OGH 12Os130/05t (12Os131/05i)

OGH12Os130/05t (12Os131/05i)15.12.2005

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Dezember 2005 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters MMag. Popelka als Schriftführer, in der Strafsache gegen Okan C***** wegen mehrerer - teils als Beitragstäter iS des § 12 dritter Fall StGB begangener - Verbrechen nach § 28 Abs 2 zweiter und vierter Fall SMG, AZ 6 Ur 247/05w des Landesgerichtes Eisenstadt, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 18. Oktober 2005, AZ 20 Bs 280/05f, 281/05b (ON 49 der Ur-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Okan C***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Über den am 20. September 2005 verhafteten (S 219) Beschuldigten Okan C***** wurde mit Beschlüssen der Untersuchungsrichterin des Landesgerichtes Eisenstadt vom 22. September 2005 und vom 4. Oktober 2005 die Untersuchungshaft aus den Gründen des § 180 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit b StPO verhängt (ON 28) sowie fortgesetzt (ON 36). Nach der dem Beschuldigten am 27. Oktober 2005 mitgeteilten Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Eisenstadt vom 20. Oktober 2005 steht dieser im Verdacht, im November 2004 50 Gramm Kokain (37 Gramm Reinsubstanz) nach Österreich eingeführt und in der Folge in Verkehr gesetzt sowie am 19. Juni 2005 zur Einfuhr von 350 Gramm Kokain (259 Gramm Reinsubstanz) durch seinen Bruder Ali C***** und seinen Vater Iskender C***** beigetragen zu haben.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien den verbundenen Beschwerden (§§ 179 Abs 5, 182 Abs 4 StPO) des Beschuldigten gegen die bezeichneten Beschlüsse nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus den Gründen des § 180 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit a und b StPO fort.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Grundrechtsbeschwerde geht fehl. Soweit diese den dringenden Tatverdacht unter Hervorhebung einiger Passagen der Aussage des Ali C***** bestreitet, wiederholt sie die Argumente der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Beschwerde, setzt sich aber nicht mit der diesbezüglichen Begründung des Beschwerdegerichts (ES 3 f) auseinander und verfehlt solcherart den vom Gesetz (§§ 1 Abs 1, 3 Abs 1 GRBG) geforderten Bezugspunkt (EvBl 1999/192; zuletzt 15 Os 41/05a).

Die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr beruht auf der gesetzeskonformen Heranziehung bestimmter Tatsachen (§ 180 Abs 2 StPO), nämlich des Fehlens jeglicher (legaler) Lebensinteressen des Beschuldigten in Österreich im Zusammenhalt mit der ihm im Fall der Verurteilung drohenden empfindlichen Sanktion, und deren rechtlich fehlerfreier Beurteilung durch das Beschwerdegericht (ES 5). Der Einwand der Grundrechtsbeschwerde - die im Übrigen die dargelegte (zutreffende) Gesamtbetrachtung ignoriert - der Umstand, dass der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen werden konnte, spreche gegen die Annahme von Fluchtgefahr, verkennt das Wesen dieses Haftgrundes, der nicht nur dann anzunehmen ist, wenn Fahndungsmaßnahmen aussichtslos erscheinen, sondern (schon) dann, wenn (wie hier) aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde flüchten oder sich verborgen halten (§ 180 Abs 2 Z 1 StPO).

Die - im Übrigen völlig unsubstantiiert vorgetragene - Beschwerdebehauptung der Substituierbarkeit der Haft aus dem Grund der Fluchtgefahr durch „das Gelöbnis und auch eine Kaution" kann schon im Hinblick auf die weiteren Haftgründe auf sich beruhen. Zum Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nimmt das Beschwerdegericht gesetzes- (§ 180 Abs 2 Z 2 StPO) und aktenkonform (S 453, 461 f, 469) auf - nach den bisherigen Verfahrensergebnissen - bereits erfolgte Kollusionshandlungen Bezug (ES 6). Die Unrichtigkeit der diesbezüglichen Erwägungen wird in der Grundrechtsbeschwerde konkret nicht einmal behauptet.

Schließlich begegnet auch die Ableitung des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr aus den vom dringenden Tatverdacht umfassten Handlungen, insbesonders der Mehrzahl der präsumtiven Taten sowie der jeweiligen Vorgangsweise (ES 6 f) keinen Bedenken.

Das diesbezügliche Vorbringen der Grundrechtsbeschwerde beschränkt sich darauf, einzelne Passagen der Argumentationskette der angefochtenen Entscheidung isoliert anzugreifen und lässt solcherart erneut die gebotene Gesamtbetrachtung vermissen. Es sei daher nur der Vollständigkeit halber festgehalten, dass der argumentative Ansatz des Beschwerdegerichts, eine Kontaktaufnahme zwischen inhaftierten und auf freiem Fuß befindlichen Mitbeschuldigten sei nicht auszuschließen, mit Recht als notorisch vorausgesetzt werden kann. Eine von der Grundrechtsbeschwerde mit Blick auf den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr behauptete Verletzung der Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 EMRK) ist der Aktenlage nicht zu entnehmen, zumal das Beschwerdegericht diesbezüglich ausdrücklich von einer bloßen Verdachtslage ausgeht (ES 6).

Aus welchem Grund die Norm des Art 5 EMRK „keinen der angezogenen Haftgründe als gerechtfertigt erscheinen" lassen soll, vermag die Grundrechtsbeschwerde nicht darzulegen.

Eine Beschränkung der richterlichen Prüfung der Haftvoraussetzungen auf die von der Anklagebehörde vorgebrachten Haftgründe ist dem Gesetz fremd. Damit korrespondierend ist auch das Beschwerdegericht berechtigt, sich abweichend von der Entscheidung erster Instanz auf andere oder auf zusätzliche Haftgründe zu stützen. Die Haftgründe sind nämlich Teil der Entscheidungsbegründung, die vom Beschwerdegericht ohne Verstoß gegen die Bestimmung des § 114 Abs 4 StPO durch eigenständige Erwägungen ersetzt oder ergänzt werden darf. Eine „partielle Rechtskraft" eines von der Anklagebehörde nicht bekämpften Haftbeschlusses tritt daher im Hinblick auf die darin angenommenen Haftgründe nicht ein (SSt 63/104; 13 Os 76/02; 14 Os 76/05s, 77/05p). Da dem Beschuldigten in concreto auch eine entsprechende Äußerungsmöglichkeit eingeräumt worden ist (ES 7), stellt die vom Beschwerdegericht in Abweichung von der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO) vorgenommene Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO schon deshalb, ohne dass es fallbezogen weiterer Erörterungen bedürfte, keine Gesetzesverletzung dar. Okan C***** wurde daher in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, aus welchem Grund die Beschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

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