Der am 22.September 1937 geborene Ernö T***** und die am 10. Juli 1941 geborene Friederike M***** wurden auf Grund des Wahrspruchs der Geschwornen des Verbrechens des Quälens und Vernachlässigens eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen nach § 92 Abs. 1, 2 und 3, zweiter Fall, StGB schuldig erkannt.

Nach dem - von einigen groben Ausfertigungsfehlern (mehrere Passagen wurden doppelt wiedergegeben) bereinigten - Urteilstenor haben sie "im Jahre 1990 bis zum 2.April 1990 in Wien im einverständlichen Zusammenwirken ihrem am 21.Februar 1971 geborenen Sohn Markus U*****, der mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebte und wegen Gebrechlichkeit und Krankheit wehrlos war, dadurch, daß sie ihn von Jahresbeginn an am Boden essen und auf einer eineinhalb Meter langen Küchenbank schlafen ließen, dem wegen Auszehrung Gebrechlichen durch Wochen ausreichende Nahrung und Getränke versagten und .... ihm die Beiziehung rechtzeitiger ärztlicher Hilfe vorsätzlich versagten, nachdem er wegen eines ihm zugefügten Nasenbeinbruches mit Verschiebung der Bruchstücke, verbunden mit einer wegen Hungerns eingetretenen Immunschwäche entstandenen eitrigen Gehirnhautentzündung, wehrlos geworden war,

a) .... körperliche Qualen zugefügt und b) ihre Verpflichtung zur Fürsorge bzw. Obhut gegenüber ihrem gebrechlichen Sohn Markus U***** gröblich vernachlässigt und dadurch fahrlässig dessen körperliche Entwicklung beträchtlich geschädigt, was den Tod des Geschädigten zur Folge hatte".

Die Geschwornen bejahten durchwegs stimmenmehrheitlich (im Verhältnis 7 : 1) je vier Haupt- und (die Todesfolge betreffende) Zusatzfragen nach dem Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens eines Unmündigen, Jugendlichen oder Wehrlosen nach § 92 Abs. 1, 2 und 3, zweiter Qualifikationsfall, StGB. Demgemäß ließen sie hinsichtlich beider Angeklagten Eventualfragen nach Mord (§ 75 StGB) - deren verdachtsbegründendes Tatsachensubstrat das vorerst zur Entscheidung über die Anklage zuständig gewesene Schöffengericht zu einem Unzuständigkeitsurteil veranlaßt hatte - und fahrlässiger Tötung (§ 80 StGB) ebenso unbeantwortet wie weitere (nur) Ernö T***** betreffende Eventualfragen nach (bloß durch Unterstützung begangener) Beitragstäterschaft (§ 12 dritter Fall StGB) zu den Tathandlungen der Friederike M***** (nach § 92 StGB), nach absichtlicher schwerer Körperverletzung mit Zusatzfrage nach der Todesfolge (§ 87 Abs. 1 und Abs. 2, zweiter Qualifikationsfall, StGB) und nach Körperverletzung mit Zusatzfrage nach tödlichem Ausgang (§§ 83 Abs. 1, 86 StGB).

Rechtliche Beurteilung

Mit der eingangs wiedergegebenen Formulierung des Urteilstenors unternahm der Schwurgerichtshof den sowohl sprachlich als auch prozessual und materiellrechtlich mißglückten Versuch einer zusammenfassenden Verwertung des Verdikts (§ 335 StPO), welches seinerseits auf einem in mehrfacher Hinsicht essentiell von der Anklage abweichenden Fragenschema beruht.

Dieses Urteil bekämpfen die Angeklagten mit - von Ernö T***** auf "§ 281 Abs. 1 Z 10" (gemeint wohl: § 345 Abs. 1 Z 12) StPO von Friederike M***** auf § 345 Abs. 1 Z 6, 8, 9, 10 a und 11 StPO gestützten - Nichtigkeitsbeschwerden, überdies in den Strafaussprüchen jeweils mit Berufung.

Der Beschwerde der Angeklagten Friederike M***** kommt Berechtigung schon insoweit zu, als sie sich gegen die Fassung der sie betreffenden Hauptfragen II (Nr. 3 des Fragenschemas) nach § 92 Abs. 1 StGB und IV (Nr. 7) nach § 92 Abs. 2 StGB richtet (Z 6).

