OGH 12Os154/15m

OGH12Os154/15m28.1.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Jänner 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jukic als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Nail M*****, AZ 313 HR 89/14g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der auszuliefernden Person auf Erneuerung des Verfahrens und seinen damit verbundenen Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird zurückgewiesen.

Mit seinem Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung wird der Erneuerungswerber auf diese Entscheidung verwiesen.

Gründe:

Mit Ersuchen vom 25. Dezember 2014 begehrte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation die Auslieferung des Nail M***** zur Strafverfolgung wegen schweren Betrugs nach Art 159 Abs 4 des russischen Strafgesetzbuchs. Danach war er verdächtig, Verantwortliche des Unternehmens O***** betrügerisch dazu verleitet zu haben, ihm im Rahmen von Unternehmenskonstruktionen weit mehr als 200 Millionen Rubel (rund 4 Millionen Euro) zu überweisen, die er in der Folge großteils auf ein spanisches Konto weitergeleitet und damit eine kostspielige Immobilie angekauft haben soll (ON 31).

Mit Schreiben vom 12. Februar 2015 teilte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation mit, dass gegen den Betroffenen ein weiteres Strafverfahren in der Hauptverwaltung des Untersuchungsausschusses der Russischen Föderation des Nord-Kaukasischen Bezirks ‑ zusammengefasst ‑ wegen der Anstiftung zum Mord anhängig sei, weshalb auch diesbezüglich die Auslieferung begehrt werde: Danach soll er in der Zeit vom November 2004 bis zum 21. Oktober 2006 den A.M. G*****, Anführer einer kriminiellen Vereinigung, bestimmt haben, den S.V. O***** zu töten. Dieser Auftragsmord sei am 23. Oktober 2006 von Mitgliedern der kriminellen Organisation auch durchgeführt worden, wobei ‑ ohne diesbezüglichen Auftrag ‑ auch K.V. N***** erschossen worden sei (ON 52).

Überdies war den dem letztangeführten Auslieferungsersuchen angeschlossenen Unterlagen zu entnehmen, dass gegen Nail M***** in der Republik Nordossetien‑Alanien ein weiteres Strafverfahren wegen der Anstiftung zum Mord an A.A. B***** und A.N. E***** anhängig sei (ON 52 S 35 ff).

Mit Beschluss vom 29. Juli 2015, GZ 313 HR 89/14g‑73, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die seitens der Russischen Föderation begehrte Auslieferung des Nail M***** zur Strafverfolgung wegen der ihm zur Last gelegten Betrugshandlungen sowie wegen des Tatvorwurfs der Anstiftung zum Mord an S.V. O***** für zulässig (1./), hinsichtlich des Tatvorwurfs der Anstiftung zur Tötung des A.A. B***** und der A.N. E***** jedoch für unzulässig (2./).

Der gegen den Ausspruch 1./ gerichteten Beschwerde des Betroffenen gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 20. Oktober 2015, AZ 22 Bs 235/15t (ON 82), nicht Folge, hob jedoch aus Anlass der Beschwerde der Staatsanwaltschaft den von ihr angefochtenen Ausspruch 2./ ersatzlos auf.

Das Bundesministerium für Justiz hat zu erkennen gegeben, mit Blick auf die Befassung des Obersten Gerichtshofs die Entscheidung über die Bewilligung oder Ablehnung der Auslieferung nach § 34 ARHG vorzubehalten (ON 84).

Der Betroffene befand sich vom 12. bis zum 31. Dezember 2014 in Auslieferungshaft und wurde dann gegen Gelöbnis und Weisung sowie Leistung einer Kaution von 125.000 Euro auf freien Fuß gesetzt (ON 14, 23, 25). Mit Beschluss vom 28. März 2015, GZ 313 HR 89/14g‑43, wurde er nach Ankündigung der Russischen Föderation, die Auslieferung auch in Ansehung des Mordverdachts zu beantragen (ON 34, 35), erneut in Auslieferungshaft genommen.

Rechtliche Beurteilung

Gegen die abweisende Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Wien richtet sich der rechtzeitige Antrag des Nail M***** auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO per analogiam, der eine Verletzung von Art 3 und Art 6 EMRK behauptet und mit einem „Antrag auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung“ verbunden ist.

1. Zum behaupteten Verstoß gegen Art 3 EMRK:

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat nur dann eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (RIS‑Justiz RS0123201). Dazu ist die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig und hinreichend konkret nachzuweisen, wobei auch die Schwere der drohenden Verletzung, das sonstige Verhalten des Mitgliedstaats der EMRK und der Umstand eine Rolle spielen, ob im Zielland fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Auf einen solchen Nachweis wird nur verzichtet, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechts-verletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229 [T12]). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS‑Justiz RS0118200).

