Spruch:
In der Strafsache AZ 15 U 239/10m des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien verletzen das Gesetz jeweils in § 199 StPO iVm § 198 Abs 1 und Abs 2 Z 2 StPO
(1) das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 25. Jänner 2011 (ON 17) und
(2) das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 29. Juli 2011 (ON 24).
Diese Urteile werden aufgehoben und es wird die Strafsache an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien mit dem Auftrag verwiesen, nach den Bestimmungen des 11. Hauptstücks der StPO vorzugehen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 25. Jänner 2011 wurde Rudolf K***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer (teilweise bedingt nachgesehenen) Geldstrafe verurteilt (ON 15).
Nach den wesentlichen Urteilsannahmen dieses Gerichts fuhr der ortskundige Rudolf K***** mit seinem Pkw in Wien auf der Kleinen Marxerbrücke stadtauswärts und wollte nach rechts in die Vordere Zollamtsstraße einbiegen. Er hielt zunächst bei Rotlicht an der Kreuzung an. Als die Ampel in seiner Fahrtrichtung auf Grün schaltete, fuhr der Angeklagte rechtsabbiegend und normal beschleunigend los. Er nahm die grüne Ampel für den Fußgängerschutzweg wahr, unterließ es aber, etwaige von rechts kommende Fußgänger zu beobachten, weshalb er ungebremst mit Dr. Günter S***** kollidierte, der seinerseits bei Grün die Vordere Zollamtsstraße auf dem Schutzweg überquerte. Dr. Günter S***** erlitt an sich schwere Verletzungen mit einer (zu ergänzen:) Gesundheitsschädigung von mehr als 24-tägiger Dauer. Nach Ansicht des Bezirksgerichts habe der Angeklagte die Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO und demnach seine Verpflichtung missachtet, sich bei Annäherung an einen - hier sogar mit Ampel geregelten - Schutzweg zu vergewissern, ob ein Fußgänger diesen benützt.
Bei der Strafbemessung wertete das Gericht als mildernd das reumütige Geständnis, die Unbescholtenheit sowie das Nachtatverhalten des - sich beim Tatopfer entschuldigenden und sich um versicherungsrechtliche Schadensabwicklung bemühenden - Angeklagten, als erschwerend hingegen keinen Umstand. Ein diversionelles Vorgehen lehnte das Erstgericht mit der Begründung ab, dass dem ortskundigen Angeklagten, der trotz Wahrnehmung des Grünlichts der Fußgängerampel nicht nur verspätet, sondern überhaupt nicht auf den Fußgänger reagierte, ein schweres Verschulden treffe (ON 17/US 12 f).
Das Landesgericht für Strafsachen Wien wies die dagegen auf § 468 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 10a StPO gestützte Berufung des Angeklagten als unbegründet zurück. Den Erwägungen des Berufungsgerichts zufolge sei dem Angeklagten ein krasser Aufmerksamkeitsfehler anzulasten, zumal er de facto reaktionslos unter Missachtung des § 9 Abs 2 StVO einen auf einem Schutzweg befindlichen Fußgänger schwer verletzte, wiewohl diesen Verkehrsteilnehmern gegenüber erhöhte Sorgfaltsanforderungen gelten. Unter ganzheitlicher Abwägung der unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände lägen die Voraussetzungen einer diversionellen Erledigung nicht vor. Auch generalpräventiven Bedürfnissen trage ein solches Vorgehen nicht ausreichend Rechnung (ON 24/US 8 f).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen diese Urteile mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Ein Vorgehen nach dem 11. Hauptstück der StPO setzt neben einem hinreichend geklärten Sachverhalt und dem Fehlen spezial- und generalpräventiver Notwendigkeit der Bestrafung (§ 198 Abs 1 StPO) ua eine als nicht schwer anzusehende Schuld des Beschuldigten voraus (§ 198 Abs 2 Z 2 StPO).
Bei der Prüfung der Frage, ob die Schuld als „schwer“ einzustufen ist, ist zu berücksichtigen, dass das Diversionshindernis der „schweren Schuld“ vom Strafbefreiungshindernis des „schweren Verschuldens“ im Sinn des § 88 Abs 2 StGB strikt zu unterscheiden ist. Während das schwere Verschulden nach § 88 Abs 2 StGB ganz spezifisch auf die fahrlässige Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB abstellt, bezieht sich die schwere Schuld des § 198 Abs 2 Z 2 StPO auf den gesamten Einzugsbereich der einer diversionellen Erledigung zugänglichen Straftaten (vgl Schroll, WK-StPO § 198 Rz 23a). Solcherart ist bei der Bewertung des Grades der Schuld als „schwer“ von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach den §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist (RIS-Justiz RS0116021).
Bei einer strafbaren Handlung mit einer (wie hier) geringen Strafobergrenze von sechs Monaten Freiheitsstrafe (§ 88 Abs 4 erster Fall StGB) ist angesichts des vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachten geringeren sozialethischen Vorwurfs nur in besonderen Ausnahmefällen - nämlich bei Vorliegen gewichtiger erschwerender Umstände - ein Diversionshindernis gegeben; dies etwa dann, wenn ein gravierender (nicht nur in der Verletzung bestimmter Verkehrsvorschriften gelegener) Sorgfaltsverstoß vorliegt, der einen Schadenseintritt mehr als wahrscheinlich erscheinen lässt, wobei die Tat mit einem erheblichen sozialen Störwert einhergehen muss (vgl RIS-Justiz RS0122090; Schroll, WK-StPO § 198 Rz 29 und 31).
Wenngleich § 9 Abs 2 StVO gegenüber Verkehrsteilnehmern auf einem Schutzweg erhöhte Sorgfaltsanforderungen vorschreibt, kann in dem von den Gerichten in Anschlag gebrachten Aufmerksamkeitsdefizit des Rudolf K***** ein außergewöhnlich gravierender Sorgfaltsverstoß nicht erblickt werden. Ebensowenig liegt in der hier aktuellen - für den Straßenverkehr nicht untypischen - Nachlässigkeit kein erheblicher sozialer Störwert (vgl zum Ganzen auch 15 Os 162/08z; Burgstaller/Schütz in WK² § 88 Rz 51).
Spezialpräventive Diversionshindernisse sind nicht ersichtlich und wurden im Übrigen von den befassten Gerichten auch nicht angenommen. Generalpräventive Bedenken stünden einem Vorgehen nach den §§ 198 ff StPO nur entgegen, wenn keine Diversionsform der Bevölkerung ein ausreichendes Signal der Rechtsbewährung vermitteln könnte. Dies trifft jedoch mit Blick auf die gesetzlich zur Verfügung stehenden - für den Beschuldigten auch spürbaren - Reaktionsformen nicht zu (vgl 15 Os 162/08z; 14 Os 32/08z, 14 Os 33/08x = SSt 2008/20; Schroll, WK-StPO § 198 Rz 41).
Rudolf K***** gereichen die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil, weshalb deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verknüpfen und die bezeichneten Urteile zu kassieren waren. Einer förmlichen Aufhebung der darauf basierenden Anordnungen, Beschlüsse und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS-Justiz RS0100444).
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