OGH 11Os95/01

OGH11Os95/012.10.2001

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. Oktober 2001 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Albel als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Stanley Worgu C***** und Martin E***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Schöffengericht vom 6. Dezember 2000, GZ 11 Vr 1115/99-73, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Sperker, der Angeklagten und ihrer Verteidiger Mag. Holter und Mag. Schnötzlinger, sowie des Dolmetschers Dr. Eric Agstner zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, welches im Übrigen unberührt bleibt, in den Freispruchpunkten I 1 und 2, II und III des Urteilssatzes (Vergewaltigung und Nötigung der Tanja H***** durch Stanley Worgu C*****, Vergewaltigung der Daniela R***** durch Martin E***** sowie Freiheitsentziehung der Daniela R***** durch C***** und E*****) aufgehoben und die Sache in diesem Umfange zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden Stanley Worgu C***** und Martin E***** (soweit für die Erledigung der Nichtigkeitsbeschwerde relevant) jeweils vom Vorwurf des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 2 StGB und des Vergehens der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 StGB, C***** auch von der Anklage des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB, freigesprochen. Weitere Freisprüche C*****s erwuchsen in Rechtskraft. Die Staatsanwaltschaft hatte den Angeklagten (soweit bekämpft) vorgeworfen, es hätten

I) Stanley Worgu C*****

1. am 1. August 1998 in Rutzenmoos Tanja H***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafes genötigt, indem er Tanja H***** die Hose und den Slip auszog, ihre Beine auseinanderdrückte, sich auf sie legte, ihren Unterarm auf die Matratze drückte und sodann trotz Gegenwehr der Genannten einen Geschlechtsverkehr durchführte;

2. am 29. September 1998 in Rutzenmoos Daniela R***** durch die Äußerung, wenn sie auf den Gedanken komme, zur Polizei zu gehen, werden sie (nämlich C***** und E*****) ihre Familie umbringen, sohin durch gefährliche Drohung mit dem Tode zu einer Unterlassung, nämlich zur Abstandnahme von der Erstattung einer Strafanzeige genötigt;

II) Martin E***** am 23. August 1998 in Steyr Daniela R***** mit Gewalt und durch Entziehung der persönlichen Freiheit zur Duldung des Beischlafes genötigt, indem er die Genannte in sein Pensionszimmer zerrte, die Türe absperrte, den Schlüssel an sich nahm und Daniela R***** in der Folge gegen einen Kasten und letztlich auf das Bett stieß, sie ohrfeigte, an den Haaren riss und an Armen sowie Schultern festhielt, ihren Rock hinauf- und ihren Slip zur Seite schob, ihre Oberschenkel auseinanderdrückte und trotz Gegenwehr einen Geschlechtsverkehr durchführte;

III) Stanley Worgu C***** und Martin E***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter am 23. August 1998 dadurch, dass sie Daniela R***** nach einem gemeinsamen Lokalbesuch in Linz zwangen, mit ihnen nach Steyr zu fahren, wobei ihr Martin E***** zudem eine Ohrfeige versetzte, sie an den Armen packte und aus dem PKW zur Haustüre der Pension in ***** schleppte, der Genannten die persönliche Freiheit entzogen.

Das Schöffengericht begründete den Freispruch mit der mangels verwertbarer Angaben der Tatopfer nicht widerlegbaren leugnenden Verantwortung der Angeklagten. Dem in der Hauptverhandlung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlesung der gemäß § 162a StPO in Anwesenheit des (zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Verfahren in Untersuchungshaft befindlich gewesenen, gegenständlich anwaltlich nicht vertretenen) Martin E*****, des Verteidigers des Stanley C***** sowie einer Vertreterin der Staatsanwaltschaft abgelegten Zeugenaussagen der Opfer wiesen die Tatrichter ab. Zur - entgegen der Vorschrift des § 238 StPO erst in den Entscheidungsgründen des Urteils nachgeholten - Begründung führten sie aus, dass die Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter am 24. November 1999 (ON 21) unter mangelhafter, ein Erfassen des Zusammenhanges durch die Parteien nicht zulassender Qualität der Tonübertragung erfolgt seien. Darüber hinaus wäre der anwesenden Dolmetscherin wegen zu rascher Vernehmungen bei gleichzeitigem Fehlen von Simultanübersetzungseinrichtungen eine Übersetzung der Aussagen der Belastungszeuginnen für den der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen Martin E***** nicht möglich gewesen. Die Parteien hätten daher trotz ihrer Anwesenheit keine Gelegenheit gehabt, sich an den gerichtlichen Vernehmungen zu beteiligen, womit mangels eines sowohl der Strafverfolgung als auch der Verteidigung dienenden fairen Verfahrens eine Verlesung der Protokolle nach § 252 Abs 1 Z 2a StPO ausscheide (US 12). Den für diesen Fall eventualiter gestellten weiteren Antrag der Staatsanwaltschaft auf neuerliche Vernehmung der Zeuginnen R***** und H***** wiesen die Tatrichter ebenfalls ab, weil diese bereits deponiert hatten, nicht mehr aussagen zu wollen und weil deren nochmalige Befragung im Rahmen der Hauptverhandlung mit einer erheblichen psychischen Belastung verbunden wäre, was dem Zweck des Zeugnisentschlagungsrechtes widerspreche. Im Übrigen sei dem Opferschutz der Vorzug gegenüber den Interessen an einer effektiven Aufklärung zu geben (US 12 f).