Inhaltlich der Anklageschrift vom 28.Mai 1990 (307 ff/I) haben Ernö T***** und Friederike M***** "von einem noch festzustellenden Zeitpunkt bis 2.April 1990 in Wien im einverständlichen Zusammenwirken als Mittäter ihren 19-jährigen Sohn Markus U*****, der ihrer Fürsorge und Obhut unterstand und wegen Schwachsinns wehrlos war, zunächst körperliche Qualen zugefügt, indem sie ihn am Boden essen und schlafen ließen, mißhandelten und nicht ausreichend mit Essen und Trinken versorgten, und sodann ihre Verpflichtung zur Obhut gegenüber ihrem schließlich auch wegen Gebrechlichkeit und Krankheit wehrlosen Sohn durch Unterlassen der Herbeiholung ärztlicher Hilfe gröblich vernachlässigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, dessen körperliche Entwicklung beträchtlich geschädigt, wobei die Tat den Tod des Markus U***** zur Folge hatte".

Die der Anklage zugrundeliegende Subsumtion des inkriminierten Sachverhalts unterscheidet mithin im Spruch, aber auch in der Begründung klar zwischen zwei Tatphasen, deren erste die Zufügung körperlicher Qualen (durch peinigende Modalitäten der unzureichenden Versorgung und Unterbringung sowie durch Mißhandlungen wegen Schwachsinns wehrlosen Opfers) zum Gegenstand hatte (§ 92 Abs. 1 StGB), wogegen der zweite, gegen den schließlich auch wegen Gebrechlichkeit und Krankheit wehrlosen Sohn gerichtete Tatabschnitt die gröbliche Vernachlässigung der Obhuts- (richtig: Fürsorge-) Verpflichtung durch Unterlassung der Herbeiholung ärztlicher Hilfe umfaßte (§ 92 Abs. 2 StGB) und der gesamte Tatkomplex (vgl. S 313) den Tod des Tatopfers zur Folge hatte (§ 92 Abs. 3, höherer Strafsatz, StGB). Davon ausgehend trifft es aber zu (Z 6), daß die Fassung der Friederike M***** betreffenden Hauptfragen II und IV (nicht anders als jene der analogen Fragen I und III hinsichtlich des Angeklagten Ernö T*****) den Bestimmungen des § 312 Abs. 1 StPO, denen zufolge die Hauptfrage darauf gerichtet werden muß, ob der Angeklagte schuldig ist, die der Anklage zugrundeliegende strafbare Handlung begangen zu haben, wobei (ua) alle gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung in die Frage aufzunehmen sind, zum (potentiellen) Nachteil der Angeklagten (§ 345 Abs. 3 StPO) nicht gerecht wird.

Die Aufspaltung des einheitlichen Anklagetenors in je zwei Hauptfragen für jeden Angeklagten - die sich allerdings, der Anklage entsprechend, jeweils auch auf die (gemäß § 312 Abs. 1 StPO nicht erst mit Zusatzfragen zu relevierende) Todesfolge hätten erstrecken sollen - war freilich nach Lage des Falles gerechtfertigt, weil in den beiden Absätzen des § 92 StGB (als eines kumulativen Mischdelikts) zwei voneinander verschiedene Tatbestände normiert werden, die demzufolge mit Schuldfragen gesondert zu erfassen sind. (Die sich aus dem Verhältnis des Abs. 1 als lex specialis zum Abs. 2 als lex generalis - vgl. hiezu SSt. 55/46 = EvBl. 1985/18 sowie, insoweit Exklusivität annehmend, Kienapfel BT I3 § 92 RN 38 - ergebende, eine gesonderte Fragestellung hindernde (§ 312 Abs. 2 StPO) Konsequenz ist vorliegend nicht aktuell, weil in der Anklageschrift gar nicht der Vorwurf erhoben wird, durch die Unterlassung der Herbeiführung ärztlicher Hilfe seien dem wehrlosen Tatopfer (unter einem) auch körperliche (oder seelische) Qualen zugefügt worden.)

Auf Grund der Anklage waren daher tatsächlich neben den die erste Tatphase betreffenden Hauptfragen (I und II) in Richtung § 92 Abs. 1 StGB davon gesonderte Hauptfragen (III und IV) in bezug auf den zweiten Tatabschnitt, nach dem damit (nicht ideal-, sondern) realkonkurrierenden Tatbestand des § 92 Abs. 2 StGB geboten.

Bei dieser Aufspaltung der Fragestellung ist aber der Schwurgerichtshof entgegen § 312 Abs. 1 StPO mehrfach gravierend von der Anklage abgewichen.