Unter Hinweis auf sein bisheriges Vorbringen im Verfahren behauptet der Erneuerungswerber, er habe bereits dadurch „stichhaltige Gründe“ für die Annahme der Gefahr seiner Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Empfangsstaat geliefert, dass er als (ehemaliger) Direktor der Finanzierungsgesellschaft F***** eine „Person eines staatsnahen wirtschaftlichen Bereichs“ und damit als besonders „vulnerabel“ (zum Begriff vgl Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 8) anzusehen sei. Daher drohten ihm ‑ vergleichbar zu den vom EGMR bzw vom Europäischen Parlament behandelten Fällen Michail C***** und Sergej M***** sowie zur Situation des in Großbritannien Asyl genießenden Andrei B***** ‑ auch deshalb Folter bzw sonstige schwere Misshandlungen, weil er sich öffentlich kritisch über „Vertraute des Präsidenten P*****“ geäußert habe. Solcherart setzt der Erneuerungswerber den Annahmen des Beschwerdegerichts, welches sich mit eben diesen Argumenten bereits auseinandersetzte (BS 8), aber ‑ auch mit Blick auf die vorliegenden Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation ‑ ein konkretes Risiko für den Betroffenen verneinte (BS 5 ff), nur den eigenen Prozessstandpunkt entgegen ohne Begründungsmängel (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO) oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen (§ 281 Abs 1 Z 5a StPO) aufzuzeigen (vgl RIS‑Justiz RS0125393 [T1]). Die Kritik, das Oberlandesgericht habe sich mit einem bezughabenden Artikel in der Zeitschrift „D*****“ (ON 70 Beil ./O) „nur oberflächlichst“ auseinandergesetzt (vgl aber BS 6) und damit „das rechtliche Gehör“ verletzt, spricht ebensowenig ein aus Z 5 zweiter Fall oder Z 5a des § 281 Abs 1 StPO beachtliches Defizit an.

Inwiefern sich aus dem Umstand, dass im ersuchenden Staat die von Viktor V***** geführte FSB (und solcherart der Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation) Ermittlungen führt, Anhaltspunkte für die Gefahr einer Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung des Betroffenen im Empfangsstaat ableiten lassen und damit den getroffenen Annahmen erörterungsbedürftig gegenüberstehen sollten (Z 5 zweiter Fall) wird keineswegs deutlich gemacht; eine insofern geäußerte Vermutung der „politischen Motivation der Auslieferung“ genügt nicht.

Die unter dem Blickpunkt einer „gesetzwidrigen Begründung“ angeführten Judikate Ananyev ua/Russland (EGMR 10. 4. 2012, 42525/07 und 60800/08), Zokhidov/ Russland (EGMR 8. 7. 2013, 67286/10), Shamayev ua/Georgien und Russland (12.10.2005, EGMR 36378/02), M.G./Bulgarien (EGMR 25. 6. 2014, 59297/12), M.V. und M.T./Frankreich (EGMR 4. 12. 2014, 17897/09) sowie Mikheyev/Russland (EGMR 26. 4. 2006, 77617/01) sprechen nicht deutlich und bestimmt ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko an, dass gerade der Betroffene im Zielland aktuell der Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei bzw dass die insofern erfolgten Zusicherungen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation entgegen der Überzeugung des Oberlandesgerichts nicht genügten, die Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung hintanzuhalten. Eine Verpflichtung des Oberlandesgerichts zur gesonderten Erörterung der angeführten Entscheidungen des EGMR bestand daher ebensowenig, wie es dem Erneuerungswerber gelingt, mit diesen erhebliche Bedenken im Sinne der Z 5a zu wecken. Die Beschwerde erschöpft sich insofern erneut in der Bestreitung der darauf bezogenen Annahmen des Oberlandesgerichts (BS 5 f).

Auch mit dem Hinweis auf das Inkrafttreten des Föderaten Gesetzes der Russischen Förderation über die Änderungen des Förderalen Verfassungsgesetzes über den Verfassungsgerichtshof der Russischen Förderation wird ein konkretes ‑ entgegen den hier erteilten diplomatischen Zusicherungen bestehendes ‑ Risiko der auszuliefernden Person nicht aufgezeigt.

Die ‑ nominell unter dem Aspekt der Garantie des Art 3 MRK artikulierte ‑ Kritik, das Oberlandesgericht hätte (fehlende) gerichtsnotorische Erfahrungen betreffend die (Nicht-)Einhaltung diplomatischer Garantien (BS 9) „erörtern“ und das beantragte Gutachten eines Sachverständigen des Max Plank Instituts zum Nachweis dafür einholen müssen (vgl BS 9), dass „der ersuchende Staat Zusicherungen regelmäßig bricht, nicht gewillt ist, entsprechenden Vorwürfen nachzugehen und seine Zusicherungen damit als unzuverlässig einzustufen sind“, geht daran vorbei, dass das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich der insofern in Frage kommenden Garantie des Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d EMRK fällt (RIS‑Justiz RS0123200).

2. Zum behaupteten Verstoß gegen Art 6 EMRK:

Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK können für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nur dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 14).

Indem der Erneuerungswerber ‑ trotz Durchführung einer Auslieferungsverhandlung (ON 81) ‑ die Verletzung seines „rechtlichen Gehörs“ durch das Beschwerdegericht behauptet und kritisiert, er habe mittels Vorlage von Dokumenten hinreichend nachgewiesen, dass ihm im ersuchenden Staat entgegen Art 6 Abs 3 lit c EMRK das Recht auf die Wahl eines eigenen Verteidigers verweigert würde, wiederholt er (nur) sein bereits im Auslieferungsverfahren erstattetes Vorbringen, ohne sich mit der darauf bezogenen Argumentation der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung des Oberlandesgerichts (BS 6 f) auseinanderzusetzen. Damit wird er den Anforderungen an einen Erneuerungsantrag nach § 363a StPO per analogiam nicht gerecht (RIS‑Justiz RS0124359).

Der Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Solcherart ist der Antrag des Erneuerungswerbers auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung (vgl aber RIS‑Justiz RS0125705; Göth‑Flemmich in WK 2 ARHG § 33 Rz 12) gegenstandlos.

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