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft behielt sich gemäß § 281 Abs 3 StPO jeweils die Geltendmachung der Nichtigkeit vor (S 98/II). Nur gegen die Freisprüche vom Anklagevorwurf der Vergewaltigung, der schweren Nötigung und der Freiheitsentziehung richtet sich die auf die Z 4 und 5 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, welcher aus den in der Stellungnahme der Generalprokuratur zutreffend dargelegten Gründen Berechtigung zukommt:

Rechtliche Beurteilung

Der Beschwerdeführerin, welche die Abweisung der obzitierten Anträge mit Verfahrensrüge (Z 4) bekämpft, ist zuzugeben, dass die Begründung des die Verlesbarkeit der Protokolle vom 24. November 1999 verneinenden, alleine auf die Zeugenaussage der Dolmetscherin Mag. Helga F***** gestützten Zwischenerkenntnisses mangelhaft ist. Diese ließ nämlich aus dem Vernehmungsprotokoll ersichtliche, sachbezogene Fragen des für den Angeklagten C***** einschreitenden Verteidigers (S 406/I), des Angeklagten Martin E***** (S 410/I) und der Vertreterin der Staatsanwaltschaft (S 406, 410/I) sowie die auf Grund einer Terminkollision, nicht aber wegen Schwierigkeiten bei der akustischen Übertragung erfolgte frühzeitige Entfernung des Verteidigers (S 411/I) ebenso unbeachtet wie das Unterbleiben eines - zumindest seitens des anwaltlich vertretenen Stanley C***** zu erwartenden, ausdrücklichen Begehrens um Protokollierung der behaupteten Unzulänglichkeiten der Tonübertragung.

Durch das Übergehen dieser für die Beurteilung, ob die Vernehmungen vom 24. November 1999 als kontradiktorische iSd § 162a StPO anzusehen sind, wesentlichen Kriterien erweist sich die die Verlesungsanträge abweisende Begründung als unzureichend.

Aber auch die Ablehnung des Eventualantrags auf Vernehmung der beiden Zeuginnen vor dem erkennenden Gericht entspricht nicht dem Gesetz. Denn die Begründung des Schöffensenats verkennt zum einen, dass das Entschlagungsrecht nach § 152 Abs 2 Z 2a StPO dem in seiner Geschlechtssphäre verletzten Zeugen nur dann zukommt, wenn die Parteien iSd § 162a StPO ausreichende Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen gerichtlichen Vernehmung zu beteiligen. Gerade dies wurde aber im konkreten Fall vom Schöffengericht, wenngleich mit mangelhafter Begründung, verneint. Zum anderen stellt die weiters als Begründung für die Antragsabweisung genannte "erhebliche" psychische Belastung der (mittlerweile 20-jährigen) Tatopfer keinen gesetzlichen Grund für die Unterlassung ihrer Vernehmung dar. § 151 Abs 1 Z 3 StPO verbietet die Vernehmung von Personen, die wegen ihrer Leibes- oder Gemütsbeschaffenheit außerstande sind, die Wahrheit anzugeben. Darüber hinaus liegt nach ständiger Judikatur (nur) in jenen vergleichbaren Fällen ein undurchführbarer Beweis (§ 252 Abs 1 Z 1 StPO) vor, in denen das Gericht bei unmündigen Zeugen auf Grund konkreter, in der Regel von einem jugendpsychiatrischen Sachverständigen zu attestierender Umstände die Überzeugung gewinnt, dass die (neuerliche) Vernehmung des Kindes dessen fortdauernde psychische Schädigung befürchten lässt (SSt 60/87, EvBl 1999/164, 15 Os 164/97, 14 Os 17/99). Für eine Undurchführbarkeit der Vernehmung der bereits erwachsenen Zeugen in der Hauptverhandlung (die dabei auch den weit reichenden Schutz der §§ 153 Abs 2, 250 Abs 1 und Abs 3 iVm § 162a StPO genießen) bieten die Verfahrensergebnisse somit im konkreten Fall keine Anhaltspunkte.

Ginge man aber - wie das Erstgericht - von einer solchen aus, dann wären die untersuchungsrichterlichen Vernehmungsprotokolle (ungeachtet einer unzureichenden Wahrung der Verteidigungsrechte im Sinne einer Kontradiktorität) nach § 252 Abs 1 Z 1 StPO zu verlesen gewesen.

Das angefochtene Urteil war daher wegen der die aufgezeigten Nichtigkeiten im Sinn des § 281 Abs 1 Z 4 StPO begründenden Verfahrensmängeln in den Freispruchspunkten I 1 und 2, II und III aufzuheben und eine Neudurchführung des Verfahrens anzuordnen, ohne dass es einer Erörterung des weiteren Beschwerdevorbringens bedurfte. Im zweiten Rechtsgang wird zunächst durch Vernehmung der bei der Zeugenvernehmung anwesenden Personen und Erörterung der darüber aufgenommenen Niederschrift zu klären sein, ob den Parteien tatsächlich die unbeschränkte Möglichkeit zur Wahrnehmung ihres aus dem Gebot des fair trial (Art 6 EMRK) erfließenden Fragerechtes offenstand. Zutreffendenfalls lägen die Voraussetzungen für eine Verlesung nach § 252 Abs 1 Z 2 lit a iVm § 152 Abs 1 Z 2a StPO vor, während andernfalls die Zeugen mangels eines ihnen zuzugestehenden Entschlagungsrechtes zur Aussage verpflichtet wären.

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