So wurde in den Hauptfragen I und II vor allem die - im Hinblick darauf, daß Markus U***** zur Tatzeit das 18.Lebensjahr schon vollendet hatte, tatbestandsessentielle - Wehrlosigkeit des Opfers für die erste Tatphase anklagedifform nicht aus dessen Schwachsinn abgeleitet, sondern vielmehr aus seiner (von der Staatsanwaltschaft erst für den zweiten Tatabschnitt mitunterstellten) Gebrechlichkeit und Krankheit. Die Hauptfragen III und IV hinwieder erstrecken sich - von anderen Mängeln abgesehen - nicht auch darauf, ob durch die inkriminierte Vernachlässigung des Tatopfers im Sinn der dahingehenden Anklagebehauptung dessen körperliche Entwicklung, wenn auch nur fahrlässig, beträchtlich geschädigt wurde. Bei beiden Abweichungen kann nicht ausgeschlossen werden, daß der darin gelegene Mangel der Fragestellung einen dem Angeklagten nachteiligen Einfluß auf den bejahenden Wahrspruch der Geschwornen (und damit auf die Entscheidung) ausgeübt hat (§ 345 Abs. 3 StPO), sodaß schon aus diesem Grund eine Verfahrenserneuerung in erster Instanz nicht zu umgehen ist (§ 349 Abs. 1 StPO).

Dazu sei demnach nur noch ergänzend vermerkt,

Die Angeklagte M***** ist aber auch insofern im Recht, als sie eine - der Bedeutung nach einer Unrichtigkeit (Z 8) gleichkommende - Unvollständigkeit der Rechtsbelehrung darin erblickt, daß die Voraussetzungen der Erfolgszurechnung hinsichtlich der nach § 92 Abs. 3 StGB qualifizierenden Todesfolge überhaupt unerwähnt blieben. Dazu hätte die Bestimmung des § 7 Abs. 2 StGB jedenfalls der gebotenen Erläuterung bedurft, um eine für die Angeklagte(n) nachteilige Beirrung der Geschwornen vorweg auszuschließen.

Ohne daß es eines Eingehens auf weitere Beschwerdeargumente bedarf, war daher wie im Spruch zu erkennen, wobei dieselben Gründe, auf denen die kassatorische Entscheidung zugrunsten der Angeklagten M***** beruht, auch dem Mitangeklagten Ernö T*****, der die Nichtigkeitsbeschwerde nicht in dieser Richtung ergriffen hat, zustatten kommen, weshalb ihn betreffend gemäß §§ 290 Abs. 1, 344 StPO analog vorzugehen war.

Eine Zurückverweisung der Sache an das Schöffengericht kam dabei ungeachtet dessen, daß die Anklagebehörde das Unterbleiben einer Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes nicht bekämpft, zum einen schon nach dem zwingenden Wortlaut des § 349 Abs. 1 StPO und zum anderen auch im Hinblick darauf nicht in Betracht, daß das seinerzeitige Unzuständigkeitsurteil weiterhin wirksam ist und mithin (unter den Voraussetzungen des § 314 Abs. 1 StPO) auch im zweiten Rechtsgang eine Fragestellung in Richtung § 75 StGB - der das (nur für den Sanktionenbereich geltende) Verschlimmerungsverbot (§§ 293 Abs. 3, 290 Abs. 2, 344 StPO) nicht entgegenstünde - aktuell sein könnte.

Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde war der Angeklagte T***** ebenso auf die (auch den Strafausspruch erfassende) kassatorische Entscheidung zu verweisen wie beide Angeklagten mit ihren Berufungen.

Sollten im zweiten Verfahrensgang in der Hauptverhandlung Tatsachen vorgebracht werden, aus denen abgeleitet werden könnte, daß die Angeklagten dem Tatopfer auch durch das Unterlassen der rechtzeitigen Herbeiholung ärztlicher Hilfe vorsätzlich Qualen zugefügt haben, dann würden - sofern die Staatsanwaltschaft dem nicht ohnehin durch eine entsprechende Modifizierung der Anklage Rechnung trüge, was eine einheitliche rechtliche Beurteilung des gesamten Sachverhalts nach § 92 Abs. 1 StGB zur Folge hätte - dahingehende Eventualfragen (in Richtung des diesfalls auch dadurch verwirklichten Tatbestands nach § 92 Abs. 1 StGB) zu stellen sein, die im Fall einer (bei einer solchen Tatannahme gebotenen) Verneinung der Hauptfragen nach Vernachlässigung der Fürsorgepflicht im Sinne des § 92 Abs. 2 StGB zu beantworten wären (und im Fall ihrer Bejahung gleichfalls zur vorerwähnten einheitlichen rechtlichen Beurteilung führen würden).

Bei der Formulierung der Hauptfragen wird zu beachten sein, daß den Geschwornen ein nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung allenfalls indiziertes Abweichen von der Anklage in bezug auf bloße Tatmodalitäten (wie etwa des Schlafens "auf einer nur eineinhalb Meter langen Küchenbank" anstatt "auf dem Boden") oder in Ansehung alternativer Tatbestandsmerkmale (wie etwa "Fürsorge" statt "Obhut"; "körperliche und seelische Qualen" anstatt nur "körperliche Qualen"; "Gesundheit" anstatt oder zusätzlich zu "körperliche Entwicklung") nicht durch Änderungen, sondern durch alternative Ergänzungen des Anklagetenors zu ermöglichen ist.

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